Die Abenteuer von Tom Sawyer & Huckleberry Finn (Band 1 & 2) (Illustriert)

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Kapitel 8: Ein ernsthafter Vorfall

UM HALB ZEHN UHR an jenem Abend wurden Tom und Sid wie gewöhnlich zu Bette geschickt. Sie sprachen ihr Gebet und Sid war bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete in rastloser Ungeduld. Als er schon meinte, es müsse beinahe Morgen sein, schlug die Uhr zehn – es war rein zum Verzweifeln. Er würde sich im Bette herumgeworfen haben, unaufhörlich von einer Seite zur andern, wie es seine Nerven gebieterisch verlangten, hätte er nicht gefürchtet, Sid dadurch zu wecken. So lag er denn krampfhaft ruhig und starrte hinein in die Finsternis. Allmählich begannen sich in der beinahe greifbaren Stille kleine, kaum zu unterscheidende Geräusche bemerkbar zu machen. Erst drängte sich ihm der Laut der tickenden Uhr auf. Alte Balken krachten geheimnisvoll. Die Treppe knisterte leise. Augenscheinlich waren die Geister munter. Ein taktmäßiges, gedämpftes Schnarchen klang aus Tante Pollys Zimmer. Und jetzt begann auch noch einer Grille ermüdendes Zirpen, das mit Genauigkeit zu lokalisieren kein menschlicher Scharfsinn je imstande ist. Dann machte das unheimliche Ticken einer Totenuhr in der Wand, am Kopfende des Bettes, Tom zusammenschaudern – bedeutete es doch, dass jemands Tage gezählt seien. Nun erhob sich das klagende Geheul eines Hundes in die Nachtluft, dem leiseres Gewinsel aus der Ferne antwortete. Tom lag in reiner Todesangst da. Er war fest überzeugt, dass die Zeit aufgehört, die Ewigkeit begonnen habe. Trotz allem Bemühen, sich wach zu halten, begann er leise einzudämmern. Die Uhr schlug elf, er aber hörte es nicht mehr. Auf einmal tönte mitten in seine noch gestaltlosen Träume hinein das langgezogene, schwermütige Miauen eines Katers. Das Öffnen eines benachbarten Fensters, der Ruf: »Verfluchtes Katzenpack!« und das Zersplittern einer gegen die Mauer geschleuderten leeren Flasche ließ ihn entsetzt und urplötzlich wach in die Höhe fahren. Eine Sekunde später war er angezogen, zum Fenster hinaus und kroch auf allen Vieren auf dem Dache des Vorbaues entlang. Dabei miaute er ein- oder zweimal mit großer Vorsicht, sprang dann auf das Dach des Holzschuppens und von dort zu Boden. Huckleberry Finn mit seiner toten Katze erwartete ihn. Die Jungen entfernten sich und verschwanden im Dunkel. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das hohe Gras des Friedhofs.

Es war ein Friedhof nach der altmodischen Art des Westens und lag auf einem Hügel, etwa eine halbe Stunde vom Städtchen entfernt. Ihn umgrenzte ein wackeliger Bretterzaun, der sich abwechselnd bald nach innen, bald nach aussen lehnte, nirgends aber gerade stand. Gras und Unkraut wucherten üppig über den ganzen Begräbnisplatz hin. Die alten Gräber waren sämtlich eingesunken. Kein Grabstein war zu erblicken. Wurmstichige Bretter schwankten statt dessen lose und schief auf den verfallenen Hügeln, schienen nach einer Stütze zu suchen und keine zu finden. »Zum Gedächtnis an – so – und so« war einst auf ihnen zu lesen gewesen, jetzt aber war’s nicht mehr zu entziffern, auf den meisten wenigstens nicht, selbst im hellsten Tageslicht.

Ein schwacher Windzug ächzte in den Bäumen; Tom war’s, als müsste es das Seufzen der Toten sein, die sich über die Störung beklagten. Die Jungen sprachen nur wenig und nur im Flüsterton, denn Zeit und Ort, sowie das feierliche, tiefe Schweigen versetzte sie in gedrückte Stimmung. Bald fanden sie den frisch aufgeworfenen Haufen, den sie suchten und verschanzten sich in dem Schutze von drei großen Ulmen, die in einer dichten Gruppe, wenige Fuss vom Grabe entfernt, wuchsen.

