Free

k-punk

Text
Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

»Die Massenmedien halfen, die Rebellion zu verbreiten und das System vermarktete pflichtgemäß Produkte, die dies unterstützten und zwar aus dem einfachen Grund, dass man mit Rebellen, die auch Konsumenten waren, Geld verdienen konnte. Auf einer Ebene illustrierte die Revolte der sechziger Jahre auf eine beeindruckende Art Lenins Bemerkung, dass einem der Kapitalist auch noch das Seil verkauft, mit dem man aufgehängt wird.«370

Im Vereinigten Königreich war Stuart Hall auf eine ähnliche Art und Weise von der existierenden Linken frus­triert und seine Frustration war intensiver, weil er sich selbst als Sozialist begriff. Aber der Sozialismus, der Hall vorschwebte – ein Sozialismus, der mit den Sehnsüchten und Träumen, die er in der Musik von Miles Davis hörte –, musste erst noch erschaffen werden, und er wurde sowohl von Figuren auf der Linken als auch auf der Rechten behindert.

Die erste dieser Figuren war der selbstgefällige Verwalter der organisierten Arbeiterschaft bzw. der Sozialdemokratie in der Zeit des Kalten Krieges: rückwärtsgewandt, bürokratisch, resigniert im Angesicht der »unausweichlichen« Herrschaft des Kapitalismus, mehr daran interessiert, das Einkommen und den Status weißer Männer zu bewahren statt den Kampf auszuweiten, um andere einzubeziehen ... Diese Figur ist durch Kompromisse definiert und scheitert letztlich. Die andere Figur – die ich das Harsch-Leninistische Über-Ich nennen möchte – ist durch ihre Weigerung, Kompromisse einzugehen, definiert. Nach Freud ist das Über-Ich durch die quantitativ und qualitativ exzessive Natur seiner Forderungen gekennzeichnet: Was auch immer wir tun, es ist niemals genug. Das Harsch-Leni­nis­tische Über-Ich verordnet eine militante Askese. Der Militante hat sich zielstrebig dem revolutionären Ereignis gewidmet und er ist unbeirrbar den Maßnahmen verpflichtet, die es herbeiführen sollen. Das Harsch-Leninis­tische Über-Ich ist so indifferent gegenüber dem Leiden wie es gegenüber dem Genießen feindlich ist. Lenins phobische Aussage gegenüber der Wirkung von Musik ist an dieser Stelle aufschlussreich:

»Aber allzu oft kann ich diese Musik doch nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven, man möchte lieber Dummheiten reden und Menschen den Kopf streicheln, die in schmutziger Hölle leben und trotzdem solche Schönheiten schaffen können.«

Während die selbstgefälligen Führer der organisierten Arbeiterbewegung viel in den Status quo investiert hatten, setzt das Harsch-Leninistische Über-Ich alles auf eine Welt, die vollkommen anders als diese sein soll. In dieser post-revolutionären Welt würde der Leninist erlöst werden und es war von der Warte dieser Welt, von der aus sie sich selbst beurteilten. In der Zwischenzeit ist es legitim und sogar notwendig, eine Indifferenz gegenüber gegenwärtigem Leiden zu entwickeln: Wir können und müssen über Obdachlose hinweg trampeln, weil zu spenden nur das Kommen der Revolution behindert.

Aber diese Revolution hatte wenig gemeinsam mit der »sozialen und psychischen Revolution von schier unvorstellbarer Größe«, von der Ellen Willis glaubte, dass sie in den Träumen der Gegenkultur angelegt war. Die Revolution, die ihr vorschwebte, war zugleich unmittelbarer – sie würde an der Basis dessen ansetzen, wie Care Work und der Haushalt organisiert sind – und weitreichender: Die so veränderte Welt wäre unvorstellbar merkwürdiger als alles, was der Marxismus-Leninismus jemals ins Leben gerufen hat. Die Gegenkultur dachte, dass sie bereits Räume produziert hätte, wo diese Revolution erfahrbar ist.

