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Teil 6
Acid Kommunismus

Übersetzt von

Christian Werthschulte

Acid Kommunismus
(unvollendete Einleitung)356

»Das Gespenst einer Welt, die frei sein könnte«

»[J]e näher die reale Möglichkeit rückt, den Einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien, desto mehr steigert sich die Notwendigkeit, diese Einschränkungen auf­recht zu erhalten und immer funktionstüchtiger zu gestalten, damit sich die bestehende Ordnung nicht auf­löst. Die Zivilisation muss sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte. […]

Im Austausch gegen die Bequemlichkeiten, die sein Leben bereichern, verkauft er nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seine freie Zeit […] Die Menschen leben in Wohnungsanhäufungen – und haben ihre eignen Wagen, mit denen sie doch nicht mehr in eine Welt entfliehen können, die anders wäre. Sie haben riesige Eis­schränke voller gefrorener Lebensmittel. Sie haben Dutzende von Zeitungen und Magazinen, die die gleichen Ideale vertreten. Sie haben eine riesenhafte Auswahl, unzählige Apparate und Apparätchen, die alle gleichartig sind und sie beschäftigen und ihre Aufmerksamkeit von ihrem wirklichen Anliegen ablenken – von der Entdeckung, dass sie sowohl weniger arbeiten als ihre Bedürfnisse und Befriedigungen selbst bestimmen könnten.«357

Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft358

Die These dieses Buchs ist, dass die letzten 40 Jahre darauf verwandt wurden, das »Gespenst einer Welt, die frei sein könnte«, auszutreiben. Die Perspektive einer solchen Welt einzunehmen, gestattet es uns, den Fokus zeitgenössischer linker Kämpfe umzukehren. Anstatt zu versuchen, das Kapital zu überwinden, sollten wir uns auf das konzentrieren, was durch das Kapital notwendigerweise behindert wird: unsere kollektive Fähigkeit, Dinge zu produzieren, uns umeinander zu kümmern und zu genießen. Wir auf der Linken haben schon seit einiger Zeit viele Dinge falsch verstanden: Nicht wir sind antikapitalistisch, sondern der Kapitalismus, mit seinen behelmten Polizis­ten, seinem Tränengas und den theologischen Nettigkeiten seiner Wirtschaftswissenschaft, ist darauf ausgerichtet, das Entstehen eines »Roten Reichtums« zu verhindern. Die Überwindung des Kapitals muss auf der sehr einfachen Einsicht basieren, dass das Kapital eben nicht darauf angelegt ist, »Wohlstand zu schaffen«, sondern notwendigerweise und immer die Produktion eines gemeinsamen Wohlstands, des »Commonwealth«, blo­ckiert.

Der wichtigste – wenn auch nicht der einzige – Akteur beim Exorzieren des Gespensts einer Welt, die frei sein könnte, ist das Projekt, das man gemeinhin als »Neoliberalismus« bezeichnet. Das wahre Ziel des Neoliberalismus waren nicht die »offiziellen« Feinde – der dekadente Monolith des Ostblocks und die bröckelnden Übereinkünfte von Sozialdemokratie und New Deal, die unter dem Gewicht ihrer eigenen Widersprüche kollabierten. Stattdessen begreift man den Neoliberalismus am besten als ein Projekt, dass das Ziel hatte, die demokratisch-so­zia­listischen und libertär-kommunistischen Experimen­te zu zerstören, die Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre aufgeblüht sind –, und zwar soweit zu zerstören, dass sie undenkbar wurden.

In letzter Konsequenz führte das Auslöschen dieser Po­tenziale zu dem Zustand, den ich »kapitalistischer Realismus« genannt habe: die fatalistische Fügung in die Sicht­weise, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Wenn es ein Gründungsmoment des kapitalistischen Realismus gibt, dann ist es die gewaltsame Zerstörung der Allende-Regierung in Chile durch den von den US-Amerikanern unterstützten Putsch von General Pinochet. Allende experimentierte mit einer Form des demokratischen Sozialismus, der eine reale Alternative sowohl zum Kapitalismus als auch zum Stalinismus anbot. Die militärische Zerstörung der Allende-Regierung und die darauf folgenden Massenverhaftungen und Folterungen sind lediglich das gewalttätigste und dramatischste Beispiel für die besonderen Anstrengungen, die das Kapital aufwenden musste, um sich als der einzig »realistische« Modus gesellschaftlicher Organisation darzustellen. In Chile wurde nicht nur eine neue Form des Sozialismus ausgelöscht, das Land wurde auch zum Labor, in dem die Maßnahmen (Deregulierung des Finanzsektors, die Öffnung der Wirtschaft für ausländisches Kapital, Privatisierungen) erprobt wurden, die später an anderen Zentren des Neoliberalismus vom Band gerollt wurden. In Ländern wie den USA oder Großbritannien aber wurde der kapitalistische Realismus in kleineren Schritten implementiert und dies beinhaltete Anreize, Verführungen und Repression gleichermaßen. Der Effekt war der gleiche: Die Ideen eines demokratischen Sozialismus und eines libertären Kommunismus wurden mitsamt ihrer Wurzeln ausgerissen.