Dort warteten sie schweigend eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeit schien. Das Geschrei einer fernen Eule war alles, was die Totenstille unterbrach. Toms Gedanken wurden niederdrückend, er musste ein Gespräch erzwingen um jeden Preis. So flüsterte er denn:

»Huckchen, meinst du, dass die toten Leute da drunten etwas dagegen haben, dass wir hier sind?«

Worauf Huckleberry zurückflüsterte:

»Möcht’s selber wissen. Aber gelt, ‘s ist furchtbar feierlich, nicht?«

»Weiss Gott, das ist’s – uff!«

Lange Pause, während die Jungen noch einmal innerlich der Sache nachgrübelten. Wieder wisperte Tom:

»Du, Huckchen, glaubst du, dass der alte Williams uns hören kann?«

»Natürlich kann er, wenigstens sein Geist.«

Tom, nach einer Pause:

»Hätt’ ich doch Herr Williams gesagt! Ich hab’s aber nicht bös gemeint. Jedermann nennt ihn doch den alten Williams.«

»Ja, man kann nicht vorsichtig genug sein in dem, was man über die Leute da drunten sagt, Tom.«

Dies war ein warnender Dämpfer und das Gespräch erstarb von neuem. Plötzlich ergriff Tom den Arm seines Kameraden:

»Scht!«

»Was gibt’s, Tom?« Und die zwei umklammerten sich gegenseitig, atemlos, wild pochenden Herzens.

»Scht! Da ist’s wieder. Hast du denn nichts gehört?«

»Ich –«

»Da, noch einmal! Jetzt musst du’s doch hören!«

»Herr Gott, Tom, da kommen sie! Gewiss und wahrhaftig, da kommen die Teufel! Was sollen wir anfangen?«

»Ich weiss nicht. Ob sie uns sehen?«

»O, Tom, Tom, die sehen im Dunkeln, grad wie die Katzen. Ach, wär ich doch nicht hierher gegangen.«

»Na, alter Waschlappen, fürcht dich doch nicht so! Ich glaub nicht, dass die sich viel um uns kümmern. Wir tun ja niemand nichts Böses. Wenn wir uns ganz mucksmäuschenstill verhalten, merken sie vielleicht gar nicht, dass wir da sind.«

»Ich will mich ja nicht fürchten, Tom, aber ich – ich – ach Gott, ich klapper nur so in meiner Haut.«

»Horch doch!«

Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und atmeten kaum. Ein unterdrücktes Geräusch wie von Stimmen ertönte vom anderen Ende des Friedhofes.

»Sieh, sieh dort!« hauchte Tom. »Was ist das?«

»’s ist Hexenfeuer. Ach, Tom, das ist grausig.«

Einige undeutlich nebelhafte Gestalten näherten sich in dem Dunkel. Sie schwangen eine altmodische Blechlaterne, die den Boden mit unzähligen kleinen Lichtfleckchen besäte. Alsbald flüstert Huck schaudernd:

»Da, das sind die Teufel, gewiss und wahrhaftig! Und gleich drei auf einmal! Herr Gott, Tom, wir sind hin! Kannst du beten?«

»Ich will’s mal probieren. Aber fürcht du dich doch nicht so, die tun uns sicher nichts. Wart, ich bet! ›Müde bin ich, geh zur Ruh, schließ die beiden Augen zu, Vater lass –‹«

»Scht!«

»Was gibt’s, Huck?«

»’s sind Menschen! Einer davon mal gewiss! Die eine Stimme kenn ich, die gehört dem alten Muff Potter.«

»Nee, wahrhaftig?«

»Na, ich wett mein Seel. Rühr du dich aber nicht, der merkt nichts von uns. Ist natürlich wieder voll, wie gewöhnlich – verflixter alter Saufaus!«

»Schon gut, ich muckse mich nicht. Da, sie bleiben stehen, können’s nicht finden. Jetzt geht’s wieder vorwärts, – es wird heiss – kalt – ganz kalt – jetzt lau – da warm – puh, nun wird’s aber heiss – heisser, glühend! Scht – da sind sie! Huck, ich kenn noch einen, ‘s ist der Indianer-Joe.«

»Der mörderische Lump! Teufel wären mir fast lieber! Auf was die wohl aus sind?«

Letztere Worte waren bloss noch gehaucht, denn die drei Männer hatten nun das Grab erreicht und standen kaum ein paar Fuss von dem Versteck der Jungen entfernt.