Um eine Ahnung davon zu erhalten, wie diese Räume sein könnten, eignet sich nichts besser als »Psychedelic Shack« von The Temptations, das im December 1969 veröffentlicht wurde. Die Band spielt darin die Rolle von atemlosen Naivlingen, die gerade aus einer Art Wunderland zurückgekehrt sind: »Strobe lights flashin’ way till after sundown … There ain’t no such thing as time ... Incense in the air …« (Stroboskoplicht, das bis über den Sonnenuntergang hinaus blitzt ... Zeit spielt keine Rolle ... Weihrauch in der Luft.) Weil wir all diese Signifikanten mittlerweile gut kennen, macht es uns heute stutzig, »Psychedelic Shack« zu hören. Wenn wir heute aufgefordert werden, über das Psychedelische nachzudenken, könnte es sein, dass wir es zuerst mit einer Art solipsistischem Rückzug assoziieren (der Text zu »Tomorrow never knows« lädt zu diesen Assoziationen geradezu ein). Aber »Psychedelic Shack« beschreibt einen Raum, der definitiv ein kollektiver Raum ist, ein Raum, der mit der Energie eines Basars überquillt. Aber trotz seiner karnevalesken Flucht vom Alltag ist er keine entfernte Utopie. Er wirkt wie ein vorstellbarer, ein realer sozialer Raum. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man einen Spinner oder Hausierer als Dichter oder Musiker dort trifft und wer weiß schon, ob nicht der Spinner von heute das Genie von morgen ist? Es ist zugleich ein egalitärer und demokratischer Raum, und ein bestimmter Affekt liegt über allem. Es existiert eine Vielheit, aber kaum eine Spur von Ressentiment oder Böswilligkeit. Er ist ein Raum für Gemeinschaft, in dem man sich ebenso treffen und unterhalten kann wie auch vollkommen weggeblasen werden kann. »There’s no such thing as time« – weil die Lichter den Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwimmen lassen, weil die Drogen die Wahrnehmung von Zeit verändern; falls das stimmt, dann ist man hier kein Opfer der Notwendigkeiten, die den Arbeitsalltag zu einer Plackerei machen. Es gibt keine Regeln darüber, wie lang Unterhaltungen sein dürfen und man weiß nicht, wohin eine Begegnung führt. Du hast die Freiheit, deine Alltagsidentität hinter dir zu lassen. Du kannst dich nach deinen Bedürfnissen verwandeln, auch nach Bedürfnissen, von denen du nicht wusstest, dass du sie hast.

Der entscheidende, alles definierende Moment des Psychedelischen ist die Frage des Bewusstseins und sein Verhältnis zu dem, was als Realität erlebt wird. Wenn die Grundfesten unserer Erfahrung, etwa unsere Vorstellung von Raum und Zeit, verändert werden können, bedeutet dies, dass die Kategorien, nach denen wir leben, auch plastisch und veränderbar sind. Wenn man dies lediglich auf der Ebene des Individuums versteht, dann führt diese Erkenntnis schnell in einen oberflächlichen Relativismus und einen naiven Voluntarismus, den The Temptations selbst auf ihrer ersten psychedelischen Soul-Single »Cloud Nine« thematisiert haben: Klar kannst du sein, wer und was du sein willst, aber nur, wenn du dabei eine Million Meilen von der Realität entfernt bleibst; nur, wenn du deine Verantwortlichkeiten hinter dir lässt. Diese Form der Anrufung eines Über-Ich konnte sowohl von Konservativen sowie einer bestimmten Sorte von Radikalen befürwortet werden: Konservative, die wollten, dass jedermann sich an die Arbeit macht. Militante, die verlangten, dass man sich der Revolution widmet, was – das behaupteten sie zumindest – erforderte, dass man sich dem Horror der Welt zuwandte, und nicht einer leicht verfügbaren Flucht vor der Realität. Aber schon die These, dass ein veränderter Bewusstseinszustand jemanden »a million miles from reality« (The Temptations) führen könnte, ist fragwürdig. Sie schließt die Idee aus, dass ein verändertes Bewusstsein eine Wahrnehmung der Systeme der Macht, von Ausbeutung oder Ritualen mit sich bringen konnte, die mehr und eben nicht weniger hellsichtig als das Alltagsbewusstsein war. In den sechziger Jahren, als das Bewusstsein durch die Phantasien und Bilder der Werbung und des kapitalistischen Spektakels belagert wurde, stellt sich die Frage, wie fest die »Realität« überhaupt war, aus der man in psychedelische Zustände geflohen ist. War der Zustand eines Bewusstseins, das dem Spektakel mißtrauisch gegenüberstand nicht eher wie Schlafwandeln anstatt wie alarmiert zu sein oder wie etwas gewahr zu werden?