Die Austreibung des »Gespensts einer Welt, die frei sein könnte« war ebenso eine kulturelle wie auch eine im engeren Sinne politische Frage. Denn dieses Gespenst und die Möglichkeit einer Welt, die die Schufterei überwunden hat, wurde am eindrücklichsten in der Kultur gestellt – sogar, oder vielleicht sogar besonders in einer Kultur, die sich selbst nicht als politisch begriff.

Herbert Marcuse erklärt, warum dies der Fall war und sein in den letzten Jahren geschwundener Einfluss erzählt eine eigene Geschichte. Der eindimensionale Mensch, ein Buch, dass die schwermütige Seite seines Werks reprä­sentiert, ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für viele, aber Triebstruktur und Gesellschaft und viele andere sei­ner Texte werden schon lange nicht mehr nachgedruckt. Seine Kritik der totalen Verwaltung des Lebens und unserer Subjektivität durch den Kapitalismus stößt weiterhin auf Resonanz; seine Behauptung aber, dass die Kunst eine Art »Großer Weigerung, ein Protest gegen das, was ist«359 konstituiert, wirkt wie ein altmodischer Romantizismus, der im Zeitalter des »kapitalistischen Realismus« wunderlich und irrelevant ist. Aber Marcuse hat eine solche Kritik antizipiert und die Kritik in Der eindimensionale Mensch ist deshalb so wirkmächtig, weil sie einem zweiten Raum entstammt: einer »ästhetischen Dimension«, die radikal inkompatibel mit dem Alltagsleben im Kapitalismus ist. Marcuse argumentierte, dass die »tra­ditionellen Bilder künstlerischer Entfremdung«, die man mit der Romantik verbindet, in Wirklichkeit nicht vergangen sind. Stattdessen erklärte er: »Woran sie erinnern und was sie im Gedächtnis aufbewahren, erstreckt sich auf die Zukunft: Bilder einer Erfüllung, welche die Gesellschaft auflösen würde, die sie unterdrückt.«360

Die »Große Weigerung« weist nicht nur den »kapita­lis­tischen Realismus«, sondern den Realismus an sich zurück. Marcuse schreibt, dass aufgrund der »wesentlichen Transzendenz der Kunst« ein »Konflikt mit der politischen Praxis« unvermeidlich sei.361 Kunst ist eine positive Entfremdung, eine »vernünftige Negation« der existierenden Ordnung der Dinge. Sein Kollege aus der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, hat ähnlich viel Wert auf die intrinsische Andersartigkeit von experimen­teller Kunst gelegt. In Adornos Werk werden wir jedoch dazu eingeladen, die Wunden des beschädigten Lebens unter der Herrschaft des Kapitals in nicht enden wollender Weise zu begutachten; die Idee einer Welt jenseits des Kapitals ist in ein utopisches Jenseits entsandt. Die Kunst ist der Gradmesser, wie weit wir von dieser Utopie entfernt sind. Im Kontrast dazu evoziert Herbert Marcuse aufs Lebendigste und als unmittelbare Perspektive eine Welt, die vollkommen verwandelt ist. Es war zweifelsohne dieser Aspekt seines Werks, der dazu führte, dass Marcuse so enthusiastisch von Teilen der Gegenkultur der sechziger Jahre rezipiert wurde. Er hatte die Herausforderung vorhergesehen, die die Gegenkultur für eine Welt darstellte, die von sinnloser Arbeit dominiert war. In Der eindimensionale Mensch argumentiert er, dass die politisch bedeutsamsten literarischen Figuren jene seien, »die sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, zumindest nicht auf ordentliche und normale Weise«.362 Diese Figuren und das Leben, das man mit ihnen verbindet, rücken mit der Gegenkultur in den Vordergrund.