»Hier ist’s!« sagte die dritte Stimme; der, welcher gesprochen hatte, hielt die Laterne in die Höhe und zeigte im Strahl des Lichtes das Antlitz des jungen Doktors Robinson.

Potter und der Indianer-Joe schleppten eine Trage mit einem Seil und ein paar Schaufeln drauf. Sie setzten ihre Last nieder und begannen das Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne zu Häupten desselben, ging und setzte sich, mit dem Rücken gegen einen der Ulmenbäume gelehnt. Er war so dicht bei den Jungen, dass diese ihn hätten berühren können.

»Eilt euch, Leute!« sagte er mit leiser Stimme, »Der Mond kann jeden Augenblick herauskommen.«

Die brummten eine Antwort und fuhren fort zu graben. Eine Zeitlang hörte man kein anderes Geräusch als das Knirschen der sich ihrer Last von Erde und Sand entladenden Schaufeln. Es klang unsäglich eintönig. Endlich stiess ein Spaten mit dumpfem, hohlem Laut auf den Sarg, und in der nächsten Minute hatten die Männer diesen empor an die Oberfläche gehoben. Sie brachen den Deckel mit ihren Schaufeln auf, rissen den Leichnam heraus und warfen ihn roh zur Erde. Eben trat der Mond hinter den Wolken vor und beleuchtete das starre, weisse Antlitz. Die Trage wurde herbeigebracht, die Leiche daraufgelegt, mit einer Decke verhüllt und mit dem Seile festgebunden, Potter holte ein großes Klappmesser aus der Tasche, schnitt das niederhängende Ende des Seiles ab und sagte:

»Jetzt ist das verfluchte Ding abgetan, Knochensäger, jetzt rückst du mit noch ‘nem Fünfer heraus, oder die Bescherung bleibt hier.«

»Recht gesprochen, beim Schinder!« bekräftigte der Indianer-Joe mit einem Fluche.

»Hört mal, Leute, was soll das heissen?« sagte der Doktor. »Ihr habt Vorausbezahlung verlangt und sie auch gekriegt, und damit basta!«

»Jawohl, basta,« zischte der Indianer-Joe und sprang auf den Doktor zu, der nun aufrecht stand. »Wir zwei sind noch lang nicht fertig, dass du’s nur weisst. Vor fünf Jahren jagtest du mich wie einen Hund von der Tür deines Vaters weg, als ich um etwas zu essen bat; ›der Kerl ist wegen ganz was anderem da‹, hiess es. Als ich dann sagte, das solltest du mir ausfressen und wenn’s erst nach hundert Jahren wäre, da ließ mich der Herr Vater als Strolch einsperren. Meinst du, das hätt’ ich vergessen? Ich hab nicht umsonst Indianerblut in mir. Jetzt hab ich dich und jetzt kommt die Abrechnung, merk dir’s!«

Er fuchtelte dem Doktor dabei mit der geballten Faust unter der Nase herum. Dieser schlug plötzlich aus und streckte den Schurken zu Boden. Da ließ Potter sein Messer fallen und rief:

 

»Was da! Ich lass meinen Kameraden nicht hauen.« Im nächsten Moment hatte er den Doktor umklammert und die beiden rangen mit Macht und Gewalt, Gras und Boden dabei wild zerstampfend. Der Indianer-Joe sprang auf die Füße, seine Augen glühten und flammten vor Wut, er riss Potters Messer vom Boden auf und umkreiste unheimlich, katzenartig die Ringenden, nach einer Gelegenheit spähend. Plötzlich gelang es dem Doktor, seinen Gegner abzuschütteln. Mit einem Griff riss er das schwere, breite Brett, das auf Williams Grabe gestanden, an sich und schlug Potter damit zu Boden. Im selben Moment aber hatte auch der Indianer-Joe die günstige Gelegenheit ersehen, bis zum Heft stiess er das Messer in des jungen Mannes Brust. Der wankte und fiel teilweise auf Potter, den er mit seinem Blute überströmte, – da verkroch sich der Mond hinter Wolken und entzog das grässliche Schauspiel den Augen der entsetzten Knaben, die in dem Dunkel sich eiligst davonmachten.