Im Rückblick scheint eine der bemerkenswertesten Eigenschaften der psychedelischen Kultur der sechziger Jahre zu sein, wie sehr metaphysische Fragen wie diese Teil des Mainstreams wurden. Das Psychedelische war nicht neu, viele prä-kapitalistische Gesellschaften haben psychedelische Visionen und den Gebrauch von Halluzinogenen in ihre rituelle Praxis integriert. Neu war aber das Ausbrechen des Psychedelischen aus eindeutig definierten, ritualisierten Räumen und Momenten, und aus der Kontrolle von bestimmten Praktizierenden wie Scha­manen und Zauberern. Experimente mit dem Bewusstsein standen nun im Prinzip jedem offen. Trotz all des Mystizismus und der Pseudo-Spiritualität, die immer über der psychedelischen Kultur schwebte, besaß sie damals eine demystifizierende und materialistische Dimension. Die weit verbreiteten Experimente mit dem Bewusstsein versprachen nicht weniger als eine Demokratisierung der Neu­rologie, ein neues, weit verbreitetes Gewahrwerden über die Rolle des Gehirns beim Produzieren dessen, was man als Realität erfährt. Menschen auf Acid-Trips externalisierten die Funktionsweise ihres eigenen Gehirns und lernten damit, ihr Gehirn potenziell auch anders zu nutzen. Aber psychedelische Erfahrungen waren nicht auf diejenigen begrenzt, die Drogen genommen hatten. Die gesamten Massenmedien, die zusammen mit dem Vietnamkrieg auch psychedelische Konzepte in den Mainstream gehievt hatten, waren ein massives, bewusstseinsveränderndes Experiment. Mit dem Fernsehen erreichte der Zusammenbruch der Unterscheidung zwischen Traum und Wachsein, der mit dem Film begonnen hatte, jetzt auch den »privaten« Raum des Haushalts.

Das Fernsehen war im Zentrum einer Medienlandschaft, die sich gerade zusammensetzte und die niemand verstand, weil so etwas wie sie niemals zuvor existiert hatte. Die Beatles haben ihr erstes Album nur ein paar Monate vor der Ermordung von John F. Kennedy veröffentlicht. Das Fernsehen war der Kanal für das Virale (Beatlemania!), Trauma und Hysterie, aber eben auch für paternalistische Botschaften oder die kommerzielle Jagd nach Profiten. Niemand war zu seiner Lebzeit so berühmt wie die Beatles, weil die Infrastruktur für diese Art von Ruhm erst gerade erbaut wurde und die Beatles Teil dieses Prozesses waren, als wäre – zu ein und derselben Zeit – die Welt zu einer Verlängerung ihres eigenen elektronischen Traums geworden und sie selbst Figuren in den Träumen aller anderen.

 

Man könnte sagen, dass der »psychedelic turn« der Beatles ein Versuch war, all dies in einen lichten Traum zu verwandeln. Das ist die Qualität von »A Day in the Life«, das die Differenz zwischen John Lennons Ruhe des lichten Traums und den Dringlichkeiten des Arbeitslebens (McCartneys atemloser Pendler, der den Bus »in seconds flat« erreicht) ausspielt. Aber der Ausweg von diesen Dringlichkeiten ist immer in schmerzvoller Nähe: Sobald er im Bus sitzt, fällt McCartneys Figur in einen Traum.