So sehr Marcuses Werk mit der Gegenkultur in Einklang stand, so sehr sah seine Analyse jedoch auch ihr endgültiges Scheitern samt ihrer Wiedereingliederung voraus. Ein zentrales Thema in Der eindimensionale Mensch ist die Neutralisierung von ästhetischen Herausforderungen. Marcuse war über die Popularisierung der Avantgarde besorgt – nicht weil er glaubte, dass die Demokratisierung von Kultur die Reinheit der Kunst korrumpieren würde, sondern weil das Absorbieren von Kunst in die verwalteten Räume des kapitalistischen Kom­merzes ihre Inkompatibilität mit der kapitalistischen Kultur übertünchen würde. Er hatte bereits gesehen, wie die kapitalistische Kultur den Gangster, den Beatnik oder den Vamp von »Bildern einer anderen Lebensweise« in »Launen oder Typen desselben Lebens«363 konvertiert hatte. Genau dies würde auch auch der Gegenkultur widerfahren, deren Mitglieder sich durchaus passend vorzugsweise als »Freaks« bezeichnet haben.

Auf jeden Fall erlaubt uns Marcuse einen Einblick, warum die sechziger Jahre unserer Gegenwart weiterhin keine Ruhe lassen. In den letzten Jahren wirkten die Sechziger wie tiefste Vergangenheit, die zugleich so exotisch und weit entfernt ist, dass wir uns nicht vorstellen können, darin zu leben – und wie ein Moment, der lebendiger als das Jetzt war: eine Zeit, in der die Menschen wirklich gelebt haben, in der Dinge wirklich geschehen sind. Aber diese Dekade sucht uns nicht heim, weil dort viele Faktoren auf eine Weise zusammengekommen sind, die wir nicht wiedererlangen oder wiederholen können. Sondern sie sucht uns heim, weil das Potenzial kontinuierlich unterdrückt werden muss, das sich in ihr materialisiert hat und das immer demokratischer wurde: die Aussicht auf ein Leben frei von Plackerei. Um zu erklären, warum wir eine Welt jenseits der Arbeit nicht erreicht haben, müssen wir einen Blick auf das ausschweifende soziale, politische und kulturelle Projekt werfen, dessen Ziel die Produktion von Knappheit ist. Der Kapitalismus ist ein Sys­tem, das reale Knappheit produziert, um künstliche Knappheit zu erzeugen. Die reale Knappheit – die Knappheit natürlicher Ressourcen – sucht das Kapital mittlerweile als das Reale heim, so dass seine Phantasie der unendlichen Ausweitung Überstunden machen muss, um es zu unterdrücken. Die künstliche Knappheit, die zuerst eine Knappheit der Zeit ist, ist notwendig – wie Marcuse sagt –, um uns von der immanenten Möglichkeit der Freiheit abzulenken. (Der Neoliberalismus musste selbstverständlich das Konzept der Freiheit kooptieren, um überhaupt triumphieren zu können. Die neoliberale Freiheit ist aber bewiesenermaßen keine Freiheit von der Arbeit, sondern eine Freiheit durch die Arbeit.)

 

Wie es Marcuse vorhergesehen hat, hat die Verfügbarkeit immer größerer Mengen von Konsumgütern und Gadgets im globalen Norden die Blick darauf verstellt, wie diese Güter immer stärker dazu beitragen, einen Mangel an Zeit zu produzieren. Aber selbst Marcuse konnte nicht vorhersehen, wie sehr das Kapital im 21. Jahrhundert in der Lage ist, Überarbeitung hervorzubringen und die Zeit außerhalb der Lohnarbeit zu administrieren. Vielleicht konnte nur ein sarkastischer Futurologe wie Philip K. Dick die banale Allgegenwärtigkeit geschäftlicher Kommunikation vorhersehen, die mittlerweile fast alle Bereiche unseres Bewusstseins und Alltags durchdringt.