Als der Mond wieder hervortrat, stand der Indianer-Joe vor den beiden hingestreckten Gestalten und betrachtete sie. Der Doktor murmelte etwas Unverständliches, holte ein- oder zweimal tief Atem und – war still. Der Mörder brummte:

»Jetzt ist’s abgerechnet – fahr zur Hölle!«

Dann beraubte er die Leiche, wonach er das verhängnisvolle Messer in Potters geöffnete rechte Hand steckte, sich selbst aber auf den zertrümmerten Sarg setzte. Drei – vier – fünf Minuten verflossen, da begann Potter zu stöhnen und sich zu bewegen. Seine Hand umschloss das Messer, er hob’s empor, warf einen Blick darauf und ließ es mit einem Schauder fallen. Dann richtete er sich auf, schob den toten Körper zurück, starrte darauf nieder und dann verwirrt in die Runde. Seine Augen begegneten denen Joes.

»Herrgott, wie kam’s denn, Joe?« fragte er.

»Ja, das ist ‘ne faule Sache, Potter,« versetzte dieser, ohne sich zu rühren. »Dass du aber auch gleich so drauf losgehen musst!«

»Ich? Ich hab’s doch nicht getan!«

»Hör mal, du, das Geschwätz wäscht dich noch lang nicht weiss.«

Potter zitterte und wurde leichenblass.

»Hab ich doch gemeint, ich wäre nüchtern gewesen, was hab ich auch am Abend so trinken müssen, ich alter Esel. Ich hab’s noch im Kopf, das spür ich – schlimmer als im Anfang, wie wir kamen. Ich bin rein wie im Dusel – kann mich auf nichts besinnen. Sag doch, Joe – aber ehrlich, alter Kerl, – hab ich’s wirklich getan, Joe? Ich hab’s ja gewiss und wahrhaftig nicht gewollt, auf Ehr und Seligkeit, ich hab’s nicht tun wollen, Joe. Wie ist’s denn eigentlich gewesen, Joe? Ach, ‘s ist grässlich – und er so jung und hochbegabt!«

»Na, ihr beiden balgtet euch und er hieb dir eins mit dem Brett dort über und du fielst um wie ein Sack. Dann rappeltest du dich wieder auf, ganz taumelig und wackelig, griffst nach dem Messer und bohrtest es ihm in die Rippen, gerade als er dir einen zweiten gewaltigen Klaps mit dem Dings da versetzte. Seitdem lagst du da wie ein Klotz und hast dich nicht gerührt.«

»Oh, ich hab nicht gewusst, was ich tue. Will auf der Stelle tot hinfallen, wenn ich’s gewusst hab. Daran ist nur der verdammte Branntwein und die Aufregung schuld. Nie im Leben hab ich’s Messer gezogen, Joe. Gerauft hab ich, aber nie gestochen. Das kannst du von jedem hören, Joe, verrat mich nicht! Sag’s, dass du mich nicht verraten willst, Joe, bist auch ‘en guter Kerl, Ich hab dich immer gern gehabt, Joe, und hab dir’s Wort geredet. Weisst du’s nicht mehr? Gelt, du sagst nichts, Joe?« Und der arme, geängstigte Kerl warf sich auf die Knie vor dem vertierten Mörder und faltete flehend die Hände.

»’s ist wahr, du hast immer zu mir gehalten, Muff Potter, und das will ich dir jetzt gedenken, – Das nenn ich doch wie ‘n ehrlicher Kerl gesprochen, was?«

»Oh, Joe, du bist ein Engel. Ich will dich segnen, so lange ich lebe.« Und Potter begann zu weinen.