Lennon klingt leidenschaftslos, aber nicht unbeteiligt; er ist humorvoll, aber nicht auf die kumpelhafte Art, die so tut, als würde man sich schon ewig kennen. Sein Gesangspart scheint verstehen zu geben, dass das gewöhnliche Sonnenanbetertum des Arbeitsalltags nur mithilfe einer Perspektive wahrgenommen werden kann, die durch eine andere Form der Trance ermöglicht wird. Oder ist es vielleicht so, dass eine Stimme, die von den Imperativen der Arbeit und der Wachheit entkoppelt ist, katatonisch erscheint? Diese Stücke zeigen uns das Innere, das von Außen betrachtet wird, wenn Lennon uns auf eine Reise durch die unterschiedlichen Formen mitnimmt, mit denen das Bewusstsein elektronisch mediatisiert wird – durch Zeitungen, Filme und Fernsehen: »I read the news today, oh boy.«

Diesen Kontrast zwischen Dringlichkeit und Klarheit konnte man in Jonathan Millers Fernsehfassung von Alice im Wunderland überall erkennen. Sie wurde im Dezember 1966 von der BBC ausgestrahlt und reflektierte den Einfluss der Beatles ebenso wie sie diese im Gegenzug beeinflussen würde. Der in schwarz-weiß gedrehte Film hat einen merkwürdig nüchternen, fast schon asketischen visuellen Stil, der ohne Special Effects oder blumige Bildsprache auskommt. Dies passte gut zur auffälligsten Innovation dieser speziellen Adap­tion: Die Figuren des Romans wurden nicht als Tiere, sondern als Menschen dargestellt. »Sobald man die Maske des Tiers abnimmt«, so Miller zum Life Magazine, »beginnt man zu erkennen, worum es eigentlich geht. Ein kleines Kind, das von gehetzten, besorgten Menschen umgeben ist und sich denkt: ›Ist es das was mit ,erwachsen sein’ gemeint ist?‹«

Der Film ist durchzogen von einer Atmosphäre der Mattigkeit, Trägheit und Katatonie, die manchmal in plötzliche Panik und Hilflosigkeit verfällt. Miller sagt: »Dadurch, dass das Buch die Dinge in Tierkostüme kleidet, präsentiert es eine verkleidete – eine als Traum verkleidete – häusliche Scharade. […] Alle Ebenen von Autorität, Befehlen und Gehorsam werden darin reflektiert.«371

Die gewöhnliche Welt erscheint wie ein Geflecht aus Unsinn: unverständlich inkonsistent, willkürlich und autoritär, von bizarren Ritualen, Wiederholungen und Auto­matismen dominiert. Sie ist selbst ein schlechter Traum, eine Art Trance. In der feierlichen und autistischen Gereiztheit der Erwachsenen, die Alice foltern und verwirren, erkennen wir den Wahnsinn der Ideologie selbst: eine Traumarbeit, die vergessen hat, dass sie ein Traum ist und die versucht, uns dies auch vergessen zu machen, indem sie uns in ihren Dringlichkeiten mitreißt, indem sie uns mit düsterer, trübseliger Demenz verwirrt oder uns mit ihrer plötzlichen, unvorhersehbaren und unstillbaren Gewalt ängstigt.

Das Gelächter, das Alice provoziert – manchmal unbehaglich, manchmal zum Schreien komisch – ist ein Gelächter, das aus einem Außen stammt. Es ist ein psychedelisches Gelächter, ein Gelächter, das – weit davon entfernt, die Werte eines Status quo zu bestätigen oder zu validieren – das Bizarre, die Inkonsistenz dessen aufzeigt, was als »Common sense« gesehen wurde. Ist dies nicht das Gelächter, das Michel Foucault in einer zu Recht berühmten Passage des Vorworts von Die Ordnung der Dinge beschreibt, einem Buch, das in dem Jahr veröffentlicht wurde, als Millers Version von Alice gesendet wurde? Foucault bezieht sich dort auf eine Geschichte von Borges:

»Dieser Text zitiert eine ›gewisse chinesische Enzyklopädie‹, in der es heißt, daß ›die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezählte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen‹. Bei dem Erstaunen über die Taximonie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.«372

Diese Perspektive, das Lachen von Außen, zieht sich durch das gesamte Werk von Foucault. Trotz aller Feinheiten, seiner Dichte und Undurchdringlichkeit, Fou­caults Hauptwerk Wahnsinn und Gesellschaft von Beginn der 1960er … bis hin zu den Büchern über Sexualität, die er nach dem Death Valley veröffentlichte, scheinen sich um eine fundamentale Einsicht – oder Aussicht – zu drehen und diese zu wiederholen: die Willkür und Kontingenz eines jeden Systems, seine Plastizität.

Falls diese Sicht von Außen im psychedelischen Bewusstsein Widerhall fand, hatte sie im Fall von Foucault ihre Ursache jedoch nicht in Drogen. Foucault nahm erst ein Jahrzehnt später LSD, als er ins Death Valley fuhr und am Zabriskie Point Acid einwarf, dem Schauplatz von Michelangelo Antonionis Film über die Gegenkultur.

Foucault, der sich selten wohl in seiner Haut fühlte, suchte immer nach einem Ausweg aus seiner eigenen Identität. Er hat einmal die erinnerungswerte Behauptung gemacht, dass er nur schreibe, um »schließlich kein Gesicht mehr«373 zu haben und seine gewaltigen Übungen im Außenseitergelehrtentum und der Erfindung von Begriffen, die textuellen Labyrinthe, die er aus unzähligen his­torischen und philosophischen Quellen zusammenstellte, waren ein Versuch, dem Gesicht zu entkommen. Eine andere Route war die, die er die Grenzerfahrung nannte und eine Variante davon war seine Begegnung mit LSD. Die Grenzerfahrung war ein Paradox: Es war eine Erfahrung an und jenseits der Grenzen der »gewöhnlichen« Erfahrung, eine Erfahrung von etwas, das normalerweise nicht erfahren werden kann. Die Grenzerfahrung machte eine Art metaphysischen Trick möglich. Den Bedingungen, die eine gewöhnliche Erfahrung möglich machten, konnte man nun entgegentreten, sie transformieren und ihnen entfliehen – zumindest für eine gewisse Zeit. Aber per definitionem konnte das Wesen, das sich diesem Prozess unterzog, nicht das gewöhnliche Subjekt der Erfahrung sein – stattdessen würde es ein anonymes X sein, eine gesichtlose Existenz.

Ein Großteil der Musik der Gegenkultur gab diesem Außen eine Stimme und Foucaults Hinwendung zur Grenzerfahrung war eine Parallele zu populären Bewusstseinsexperimenten. »Das Problem ist nicht«, sagte Foucault einmal in einem Interview,

»eine verlorene Identität wiederherzustellen, unsere gefangen gehaltene Natur, unsere tiefste Wahrheit. Sondern dass Problem ist, sich auf etwas komplett anderes hinzubewegen. Das Zentrum dessen kann man immer noch in Marx’ Formulierung finden: Der Mensch produziert den Menschen. […] Für mich ist, was produziert werden muss, nicht ein Mensch, der identisch mit sich ist, genau wie die Natur ihn erschaffen hat oder mit seiner Essenz. Im Gegenteil, wir müssen etwas hervorbringen, dass noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, wie und was es sein wird.«374

In einem Kommentar zu Foucaults Text hat Michael Hardt argumentiert, dass »der positive Inhalt des Kommunismus, der mit der Abschaffung des Privateigentums korrespondiert, die autonome menschliche Produktion« ist, »ein neues Sehen, ein neues Hören, ein neues Denken, ein neues Lieben.«375

Ein neues Sehen, ein neues Hören, ein neues Denken, ein neues Lieben: Das ist das Versprechen des Acid Kommunismus und dieses Versprechen konnte man im »Psychedelic Shack« und der Kultur, die ihn inspirierte, hören. Nur fünf Jahre trennen den »Psychedelic Shack« von »My Girl«, dem bekanntesten Hit der Temptations, aber wie viele neue Welten sind dazwischen ins Leben getreten? In »My Girl« bleibt die Liebe sentimentalisiert und auf ein Paar beschränkt, in »Psychedelic Shack« ist sie kollektiv und nach außen gerichtet.