»Die Vergangenheit ist soviel sicherer«, bemerkt eine Erzählerin in Margaret Atwoods dystopischer Satire Das Herz kommt zuletzt, »weil alles schon mal passiert ist. Es kann nicht mehr verändert werden; insofern gibt es auch nichts mehr zu befürchten.«364 Entgegen der Haltung von Atwoods Erzählerin ist die Vergangenheit jedoch nicht »bereits passiert«. Die Vergangenheit muss kontinuierlich neu erzählt werden und das politische Ziel reaktionärer Narrative ist es, die Möglichkeiten zu unterdrücken, die längst vergangenen Momenten innewohnen und jederzeit darauf warten, wieder zum Leben erweckt zu werden. Die Gegenkultur der sechziger Jahre ist mittlerweile untrennbar mit ihrer eigenen Simulation verwoben und die Reduktion dieses Jahrzehnts auf »ikonische« Bilder, zu »Klassikern« gewordener Musik und nostalgische Re­miniszenzen hat die realen Versprechungen neutralisiert, die damals explodiert sind. Die Aspekte der Gegenkultur, die zur Aneignung geeignet waren, wurden als Vorläufer eines »neuen Geistes des Kapitalismus« neuen Zwecken zugeführt, während diejenigen, die inkompatibel zu einer Welt der Überarbeitung waren, verteufelt wurden wie so viele unproduktive Kritzeleien, die in der widersprüchlichen Logik der Reaktion zugleich gefährlich und machtlos sind.

Die Unterwerfung der Gegenkultur hat die Skepsis und die Feindschaft gegenüber Marcuses Position bestätigt: Falls »die Gegenkultur in den Neoliberalismus geführt hat«, wäre es vielleicht besser gewesen, sie hätte nicht existiert. Aber tatsächlich ist das gegenteilige Argument überzeugender: Das Scheitern der Linken hat viel mit der Zurückweisung oder der Weigerung zu tun, sich mit den Träumereien auseinanderzusetzen, die die Gegenkultur ent­fesselt hat. Es war nicht unausweichlich, dass die Neue Rechte diese aufkommenden Strömungen für ihr Projekt der erzwungenen Individualisierung und Überarbeitung übernehmen und daran binden konnte.

Was aber, wenn die Gegenkultur nur ein holperiger Anfang war und nicht das Beste, auf das wir hoffen konnten? Was wenn der Erfolg des Neoliberalismus eben kein Hinweis auf die Unausweichlichkeit des Kapitalismus war, sondern ein Zeugnis des Ausmaßes der Bedrohung durch das Gespenst einer Gesellschaft, die frei sein könnte?

Im Geiste dieser Fragen soll dieses Buch in die 1960er und 1970er Jahre zurückkehren. Der Aufstieg des Kapitalistischen Realismus wäre nicht möglich gewesen ohne die Narrative, die uns reaktionäre Kräfte über diese Jahrzehnte erzählt haben. Zu diesen Momenten zurückzukehren, erlaubt es uns, weiterhin die Narrative zu dekonstruieren, die der Neoliberalismus um sie herum gesponnen hat. Und was noch wichtiger ist: Es wird die Konstruk­tion neuer Narrative möglich machen.

In vielerlei Hinsicht ist es wichtiger, die Siebziger neu zu denken als erneut die sechziger Jahre zu besuchen. Die Siebziger waren das Jahrzehnt, in dem der Neoliberalismus einen Aufstieg begann, den er retrospektiv als »unwiderstehlich« beschreiben sollte. Neuere Arbeiten über die 1970er – inklusive Jefferson Cowies Stayin’ Alive: The Last Days of the Working Class, Andy Becketts When the Lights Went Out and John Medhursts That Option No Longer Exists – haben herausgearbeitet, dass in diesem Jahrzehnt nicht primär die Möglichkeiten versi­ckerten, die in den sechziger Jahren explodiert waren. Die Siebziger waren eine Zeit der Kämpfe und des Übergangs, in der die Bedeutung und das Erbe des vorangegangenen Jahrzehnts eines der wichtigsten Schlachtfelder war. Manche der emanzipatorischen Tendenzen, die während der 1960er erstmals aufgetreten waren, intensivierten und vervielfältigten sich während der 1970er. »Für viele politisierte Briten«, schreibt Andy Beckett, »war dieses Jahrzehnt nicht der Kater nach den Sechzigern, sondern der Zeitpunkt, an dem die Sechziger tatsächlich losgingen.«365 Im erfolgreichen Bergarbeiterstreik von 1972 bildete sich eine Allianz zwischen den streikenden Bergarbeitern und Studierenden heraus, in der ähnliche Zusammenschlüsse aus dem Paris des Jahres 1968 nachhallten, da die Minenarbeiter den Campus der University of Essex in Colchester als ihre Basis in East Anglia nutzten.