»Na, komm, lass gut sein. Jetzt ist keine Zeit zum Heulen und Greinen. Mach dich fort, dort hinaus, ich geh den Weg. Flink, los – und dass du mir keine Spuren zurücklässest!«

Potter schlug einen gelinden Trab an, der bald in ein Rennen ausartete. Sein Geselle sah ihm nach und murmelte:

»Wenn er so benebelt ist vom Schnaps und vom Hieb, wie er aussieht, so wird er nicht mehr an das Messer denken, bis er so weit weg ist, dass er sich fürchtet, allein hierher zurückzukommen – der Hasenfuss!«

Zwei oder drei Minuten später sah nur noch der Mond nieder auf den Gemordeten, auf die verhüllte Leiche, den deckellosen Sarg und das offene Grab. Lautlose Stille herrschte aufs neue.

Kapitel 9: Reue

DIE BEIDEN JUNGEN flohen keuchend, sprachlos vor Entsetzen, dem Städtchen zu. Von Zeit zu Zeit warfen sie angstvolle Blicke über die Schultern zurück, als ob sie fürchteten, man könne sie verfolgen. Jeder Baumstumpf, der sich am Wege erhob, schien ein Mensch und ein Feind, dessen Anblick ihnen beinahe den Atem raubte. Als sie an einigen freigelegenen Häusern vorüberjagten, schien das Bellen der aufgestörten Hofhunde ihren Sohlen Flügel zu verleihen.

»Wenn wir nur die alte Gerberei erreichen, ehe wir zusammenbrechen,« keuchte Tom stossweise zwischen das mühsame Atemholen hinein. »Ich kann kaum mehr länger!«

Hucks Keuchen war seine einzige Antwort; die Jungen hefteten die Augen fest auf das ersehnte Ziel ihrer Wünsche und strebten mit aller Macht es zu erreichen. Es rückte näher und näher und endlich stürzten sie, Schulter an Schulter, durch die offene Tür und fielen atemlos in die schirmenden Schatten des Raumes. Nach und nach mäßigten die jagenden Pulse ihr Tempo und Tom flüsterte:

»Huckleberry, was denkst du, das daraus werden wird?«

»Wenn der Doktor stirbt, wird einer baumeln.«

»Glaubst du?«

»Glauben? Das ist sicher!«

Tom dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Wer soll’s denn sagen? – Wir?«

»Unsinn! Wenn was dazwischen kommt und der Indianer-Joe doch nicht baumeln muss, der würd’ uns schön an den Kragen gehen, so gewiss ich hier lieg.«

»Das hab ich eben auch gedacht, Huck.«

»Wenn’s einer sagen muss, so kann’s ja der Muff Potter tun, dumm genug ist er dazu. Beduselt ist er auch meistens.«

Tom sagte nichts, – dachte weiter. Bald darauf flüsterte er: »Huck, Muff Potter weiss ja von nichts. Wie kann der’s sagen?«

»Warum weiss er von nichts?«

»Der hatte ja gerade den Hieb abgekriegt, als der andere zustach. Glaubst du, dass der noch was gesehen haben kann, dass er noch was weiss?«

»Allerdings mein ich das, Tom!«

»Hör du, der Hieb hat ihm am End auch noch den Rest gegeben!«

»Das glaub ich nicht, Tom. Der hatt’ Branntwein im Kopf, ich hab’s gesehen. Wenn mein Alter voll ist, dürft man ihm ohne Schaden mit ‘nem Kirchturm über den Kopf hauen, er würd’s nicht spüren. Das sagt er selber. Grad so ist’s mit Muff Potter natürlich. Wenn einer nüchtern wäre, könnte er freilich am End mit so ‘nem Klaps genug haben.«

Nach einer anderen gedankenvollen Pause fragte Tom:

»Huckchen, bist du sicher, dass du reinen Mund halten kannst?«

»’s bleibt uns einfach gar nichts anderes übrig, Tom. Das siehst du doch selbst. Der Teufel von Indianerbrut schmisse uns ins Wasser wie ein paar Katzen, wenn wir nur davon mucksen wollten und er nicht richtig darauf gehenkt würde. Hör mal zu, Tom, wir müssen’s uns gegenseitig zuschwören, das müssen wir tun, schwören, dass wir nichts ausplappern!«

»Ist mir recht, Huck, ‘s wird wohl das beste sein. Heb die Hand auf und schwör –«