»Psychedelic Shack« erschien, als der neue Sound der Temptations gerade einmal ein Jahr alt war. Der inoffizielle Bandleader Otis Williams hatte den Producer Norman Whitfield von der Veränderung überzeugt. Whitfield zögerte zuerst, den Sound von The Temptations zu ändern, aber seine Bekehrung sollte schließlich zu einigen der hinreißendsten Produktionen in der Geschichte von Pop führen: Produktionen, die auf dem Versprechen von »Tomorrow never knows« aufbauten, das die Beatles selbst nur sehr selten einlösen würden. Whitfield versank so dermaßen in die psychedelischen Soundscapes, an denen er im Studio arbeitete, dass er The Temptations dazu drängte, Stücke zu veröffentlichen, die acht oder neun Minuten lang waren und Raum für lange Instrumentalpassagen ließen. Er gründete die Band The Undisputed Truth als Labor, das spezifisch dafür gedacht war, diese langen lysergischen Produktionen auszuprobieren. Whitfields Experimente mit dem Studio als Komposi­tionsinstrument lief parallel zu dem was Lee »Scratch« Perry in Jamaica mit Dub ausprobierte. Die sonischen Räume, die sie eröffneten, beinhalteten eine besondere Erfahrung von Zeit: eine ausgedehnte Zeit, eine Zeit, die zugleich entblößt und von verstörenden unwirklichen Klängen bevölkert wird, im Gegensatz zu musikalischen Formen, die die Hörer dazu bringen, tief in den Moment einzutauchen, selbst da, wo sie rhythmische Muster und Pulsschläge einhüllen. Diese neue Raum-Zeit würde später von Tom Moulton, Larry Levan und Walter Gibbons, den Erfindern des Dance Tracks, wiederbelebt werden und formte dann wieder die Basis für psychedelische Genres wie House, Techno oder Jungle.

Die Blaupause für den neuen Sound der Temptations waren Sly and the Family Stone, mit Spuren von James Brown und Jimi Hendrix: eine fiebrige Matrix, die sich aus Elementen zusammensetzt, die schon miteinander interagiert hatten. Dieser Wandel im Sound war mehr als nur eine Stiländerung; sie reagierte auf neue Forderungen und Erwartungen gegenüber dem, was Musik sein konnte. Weil sie nicht länger dazu verdammt war, Liebeslieder zu produzieren oder Cheerleader für eine gute Zeit zu sein, konnte Popmusik jetzt das Soziale kommentieren; besser noch, sie konnte sich etwas von den sozialen Transformationen, die vorherige Sicherheiten, Vorurteile oder Annahmen auflösten, borgen und wieder an diese zurückgeben. Sie schöpfte ihre Bedeutung aus der vor Selbstvertrauen, Wut und Entschiedenheit überquellenden Bürgerrechtsbewegung und prägte neue soziale Beziehungen aus, die einen Vorgeschmack davon gaben, wie die Welt nach dem Sieg dieser Bewegungen aussehen würde. Das ist, was Greil Marcus in seinem großartigen Essay »The Myth of Staggerlee« von 1975 in Sly and the Family Stone entdeckt hat:

»Slys eigentlicher Triumph lag darin, dass er alles unter einen Hut brachte. Jede Nuance seines Stils, vom Rummel um seine Klamotten über die Ursprünglichkeit seiner Musik bis hin zur Explosivität seiner Livevorstellungen, machte deutlich, daß er sein eigener Herr war. Wenn die Essenz seiner Musik die Freiheit war, so war niemand aggressiver und kreativer frei als er. Aber es war Platz für jeden im Amerika einer Band, die sich aus Schwarzen und Weißen, aus Männern und Frauen zusammensetzte, die das Lied sang, wonach jeder nach seiner Fasson selig werden sollte, und die auf der Bühne stand, um einem Publikum ganz einfach zu zeigen, was eine solche Vorstellung von Unabhängigkeit bedeutete.«376

Sly and the Family Stone konnten scheinbar alles unter einen Hut bringen – mit einem Sound, der zugleich klapprig, improvisiert und doch geschmeidig tanzbar war; eine Musik, die weder sentimental noch scheinheilig wirkte, sondern zu jeder Zeit humorvoll und todernst zugleich.

Das Gelächter von Alice, die spielerische Freiheit und Wagemut, den Sly and the Family Stone verkörperten: Sie mögen von einer Avantgarde zur Aufführung gebracht worden sein, aber sie musste keineswegs nur einer Elite vorbehalten bleiben. Im Gegenteil, die Frage, die ihre Präsenz in Radio und TV mit Nachdruck aufwarf, war folgende: Warum sollte diese Bohème nicht für jeden offen sein?

 

Auch wenn ein Großteil der traditionellen Linken gegenüber diesen Strömungen taub oder gar feindlich eingestellt war, hatte die Gegenkultur dennoch einen Einfluß auf die Arbeit – und zwar in Kämpfen, die von einem neuen Arbeitertyp geführt wurde. »Es gibt eine neue Generation von Arbeitern«, erklärte JD Smith, ein Gewerkschaftsschatzmeister in der Chevy-Vega-Fabrik in Lordstown, Ohio. »Keiner dieser Jungs kam aus dem ›Old Country‹ und war dankbar dafür, überhaupt einen Job zu haben. Niemand von ihnen hatte eine Depression erlebt. Sie haben aber – zumindest über das Fernsehen –alle Jugendbewegungen der letzten zehn Jahre kennengelernt und sehen keine Schande darin, arbeitslos zu sein.«377

Im Jahr 1972 war das Werk in Lordstown in einen Kampf über die Arbeitsbedingungen verwickelt, der die neue Intoleranz gegenüber Plackerei und Autoritarismus widerspiegelte.

»Die Arbeiter von Lordstown, wurden zu einem kollektiven, nationalen Symbol für die neue Art von Arbeitern und sinnbildlich für ein weit verbreitetes Gefühl der Entfremdung durch Arbeit. Die Menschen fühlten sich zu den erfrischenden Visionen von Jugend, Vitalität und inter-ethnischer Solidarität hingezogen, die der Öffentlichkeit hinter Fernsehfiguren wie Archie Bunker, einer Arbeiterführung, die für den Krieg war, und einer zunehmend gegen die einfachen Arbeiter gerichteten Politik.«378

Lordstown war Teil einer aktivistischen Welle, in der diese neue Art des Arbeiters für die demokratische Kontrolle über ihre eigenen Gewerkschaften und ihrer Arbeitsplätze kämpfte. Im Lichte dieser Kämpfe kann man den egalitären sozialen Raum, der in »Psychedelic Shack« projiziert wird, nicht als passiven Wunschtraum oder eine Ablenkung von echter politischer Aktivität abtun. Musik wie diese war ein aktives Träumen, das realen sozialen und kulturellen Zusammensetzungen entsprang und das auf machtvolle neue Kollektive und eine neue existenzielle Atmosphäre zurückwirkte, die sowohl Plackerei als auch traditionelle Ressentiments zurückwiesen. »Die jungen schwarzen und weißen Arbeiten diggen sich«, sagte der Lordstowner Gewerkschaftspräsident Gary Bryner. »Es gibt Verständnis füreinander. Der Typ mit dem Afro, der Typ mit den Perlen, der Typ mit dem Goatee, dem ist egal, ob jemand schwarz, weiß, grün oder gelb ist.« Dieser neue Typus von Arbeitern, die »Dope rauchten, außerhalb ihrer ethnischen Community Dates hatten und von einer Welt träumten, in der Arbeit eine Bedeutung hat«,379 wollten die demokratische Kontrolle sowohl über ihren Arbeitsplatz als auch über ihre Gewerkschaften. Eine ähnliche Mischung gärte auch in Italien, wo ein neuer Typus Arbeiter langsam sichtbar wurde. »Diese neue Generation von Arbeitern hatte nicht so viel mit der alten Tradition der Arbeiterparteien zu tun oder gar mit der sozialistischen Ideologie des Staatseigentums«, sagt Franco Berardi über die Situation in Turin im Jahr 1973. »Die treibende Kraft ihres Protests war eine massive Verweigerung der Tristesse der Arbeit. Diese jungen Arbeiter hatten mehr mit der Hippie-Bewegung und der Geschichte der Avantgarde gemeinsam.«380