Weil sie über die einfach gestrickte Geschichte, dass »die Sechziger zum Neoliberalismus geführt haben« hinausgehen, erlauben uns diese neuen Lesarten der 1970er, die Bravourintelligenz, die wilde Energie und die improvisatorische Imagination der neoliberalen Konterrevolution wahrzunehmen. Die Installierung des »kapitalistischen Realismus« war auf keinen Fall nur die simple Restauration eines vorherigen Stands der Dinge; der obligatorische Individualismus, der durch den Neoliberalismus angeordnet wurde, war eine neue Form des Individualismus: ein Individualismus, der gegen die verschiedenen Formen der Kollektivität definiert wurde, deren Lärm aus den 60er Jahren herüberschallte. Dieser neue Individualismus war so konstruiert, dass er diese kollektiven Formen sowohl zu übertreffen als auch vergessen zu machen versuchte. Diese unterschiedlichen Formen von Kollektivität wieder hervorzurufen, ist weniger ein Akt des Erinnerns als einer des Unvergessens: ein Gegen-Exorzismus des Gespensts einer Welt, die frei sein könnte. Der Name, den ich diesem Gespenst gegeben hatte, ist »Acid Kommunismus«. Dieser Begriff ist eine Provokation und ein Versprechen zugleich. Er ist auf gewisse Weise ein Witz, aber dieser dient einem ernsten Zweck. Er verweist auf etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt unvermeidlich wirkte, aber jetzt unmöglich erscheint: das Zusammenkommen von Klassenbewusstsein mit einer sozialistisch-feministischen Erhebung des Bewusstseins, ein »consciousness raising«, und einem psychedelischen Bewusstsein, die Fusion neuer sozialer Bewegungen mit einem kommunistischen Projekt – eine nie da gewesene Ästhetisierung des Alltagslebens.

»Acid Kommunismus« bezieht sich auf tatsächliche his­torische Entwicklungen und auf eine virtuelle Zusammenkunft, die es real so nie gegeben hat. Potenziale üben auch dann Einfluss aus, wenn sie nicht verwirklicht werden. Reale soziale Formationen sind durch die potenziellen Formationen geprägt, deren Verwirklichungen sie zu behindern versuchen. Der Eindruck einer »Welt, die frei sein könnte«, kann in den Strukturen einer kapitalistisch-realistischen Welt entdeckt werden, die Freiheit unmöglich macht.

Die verstorbene Kulturkritikerin Ellen Willis hat einmal gesagt, dass die Veränderungen, die die Gegenkultur sich vorgestellt hat, eine »soziale und psychische Revolution von schier unvorstellbarer Größe«366 erfordern würden. Es ist schwer, in unseren ernüchterten Zeiten das Selbstvertrauen der Gegenkultur zu reproduzieren, dass diese »soziale und psychische« Revolution nicht nur möglich sei, sondern sich bereits entfaltete. Aber wir müssen jetzt in eine Zeit zurückkehren, in der es schien, als ob die Aussicht auf universelle Befreiung unmittelbar bevorstand.

Nie wieder am Montagmorgen elend fühlen

Beginnen wir einem Moment, der umso evokativer ist, weil er scheinbar bescheiden daherkommt.

»Es war Juli 1966 und ich war gerade neun Jahre alt geworden. Wir sind in die Norfolk Broads in Urlaub gefahren und unsere Familie hatte gerade das wundervolle Holzschiff in Besitz genommen, das für die nächs­ten zwei Wochen unsere schwimmende Heimat sein würde. Es hieß ›The Constellation‹, und als mein Bruder und ich atemlos die Doppelbetten und die mit einem Vorhang verhangenen Bullaugen in der Kabine im Bug untersuchten, sorgte die Aussicht auf das, was vor uns lag, dafür, dass wir Lebenskraft versprühten wie die Strahlen der Sonne in einem Cartoon. […] Ich […] machte mich auf den Weg durch das Boot, um dort Position im engen Heck zu beziehen. Auf dem Weg nahm ich das pink-weiße Sanyo-Transistorradio meiner Schwester und stellte es an. ›River Deep, Mountain High‹ von Ike und Tina Turner lief gerade und eine Art verzückter Trance kam auf mich hernieder. Vom grenzenlosen blauen Himmel wanderte mein Blick auf das wirbelnde, spitz wie ein Kristall wirkende Kielwasser, das unser Schiff erzeugte, als wir vorwärts fuhren und in diesem Moment machte ›River Deep‹ Platz für meinen damaligen absoluten Lieblingssong: ›Bus Stop‹ von The Hollies. Als die Pseudo-Flamenco-Gitarre zu Beginn des Stücks den Motor der Constellation übertönte, starrte ich in die stürzenden Wellen und sagte laut zur mir selbst: ›Das passiert genau jetzt. DAS passiert jetzt.‹«367