»Nee, Tom, so leicht geht das nicht! Das ist freilich gut genug für kleine, lumpige Sachen, – besonders wenn man was mit Mädchen hat, die dummen Dinger verklatschen einen doch immer, wenn sie mal in der Patsche sitzen, – bei so was Großem aber, wie das, muss was Schriftliches dabei sein – und Blut!«

Tom war mit Leib und Seele bei dieser Idee. Sie war tief, düster, unheimlich, – mit der Zeit, dem Ort, den Umständen im Einklang. Er hob eine reine Holzschindel auf, die dort im Mondlicht lag, nahm ein Endchen Rotstift aus der Tasche, setzte sich so, dass der Mond die Schindel beleuchtete und kritzelte darauf folgende Zeilen, jeden Grundstrich mit einem krampfhaften Druck der Zunge gegen die Zähne betonend, der bei den Haarstrichen mechanisch nachließ:

»Huck Finn und Tom Sawyer, die schwören, dass sie hierüber den Mund halden wollen und wollen auf der Stelle tot umfallen, wann sie’s jemals ausblautern.«

Huckleberry war voll Staunen und Bewunderung ob Toms Gewandtheit im Schreiben und der Erhabenheit seines Stils. Flink zog er eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und wollte sich eben sein Fleisch ritzen, als Tom rief:

»Wart, tu’s nicht. So ‘ne Nadel ist von Messing und da könnt Grünspan daran sein.«

»Grünspan? Was ist das für ‘n Span?«

»Gift ist’s, – weiter nichts. Schluck’s nur mal runter, wirst schon sehen!«

Tom langte dann eine von seinen Nähnadeln vor, wickelte den Faden ab und jeder der Jungen stach sich damit in den Ballen der Hand und quetschte einen Tropfen Blut hervor.

Mit Geduld, nach oftmaligem Quetschen, brachte denn auch Tom seine Initialen zustande, wozu er die Spitze des kleinen Fingers als Feder gebrauchte. Dann zeigte er Huckleberry, wie dieser ein H und ein F zu machen habe, und der Eidschwur war gültig. Sie vergruben die Schindel dicht an der Mauer, unter Anwendung von allerlei unheimlichen Zeremonien und Zauberformeln, und die Fesseln, die ihre Zungen banden, wurden als fest geschlossen, der Schlüssel dazu als weggeworfen betrachtet.

Eine Gestalt schob sich in dem Moment verstohlen durch eine Lücke am andern Ende des verfallenen Gebäudes, die Jungen aber bemerkten sie nicht.

»Tom,« flüsterte Huckleberry, »werden wir nun niemals nichts von der Geschichte sagen können, niemals?«

»Natürlich nicht. Was auch kommen mag, wir müssen den Mund halten. Sonst fielen wir ja gleich tot um, hast du das schon vergessen?«

»Nee, – aber – ja, du hast recht.«

Eine Zeitlang flüsterten sie noch leise zusammen. Plötzlich schlug ein Hund ein langgezogenes, unheimliches Geheul an, dicht vor ihrem Schlupfwinkel, vielleicht zehn Schritte von ihnen entfernt. Die Jungen umklammerten einander in Todesangst. Ihr Aberglaube hatte wieder die Oberhand.

»Wen von uns meint er wohl?« ächzte Huckleberry.

»Weiss ich’s? – guck durch den Ritz, schnell!«

»Guck du, Tom!«

»Ich kann nicht – kann’s nicht, Huck!«

»Bitte, Tom, bitte! Da – da ist’s wieder!«

»Ach, Gottchen, wie dank ich dir,« flüsterte Tom, »Ich kenn die Stimme, ‘s ist Harbisons Tyras seine.«

»Das ist ‘n Glück, Tom, ich sag dir, ich war halb tot vor Schreck; dacht schon, ‘s sei ein fremder Hund.«

Wieder heulte der Hund. Den Jungen sank das Herz abermals bis in die unterste Zehenspitze.