Im Jahr 1977 existierte schließlich eine neue soziale Mischung, eine »Massenavantgarde« in Bologna. Es war hier, vermutlich mehr als sonst irgendwo, wo der Acid Kommunismus als eine reale Formation zusammenkam. Die Stadt schäumte vor Energie und Selbstbewusstsein über, das hervorbricht, wenn sich neue Ideen mit neuen Formen vermengen.

»Die Universität war voller terroni (Menschen aus dem Süden), Deutschen, Komikern, Musikern und Zeichnern wie Andrea Pazienza und Filippo Scozzari. Künstler besetzten Häuser im Stadtzentrum und betrieben so kreative Orte wie Radio Alice und Traumfabrik. Manche lasen Bücher wie den Anti-Ödipus, rezitierten Gedichte von Majakowski und Artaud, hörten die Musik von Keith Jarrett und den Ramones und inhalierten trauminduzierende Substanzen.«381

Im Februar veröffentlichte A/traverso, eine von Berardi und anderen jungen Aktivisten herausgegebene Zeit­schrift, eine Ausgabe mit dem Titel »Die Revolution ist gerecht, möglich und nötig. Schaut her, Genossen, die Revolution ist wahrscheinlich«.

»Wir wollen die Besitztümer der katholischen Kirche expropriieren

Die Arbeitszeit kürzen, die Anzahl der Jobs erhöhen

Den Anteil des Lohns erhöhen

Die Produktion transformieren und unter die Kontrolle der Arbeiter bringen.

Die Befreiung der Masse an Intelligenz, die vom Kapitalismus verschwendet wird

Bislang wurde Technologie als ein Mittel der Kontrolle und Ausbeutung benutzt

Sie will aber zu einem Werkzeug der Befreiung werden

Weniger zu arbeiten ist möglich – dank der Anwendung von Kybernetik und Informatik

Nullarbeit gegen Einkommen

Automatisierung jeglicher Produktion

Alle Macht der lebendigen Arbeit

Alle Arbeit der toten Arbeit

1977 wirkten solche Forderungen nicht nur realistisch, sondern unausweichlich: »Schaut her, Genossen, die Revolution ist wahrscheinlich.« Natürlich wissen wir heute, dass die Revolution damals nicht stattgefunden hat. Aber die materiellen Voraussetzungen für eine solche Revolution sind im 21. Jahrhundert noch stärker existent als es 1977 der Fall war. Was sich aber bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, ist die existenzielle und emotionale Atmos­phäre. Ganze Bevölkerungsschichten haben vor der Tristesse der Arbeit resigniert, auch wenn ihnen gesagt wird, dass die Automatisierung ihre Jobs bald verschwinden lässt. Wir müssen den Optimismus dieses Momentes der siebziger Jahre wiedererlangen – und zwar ebenso wie wir all die Mechanismen sorgsam analysieren müssen, die das Kapital eingesetzt hat, um Selbstvertrauen in Niedergeschlagenheit zu verwandeln. Zu verstehen, wie dieser Niedergang des Bewusstseins funktioniert, ist der erste Schritt, ihn umzukehren.