Diese Schilderung stammt aus Going To Sea in a Sieve, den Memoiren des Autors und Radiomoderators Danny Baker. Es sollte selbstverständlich sein, dass dies nicht mehr als ein Schnappschuss, ein sonnengetränktes Bild einer Zeit ist, die mehr als genug Elend und Schrecken enthielt. Die sechziger Jahre waren nicht die Verwirklichung einer Utopie, ebenso wie die Chancen, die Baker erhielt, für die meisten Mitglieder der Arbeiterklasse nicht verfügbar waren. Gleichermaßen wäre es zu leicht, Bakers Träumerei als Nostalgie für eine verlorene Kindheit abzutun, als eine Spielart der »schönsten Erinnerungen«, die quasi jeder unabhängig von der historischen Periode oder dem sozialem Hintergrund haben kann.

Es liegt etwas sehr Spezifisches in diesem Moment, etwas, das bedeutet, dass er nur damals so geschehen konn­te. Wir können die Faktoren, die diesen Moment einzigartig machen, aufzählen: eine Vorstellung von existenzieller und sozialer Sicherheit, die es Arbeiterklassenfamilien erlaubt hat, überhaupt Urlaub zu machen; die Rolle, die neue Technologien wie Transistorradios dabei gespielt haben, bestimmte soziale Gruppen mit einem Außen zu verbinden und sie zu befähigen, den Luxus des Moments zu genießen, einem Moment, der übertrieben genügsam war; die Art, wie genuin neue Musik – Musik, die ein paar Monate, geschweige denn Jahre, zuvor nicht vorstellbar war – sich herausbilden konnte und die gesamte Szenerie intensiver macht, sie mit der Spur eines lockeren, aber nicht selbstgefälligen Optimismus versah, einer Vorstellung, dass die Welt besser wurde.

Diese Idee einer übertriebenen Genügsamkeit lässt sich auch in »Sunny Afternoon« von The Kinks entdecken, das Baker an jenem Tag ebenfalls auf dem Transistor-Radio gehört haben könnte, oder in »I’m only sleeping« von den Beatles, das einen Monat später erscheinen würde oder in späteren Veröffentlichungen wie »Lazy Sunday« von The Small Faces. Diese Stücke machten den Angsttraum der alltäglichen Schufterei von einem Standpunkt aus erfahrbar, der daneben, darüber oder jenseits dessen schwebte: die geschäftige Straße, die aus dem darüber liegenden Fenster eines Langschläfers beobachtet wird, dessen Bett ein sanft gleitendes Ruderboot geworden ist; der Nebel und Frost eines Montagmorgens, der einem sonnigen Sonntagnachmittag entsagt, der nicht enden müsste. Oder die Dringlichkeiten der Geschäftemacherei, die man vom gemachten Nest eines großen Vermögens aus mit Leichtigkeit verachten kann, nur dass dieses Nest jetzt von Träumern aus der Arbeiterklasse besetzt wird, die nie mehr eine Stechuhr bedienen werden.

 

»I’m only sleeping« (»Stay in bed, float upstream«) war der siamesische Zwilling zu Revolvers selbst-bewusst psychedelischem Stück »Tomorrow never knows« (»Switch off your mind, relax and float downstream«). Wohingegen die Texte von »Tomorrow never knows«, die mit minimalen Abweichungen aus Timothy Learys Psychedelische Erfahrungen. Ein Handbuch nach Weisungen des Tibetanischen Totenbuches adaptiert wurden, etwas allzu passgenau wirken, können uns die Musik und das Sounddesign an einen anderen Ort transportieren. »Es war wie nichts, was wir zuvor gehört hatten«, erinnert sich John Foxx an »Tomorrow Never Knows«, »aber irgendwie wirkte es sofort wiedererkennbar. Sicher, die Worte waren uns verdächtig, aber die Musik, der Sound: organische Elektrizität, desintegrierte Übertragungen, verloren gegangene Radiostationen, eine katholisch-buddhis­tische Messe aus einem Paralleluniversum. So hätte es sein sollen, bekifft zu sein – gewichtslos, zeitlos, Erleuchtung, sich mit gelassener Geschwindigkeit über hell erleuchtete, neue Landschaften bewegen. Das Stück kommunizierte, innovierte, infiltrierte, faszinierte und erhob uns – es war wie ein Fahrplan für die Zukunft«.368