»Ach, du mein alles,« stöhnte Huck, »das ist nicht Harbisons Tyras. Guck doch mal, Tom.«

Tom gab nach, obgleich er mit den Zähnen klapperte vor Furcht, und legte sein Auge an die Ritze. Sein Flüstern war kaum verständlich, als er zurückfuhr mit einem:

»Huck, ‘s ist ein fremder Hund!«

»Schnell, schnell, Tom, wen meint er von uns?«

»Er muss uns beide meinen, – wir stehen dicht zusammen.«

»Tom, dann sind wir hin, ich sag dir’s. Wo ich hinkommen werde, für mein Teil, weiss ich nur zu gut. Ich bin so oft gottlos gewesen.«

»Ach, Huck, das kommt davon, wenn man die Schule schwänzt und immer tut, was verboten ist. Ich hätt’ grad so gut und brav sein können wie Sid, – aber natürlich, das passt mir nicht. Wenn ich nochmal mit heiler Haut davonkomme, so schwör ich, dass ich mein Leben lang in die Sonntagsschule gehen will, – ich Elender!«

Und Tom begann ein wenig zu schluchzen und sich die Augen zu reiben.

» Du, schlecht?« Auch Huckleberry schluchzte nun. »Ach was, Tom Sawyer, du bist Gold, reines Gold, sag ich dir, gegen mich. Ach, Gottchen, Gottchen, Gottchen, – ja, wenn ich nur halb die Gelegenheit gehabt hätt’, gut zu sein wie du, Tom, ich –«

Tom brach plötzlich im Schluchzen ab und flüsterte freudig:

»Sieh doch, Huck, sieh! Er kehrt uns ja den Rücken zu!«

Nun schielte auch Huck durch die Ritze, Wonne im Herzen.

 

»Weiss Gott, so ist’s! Hat er denn vorher das auch schon getan?«

»Ei, freilich; ich Esel hab aber gar nicht darauf acht gegeben. Na, das ist herrlich! Jetzt aber, wen kann er meinen?«

Das Geheul verstummte, Tom spitzte die Ohren.

»Scht, – was ist das?« flüsterte er.

»’s klingt wie – na, wie Schweinegrunzen, Doch nein, – da schnarcht einer, Tom!«

»Wahrhaftig, so ist’s! Woher kommt’s wohl, Huck?«

»Ich glaub von dort, vom anderen Ende, ‘s klingt wenigstens so. Mein Alter hat dort manchmal geschlafen, aber, Herrgott, wenn der schnarcht, fallen die Mauern ein. Ich glaub auch nicht, dass der je wieder hierher kommt.«

Noch einmal regte sich der Unternehmungsgeist in der Seele der Knaben.

»Huckchen, getraust du dir mitzukommen, wenn ich vorangehe?«

»Viel Lust hab ich nicht, Tom. Wenn’s nun der Indianer-Joe wäre?«

Tom fuhr zusammen und zögerte. Bald aber erhob sich die Versuchung wieder mit aller Macht und die Jungen kamen überein, die Sache zu untersuchen, aber Fersengeld zu geben, sowie das Schnarchen aufhöre. So stahlen sie sich denn auf den Zehenspitzen, einer hinter dem anderen, dem Orte zu, von wo der Laut kam. Fünf Schritte etwa vom Schnarcher entfernt, trat Tom auf einen Stock, der mit scharfem Knack zerbrach. Der Mann stöhnte und wandte sich ein wenig, so dass sein Gesicht sich dem Mondschein zukehrte. Es war Muff Potter. Den Jungen hatte das Herz stillgestanden, als der Mann sich regte, nun aber schwand ihre Angst. Auf den Zehen schlichen sie hinaus durch die geborstene Mauer und blieben in geringer Entfernung stehen, um ein Abschiedswort zu tauschen. Wieder erhob sich jenes langgezogene, klägliche Geheul in die Nachtluft hinein. Sie wandten sich und sahen den fremden Hund, nur ein paar Schritte entfernt von dem Ort, an dem Potter lag, diesem den Kopf zuwendend, mit der Schnauze gen Himmel deuten.

»Herr Jemine, den meint er!« riefen die beiden in einem Atem.

»Sag mal, Tom, ‘s hat mir einer erzählt, dass um dem Johnny Miller sein Haus ‘n fremder Hund herumgeheult hätt’ vor ‘n paar Wochen, und dass ‘ne Eule sich auf dem Dach gezeigt hat, und doch ist noch keiner tot dort.«

»Weiss ich. Das beweist aber gar nichts! Ist nicht am selben Sonnabend die Grace Miller auf den Herd gefallen und hat sich schrecklich verbrannt?«

»Wohl, aber tot ist sie doch nicht – im Gegenteil viel besser.«

»Na, pass du nur auf, die muss sterben, so gewiss, wie der Muff Potter dort sterben muss. So sagen die Nigger, und die wissen Bescheid in den Geschichten, Huck!«

Die Jungen trennten sich, in tiefes Nachdenken versunken.