Diese »hell erleuchteten neuen Landschaften« waren Welten jenseits der Arbeit, wo die trostlose Abwechslungslosigkeit der Schufterei Platz für driftende Erkundungen eines fremden Terrains machte. Wenn man diese Songs heute hört, beschreiben sie die Bedingungen ihrer Entstehung: den Zugriff auf einen anderen Modus von Zeit: Zeit, die eine tiefe Versenkung zuließ.

Diese Ablehnung von Arbeit ging mit der Ablehnung von Bewertungssystemen einher, die behauptet hatten, dass die Existenz eines Menschen lediglich durch eine bezahlte Anstellung validiert wird. Es war sozusagen die Verweigerung, sich einem bürgerlichen Blick unterzuordnen, der das Leben nach dem Maßstab geschäftlicher Erfolge gemessen hatte. »Ich komme nicht aus einem Milieu, in dem Menschen ›Karriere‹ gemacht haben«, schreibt Danny Baker. »Man ging zur Arbeit, man machte zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Jobs, aber es war ein ziemlicher Wust. Es hat uns und unseren Lebensweg nicht definiert – Gottseidank nicht.« Baker verließ seine Schule im Südosten Londons ohne Abschluss. Aber er drückt sich vorsichtig genug aus, seine pikareske Reise vom Plattenladenverkäufer zum Fanzine-Redakteur, Musikjournalisten und TV- und Radio-Moderator eben nicht als »Pech« oder als die Geschichte harter Arbeit zu erzählen. Er erzählt sie nicht als ein kleinbürgerliches Narrativ der individuellen Verbesserung, sondern als eine Belohnung für Leichtsinn. Dieser Leichtsinn entsprang dem Verständnis, dass man von der Arbeit keine Erfüllung erwarten dürfe und einem enormen Selbstvertrauen, das ihm gestattete, konsequent bürgerliche Imperative und Ängste zurückzuweisen. Die beiden Bände von Bakers Memoiren beschreiben die Faktoren sehr deutlich, die dieses Selbstvertrauen ansteigen ließen: die vergleichsweise stabile Arbeit seines Vaters in den aufblühenden Hafenvierteln, die wirkten, als würden sie auf ewig im Herzen des britischen Wirtschaftslebens sein, die Eingebundenheit seiner Familie in ein Arbeiterklassennetzwerk, das Löhne mit einem unerwarteten Geldsegen gleichsetzte; ihr Umzug in eine brandneue Sozialwohnung mit Garten. Sein eigener Werdegang hin zum Schreiben und Radio war nicht durch unternehmerische Ambitionen erleichtert, sondern durch eine gerade im Entstehen begriffene öffentliche Sphäre – zusammengesetzt aus Teilen des Fernsehens, Radios und Printmedien –, in der Sichtweisen aus der Arbeiterklasse geschätzt und bestätigt wurden. Diese Arbeiterklasse entsprach weder den Klischees des Kitchen-Sink- noch des sozialistischen Realismus, ebensowenig wurde sie von der herrschenden Klasse karikiert. Es war eine Arbeiterklasse, die ihren Platz nicht mehr kannte, die über sich hinausgegangen war. Selbst die alten Verschanzungen der Bourgeoisie waren nicht mehr sicher. In den Sechzigern war Ted Hughes zu einem der wichtigsten Dichter Großbritanniens geworden und Harold Pinter einer der spannendsten Dramatiker. Beide produzierten Arbeiten, in denen die Erfahrung der Arbeiterklasse auf herausfordernde und schwierige Art und Weise thematisiert wurde und per TV in die Wohnzimmer eines Massenpublikums gelangte.