Als Tom durch sein Schlafzimmerfenster zurück kroch, war die Nacht beinahe vorüber. Er entkleidete sich mit der äussersten Vorsicht und fiel in Schlaf, indem er sich selbst von Herzen Glück dazu wünschte, dass niemand von seinem nächtlichen Ausflug etwas gemerkt habe. Armer, blinder Tom! Er selbst hatte nichts gemerkt; er wusste nicht, dass der sanft schnarchende Sid wachte, wach gewesen war seit einer Stunde.

Als Tom am anderen Morgen die Augen aufschlug, war Sid angekleidet und fort. Das Tageslicht draussen hatte ordentlich einen späten Schein, es lag ‘was Spätes in der ganzen Atmosphäre, Tom erschrak. Warum hat man ihn nicht gerufen, – ihn nicht geplagt, wie gewöhnlich, bis er auf war?

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit schlimmen Ahnungen. Innerhalb fünf Minuten war er in den Kleidern und die Treppe hinunter, noch ganz schwindelig und müde. Ihm war nicht wohl zumute. Die Familie saß noch um den Tisch, das Frühstück aber war beendet. Keine Stimme des Vorwurfs erhob sich, aber die abgewandten Augen aller, die Stille und so eine Art Feierlichkeit, die das ganze Zimmer zu erfüllen schien, ließen des armen Sünders Herz in ahnender Sorge erbeben. Er setzte sich nieder, versuchte munter und unbefangen zu erscheinen, das aber war verlorne Liebesmüh. Kein Lächeln, keine Antwort kam; auch er verfiel in Schweigen und sein Herz sank in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung und Bekümmernis.

Nach dem Frühstück nahm ihn die Tante beiseite und Tom lebte sichtlich auf in der Erwartung, dass nun die wohlverdiente Züchtigung vom Stapel laufen würde. Dem aber war nicht so, Tante Polly fing an zu weinen, fragte, wie er es über sich gewänne, sie so zu betrüben, ihr altes Herz beinahe zu brechen und schloss damit, dass sie ihm sagte, er möge nur hingehen, sich zugrunde richten und ihre grauen Haare mit Schande in die Grube bringen, sie könne ihn nicht mehr aufhalten, wolle es auch gar nicht mehr probieren, es sei doch alles nutzlos und vergebens. Das war schlimmer als die schlimmsten Prügel, und Toms Herz war nun noch matter und elender als sein Körper. Er weinte, bat um Verzeihung, gelobte Besserung wieder und wieder und wurde schließlich entlassen mit dem beschämenden Gefühl, doch nur halb und halb Vergebung und Vertrauen in seine Gelöbnisse gefunden zu haben.

Er schlich aus dem Zimmer, zu elend selbst, um Rachegelüste gegen Sid, den Verräter, zu spüren und so war des letzteren hastige Flucht durch die Hintertüre unnötig. Trübselig und traurig machte er sich nach der Schule auf und nahm mit Joe Harper zusammen seine Tracht Prügel für das Schulschwänzen entgegen, mit der Miene eines Menschen, dessen Seele schlimmeres Leid kennt und tot ist für die kleinen Kümmernisse dieser Welt. Dann verfügte er sich nach seinem Platz, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn auf die Hände, bohrte den Blick in die Wand und saß da, ein Bild starrer Verzweiflung, die ihre Grenzen erreicht hat und nicht weiter zu gehen vermag. Sein Ellenbogen ruhte auf irgend etwas Hartem. Nach einer geraumen Zeit änderte er langsam und traurig seine Stellung und nahm dies Etwas mit einem Seufzer zur Hand. Es war in Papier eingeschlagen. Er entfaltete es. Ein langgezogener, ungeheurer Seufzer folgte... Es war jener Messingknopf, den er Becky gestern geboten. Dieser letzte bittere Tropfen brachte den Becher seiner Trübsal zum Überfließen.