Auf jeden Fall sind wir damals weit von dem Verschwinden der Klassen entfernt, das später von neoliberalen Ideologen verkündet wurde. Die Kompromisse, die Arbeit und Kapital in Gesellschaften wie den USA oder Großbritannien erreicht hatten, gingen mit der Akzeptanz einher, dass »Klasse« ein dauerhaftes Merkmal sozialer Organisation ist. Sie gingen davon aus, dass es unterschiedliche Klasseninteressen gab, die versöhnt werden mussten und dass jedes effektive – um nicht zu sagen, gerechte – Regieren der Gesellschaft die organisierte Arbeiterklasse miteinbeziehen müsste. Die Erwartungen der Arbeiterklasse waren hoch. Es waren schon einige Erfolge erzielt worden, aber sicher würde die Zukunft noch weitere bereit halten. Es war leicht, sich vorzustellen, dass die quälenden Waffenstillstände zwischen Kapital und Arbeit enden würden – und zwar nicht mit einem Wiederaufleben der Rechten, sondern mit der Umarmung einer sozialistischeren Politik, wenn auch nicht ganz dem »vollständigen Kommunismus«, von dem Nikita Chruschtschow noch dachte, dass er 1980 eingeführt sein würde. Schließlich – so wirkte es zumindest – war die Rechte auf dem Rückzug: In den USA war sie durch das langwierige und schreckliche Scheitern des Vietnam-Krieges diskreditiert und vielleicht sogar tödlich verletzt. Das »Establishment« war nicht mehr in der Lage, eine widerspruchslose Unterwerfung zu verlangen; es wirkte erschöpft, abgehoben, obsolet und als ob es erschlafft darauf wartete, von einigen der neuen oder allen kulturellen und politischen Wellen hinweggeschwemmt zu werden, die all die alten Sicherheiten unterspülten.

Wo diese neue Kultur nicht durch Menschen mit Arbeiterklassenhintergrund vorangebracht wurde, wurde sie von Klassenverrätern wie Pink Floyd angeführt: junge Menschen aus bürgerlichen Familien, die ihre eigene Klassenbestimmung ablehnten und sich mit den Menschen »unten« oder mit Außenseitern identifizierten. Sie wollten alles tun, außer in die Geschäfts- oder Bankenwelt zu gehen: Felder, deren darauffolgende Libidinisierung selbst die am stärksten erweiterten Geister der sechziger Jahre überrascht hätte.

Die Aspirationen der Arbeiterklasse waren nicht das gleiche wie eine Klassenmobilität, bei der die zweifelhafte Belohnung die graduelle und wiederwillige Akzeptanz durch die »Besseren« war. Stattdessen schien die neue Bohème auf die Eliminierung der Bourgeoisie und ihrer Werte hinzudeuten. Es war in der Tat die Überzeugung, dass diese Eliminierung kurz bevorstand, in der sich die Gegenkultur und die traditionelle revolutionäre Linke trafen, die sich ansonsten in so vielen anderen Aspekten voneinander unterschieden.

Ellen Willis hatte auf jeden Fall das Gefühl, dass die dominanten Formen linker Politik inkompatibel mit dem Verlangen und den Ambitionen waren, die durch Musik ausgelöst und umgewandelt wurden. Während die Musik, die sie hörte, von Freiheit sprach, wirkte der Sozialismus, als ginge es dort nur um Zentralisierung und die Kontrolle des Staates. Die Politik der Gegenkultur mochte gegen den Kapitalismus sein, dachte Willis, aber dies bedeutete nicht, dass sie alles sofort ablehnte, was im kapitalistischen Feld produziert wurde. Ihre »Polemik gegen linke Standardbegriffe über den fortgeschrittenen Kapitalismus« wies die Idee, »dass die Konsumenten­ökonomie uns zu Sklaven der Waren macht und es die Funktion der Massenmedien ist, unsere Phantasien zu manipulieren, so dass wir Zufriedenheit damit gleichsetzen, die Waren des Systems zu kaufen«369 als nur zur Hälfte wahr zurück. Massenkultur und besonders Musik war ein Feld der Auseinandersetzung anstatt das Herrschaftsgebiet des Kapitals. Die Beziehung zwischen ästhetischen Formen und Politik war instabil und unausgeformt – ästhetische Formen waren nicht einfach nur der »Ausdruck« einer immer schon existierenden kapitalistischen Realität, sie nahmen neue Möglichkeiten vorweg und pro­duzierten diese erst. Die Kommodifizierung war nicht der Punkt, an dem diese Spannung immer und unvermeidlich in Richtung des Kapitals aufgelöst wurde. Sondern die Ware selbst konnte das Mittel sein, mit dem rebellische Bewegungen ihre Inhalte propagieren: