Wagen 8

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Kapitel 6

10.25 Uhr. Dass die vordere Waggontür soeben von den Verbrechern verschlossen worden war, empfanden alle zehn Geiseln, die sich jetzt noch im Zug befanden, als eine weitere Bedrohung, auch wenn sich objektiv an ihrer Lage kaum etwas änderte. Der einzige Weg in die Freiheit, der jetzt noch blieb, führte an den Waffen ihrer Kidnapper vorbei. –

Marvin Mölter, Polizeibeamter beim LKA Magdeburg, hatte dieses Problem nicht; hier oben auf dem Stellwerk gab es zwar ebenfalls nur einen Weg nach draußen, doch der war vergleichsweise ungefährlich. Er haderte dafür mit einem anderen Ungemach. Er hatte schon immer darunter gelitten, rote Flecken in der Halsgegend zu bekommen, wenn ihm die Dinge zu entgleiten drohten. Bereits als Kind war das so. Sonst war seine Gesichtsfarbe eher blass. Menschen, die ihn kannten, konnten ihn deshalb gut einschätzen, zumal Marvins Hals auffallend lang war. Niemand freute sich über den Spitznamen Giraffe, schon gar nicht in einer Schule, dem Hort mitleidsloser Barbarei und Anarchie.

Dass er deutlich spürte, wie sein Hals jetzt wieder jene Maserung bekam, stand aber nicht im Zusammenhang mit der Zugentführung. Seine Frau hatte ihm vor fünf Sekunden eine Nachricht geschrieben. Sie war dabei, ihre Koffer zu packen. Wenn er heute Abend nach Hause kam, würde sie nicht mehr da sein. Ilka schaffte es sogar noch, ihm ein schlechtes Gewissen einzupflanzen, wenn sie selbst eindeutig die Ursache eines Konflikts war. Sie hatte sich gestern zu ihm an den Abendbrottisch gesetzt – was sie sonst nie tat, denn sie aß um diese Tageszeit nichts mehr, damit sie nicht fett würde – um ihm zu beichten, dass sie während ihrer sechswöchigen Kur dreimal mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Nein, das war das falsche Wort. Da sie es nicht im Bett getrieben hatten, bei Kerzenschein und Wein, sondern in einem Wäldchen unweit der Kurklinik auf dem Tisch eines Wanderrastplatzes, zwischen feuchtem Holz und oktobermüden Ameisen, hatte sie sich von ihm ficken lassen. Anders konnte man es nicht nennen. Von einem Fünfundzwanzigjährigen. Ilka war achtundvierzig, genau wie Marvin. Im umgekehrten Fall hätte sie ihn rausgeworfen, erklärte sie ihm, während er wie betäubt und ohne eine Erwiderung im Kopf zu haben zuhörte. Da er es nicht getan hatte, ging sie eben selbst. Welche Logik dahintersteckte, war ihm nicht klar. Bis jetzt hatte er geglaubt, mit ihr eine gute Ehe geführt zu haben.

Marvin war sich nicht sicher, ob sie wirklich von allein gekommen wäre, ihm davon zu erzählen. Denn er hatte sie ja quasi überführt. Als er nämlich am Nachmittag zuvor im Keller dabei gewesen war, die Buntwäsche zu sortieren, hatte er gleich zwei Kleider von ihr mit einem völlig verschmutzten Hinterteil gefunden. Solche Tische im Wald an den Rastplätzen für erschöpfte Wanderer waren im November eben selten sauber und trocken. Auf seine arglose Frage hatte sie zunächst einmal gar nichts erwidert und war dann an den Tisch gekommen, wo sie ihm, während er mit seinen Bratkartoffeln beschäftigt war, dann alles ins Gesicht erzählt hatte. Fast triumphierend. So, als hatte sie sagen wollen: Siehst du, ich werde auch noch von anderen Männern begehrt. Eines musste man Ilka lassen: Lügen waren nicht so ihre Sache.

Als ihn dieser Bärbaum unvermittelt ansprach, drückte er den Text ihrer Nachricht weg. Er müsse wissen, was sie jetzt tun sollen, brummelte der dicke Kerl. Und: »Wenn Ihnen das mal nicht auf die Füße fällt.« Für den Augenblick war Ilka wieder vergessen.

Bärbaum meinte die Entscheidung, die Marvin vor fünf Minuten getroffen hatte und die nun schwerwiegende Folgen haben konnte. Er hatte, als noch Zeit dafür gewesen wäre, beschlossen, den 89601 nicht evakuieren zu lassen. Eine solche Aktion war ihm einfach zu riskant. Er kannte die Gegend wie seine Westentasche, insofern hielt er sich auch für den idealen Mann für diesen Einsatz. Den Weg vom Gasthaus Drei Annen parallel zur Bahnlinie bis hinunter nach Steinerne Renne war er mit Ilka schon oft gewandert. Es gab reichlich Stellen an der Strecke, da konnte man einen Zug nicht so einfach verlassen. Der Bahndamm war an dem manchmal abschüssigen Hang oft steil aufgeschüttet und der parallel verlaufende Wanderweg lag bis zu zehn Meter höher. Für Leute, die nicht mehr gut zu Fuß waren, eine schier unüberwindliche Hürde. Und dann noch dieses Wetter.

Zunächst hatte ja alles gut ausgesehen. 8925 war in Hasserode aus noch unbekannten Gründen auf freier Strecke zum Stehen gekommen und die Männer vom SEK befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zu der Stelle. Vom Klinikum bis zum Bahnhof Hasserode waren es ungefähr drei Kilometer Wegstrecke. Das konnte man mit Sondersignal in wenigen Minuten schaffen. Vielleicht hatte es am Zug einen technischen Defekt gegeben oder die Entführer waren in einen Streit geraten. Möglicherweise hatten sie den Zug ja auch verlassen, um zu fliehen. Oder es war zu einer Kollision mit einem Pkw gekommen. Die unverantwortliche Fahrt per Funkfernsteuerung durch die belebte Innenstadt schloss dies nicht aus.

Nach Marvins Einschätzung hatte tatsächlich eine reelle Chance bestanden, dass es der 89601 rechtzeitig in den Bahnhof Steinerne Renne schaffen würde. Noch drei Minuten, vielleicht vier, hätten gereicht. Doch der gekaperte Zug hatte sich schneller wieder in Bewegung gesetzt, als Marvin gehofft hatte.

Und nun zeigte der Bildschirm auf dem Platz des Fahrdienstleiters, dass sich beide Züge gnadenlos aufeinander zubewegten. Die Kreuzungsstation lag ungefähr in der Mitte. In weniger als zwei Minuten würden beide Steinerne Renne erreichen. War der 89601 aus Nordhausen schneller, konnte er im Bahnhof den Gegenzug abwarten. Dann wäre die Katastrophe erst einmal abgewendet. Wenn der Zug mit den Gangstern jedoch die Station zuerst erreichte und nicht stoppte, kam es unweigerlich zur Kollision. 8925 reagierte nicht auf seine Notrufe.

Marvin hatte angeordnet, dass 89601 ununterbrochen Warnsignale abgab. Er wohnte am Stadtrand von Wernigerode und wusste, wie weit sie an dieser Stelle durch das Tal schallten. Sie waren bei günstigem Wind noch unten am Westerntorbahnhof zu hören. Dieser Bärbaum hatte ihm versichert, dass der Rangierer den heutigen Fahrplan kannte. Er musste wissen, dass 89601 noch fehlte.

»Was ist mit Ihrem Hals los?«, erkundigte sich der fette Mann. Marvin schüttelte die Frage ärgerlich ab und rollte mit seinem Drehstuhl einen Platz weiter. Er musste etwas tun und wollte wieder den Kontakt mit den Männern vom SEK aufnehmen.

Konzentriert lauschte er den Worten, die aus seinem Telefon drangen. Dabei war er aufgestanden und lief mit vorsichtigen Schritten, so als träte er auf morastigen Grund, wie ein Zootiger von Wand zu Wand des beengten Stellwerkraums. Er konnte nicht anders. Bei wichtigen Telefonaten musste er immer herumlaufen. Nur so kam er auf die besten Gedanken und traf die richtigen Entscheidungen. Dass die anderen Männer im Raum ihn verwundert mit den Augen verfolgten, störte ihn nicht.

Der Gruppenleiter, der das Team zum Bahnhof Steinerne Renne geführt hatte, hieß König. Robert König. Marvin, der seit knapp zwei Jahren dem LKA angehörte, kannte eigentlich jeden in ihrem Verein. Das SEK war Teil des Landeskriminalamts. Da begegnete man sich schon mal in der Kantine oder bei einer Besprechung. Doch König war neu beim SEK. Zurück aus Niedersachsen gekommen, hieß es. Der Mann war Anfang dreißig, der Stimme nach zu urteilen.

König berichtete ihm mit knappen Worten, dass sich seine Leute inzwischen dem Bahnhofsgelände näherten. Eine Minute noch, dann waren sie vor Ort. Er wollte wissen, auf welchem Gleis der gekaperte Zug einfahren würde.

Marvin gab die Frage an den schniefenden Mann vor den Bildschirmen weiter.

Der warf ein benutztes Taschentuch in den Papierkorb neben seinem Arbeitsplatz und drehte sich um. »Der Bahnhof ist mit automatischen Rückfallweichen ausgerüstet. Das heißt, dass alle Züge, die ihn durchfahren, immer das für sie rechte Gleis benutzen, egal aus welcher Richtung sie kommen. Unser Zug fährt also in das Gleis 1 am Berghang ein, der andere auf der Seite des Empfangsgebäudes.«

Marvin nickte und König hatte mitgehört. Dieser Fahrdienstleiter achtete darauf, sich klar auszudrücken. Missverständnisse konnten hier fatale Auswirkungen haben. Dass der Mann Fichte hieß, würde Marvin schmunzeln lassen, wäre die Situation nicht so kompliziert. Der Name passte perfekt in den Harz.

Steinerne Renne war für den geplanten Einsatz vergleichsweise günstig. Eine bessere Stelle würden sie jedenfalls nicht bekommen. Der Bahnhof lag in einer beträchtlichen Steigung und außerdem in einer S-Kurve. Beides kam ihnen entgegen. Denn der Zug musste hier langsam fahren. König und seine Männer wollten versuchen, möglichst ungesehen aufzuspringen, sich bis zum letzten Wagen vorzuarbeiten und eine passende Gelegenheit zu nutzen, um die Geiselnehmer zu überwältigen.

»Was ist mit seinem Mann am Bahnübergang?«, brummelte Bärbaum hinter ihm, obwohl dies eindeutig dessen Kompetenzen überschritt. Dennoch wiederholte Marvin die Frage. Er hätte sie sowieso gestellt.

Es war die Idee des Fahrdienstleiters gewesen, einen von den SEK-Leuten an diesem günstig gelegenen unbeschrankten Bahnübergang in der Nähe einer Batteriefabrik aufzustellen. Er sollte Kontakt mit dem Rangierer aufnehmen. An dieser Stelle war die letzte Gelegenheit dafür. Der Zug passierte dort einen kleinen Wanderparkplatz. Mit unbeteiligten Spaziergängern, die die Aktion gefährden könnten, würde heute kaum zu rechnen sein. Urbanek, der Rangierer, hätte freie Sicht auf die Stelle. Das war wichtig. Fichte war nämlich das alte Zs 5 eingefallen: »Ein Signalzeichen für den Lokführer, den Zug zu verzögern, um am danach folgenden und im Moment noch Halt zeigenden Signal nicht stoppen zu müssen«, erklärte er. »Eigentlich ein Blechschild. Es wurde früher vom Stellwerk einfach aus dem Fenster herausgehalten. Unter den Eisenbahnern heißt es schlicht L-Tafel. Ein großes L auf weißem Grund mit rotem Rand. Heutzutage wird dieses Signal kaum noch benutzt. Aber Urbanek wird es verstehen!«

 

Es ging möglicherweise um Sekunden. Wenn es dem Rangierer gelänge, die Geschwindigkeit des Zuges zu drosseln, könnte alles gutgehen. Vom Bahnübergang waren es noch etwa fünfhundert Meter, bis der Zug eine enge 180-Grad-Kurve durchfahren musste, ein kleines Wasserkraftwerk passierte und unmittelbar danach den Bahnhof erreichte. Die Strecke, die der talwärts fahrende 89601 noch vor sich hatte und die er nun mit maximaler Geschwindigkeit bewältigte, war mutmaßlich noch etwas länger, aber die Topografie verschaffte ihm einen kleinen Vorteil.

Königs Stimme aus dem Funkgerät war klar und deutlich zu verstehen. Er musste das nicht erst überprüfen. »Mein Mann steht bereit. Er sieht den Zug schon kommen. Noch dreihundert Meter.« König wollte noch etwas sagen, doch wenige Augenblicke später hörte Marvin einen Fluch von ihm. Irgendwas lief gerade schief.

Kapitel 7

10.26 Uhr. Dass jemand in einem Wald keinen abgebrochenen Ast findet, erscheint schwer vorstellbar. Doch genau dies war dem Polizeibeamten Peer Wittich vor wenigen Minuten widerfahren. Große Dinge scheitern manchmal an unscheinbaren Kleinigkeiten, über die es nicht gelohnt hatte, nachzudenken. So musste er tatsächlich zu seiner Waffe greifen und deren Lauf dafür benutzen, ein großes L in einem langgezogenen Viereck gut sichtbar in den Waldboden zu kratzen. –

Ernst Urbanek, derjenige, der dieses Zeichen sehen sollte, spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinabrann. Er ließ das Hemd am Körper kleben, obwohl es lausig kalt war und die Jahre als Heizer auf einer der alten Dampfloks, auf denen man auch bei solchem Wetter schnell ins Schwitzen kam, längst vorbei waren. Nur gelegentlich half er noch aus, wenn der Krankenstand wieder einmal so hoch war, dass Züge aus Personalmangel auszufallen drohten. Zeiten waren das!

Ernst hatte sich in seinem gesamten Arbeitsleben, das nun immerhin schon knapp vierzig Jahre andauerte, noch nicht einen einzigen Tag krankgemeldet. Darauf war er ein wenig stolz. Das konnte vermutlich niemand seiner Kollegen von sich behaupten. Die jüngeren schon gar nicht. Verweichlichte Innendienstler waren das. Er war sozusagen die fleischgewordene Zuverlässigkeit. Gebrechen machten einen großen Bogen um ihn. Als Kind war er einmal von einem Heuboden gefallen, mit dem Knie in die Zinke einer Mistforke, die irgendein Dussel einfach auf der Erde liegengelassen hatte. Aber eine richtige Krankheit war das ja auch nicht gewesen.

Ganz anders seine ehemalige Frau. Elke hatte sich oft nicht wohlgefühlt. Es war ihr immer unangenehm gewesen, ihm zur Last zu fallen, wenn er Medikamente besorgen sollte, ihr einen Tee gekocht oder sie zum Arzt begleitet hatte. Dann war sie ihm mit einundfünfzig an Krebs weggestorben. Im Krankenhaus, als er gerade auf Schicht gewesen war. Bis heute hatte er sich das nicht verziehen. Nach langer schwerer Krankheit, stand damals in der schwarz umrandeten Anzeige, die ihre beiden Kinder in der Zeitung drucken ließen und die er sich ausgeschnitten hatte. Acht Jahre war das jetzt her.

In letzter Zeit dachte er nicht mehr so oft an sie. Er würde sie ja da oben wiedersehen. Auch wenn sie darauf noch ein bisschen warten musste. Sie hatte irgendwie immer auf ihn gewartet. Mit dem Mittagessen, mit der Wurzelbürste, um ihm unter der Dusche den Kohlenstaub und das Maschinenöl von Rücken und Hals zu schrubben, mit der Krawatte in der Hand, wenn sie ihn wieder einmal rumgekriegt hatte, mit ihr ins Theater zu gehen. Das fand er langweilig.

Manchmal meldete sich deshalb sein schlechtes Gewissen. Seit Bärbel bei ihm wohnte. Bärbel war fünf Jahre jünger als er, führte ein eigenes kleines Blumengeschäft in einem Edeka-Supermarkt und hatte ihm schon gefallen, als Elke noch lebte. Trotzdem musste sie erst sechs Jahre tot sein, bis er sich getraut hatte, Bärbel anzusprechen. Es hatte ja auch an Gelegenheiten gemangelt. Ernst würde sich nicht unbedingt als Blumenfreund bezeichnen, was sollte ihn also in ihr Geschäft führen? Jetzt hatte sie ihre eigene Wohnung aufgegeben, ihm ein zweites Leben geschenkt, das intensiv nach Pflanzerde roch. Es störte ihn nicht. Sie fasste ihm gern in sein grau gewordenes, lockiges Haar und griff nach seinen Ohren, während er in der Küche das Mittagessen kochte.

Doch dafür war jetzt kein Gedanke übrig. Ernst stand noch immer auf der Plattform von Wagen 8, auf seinem Bauch das Steuerpult der 199 861. Die Lok zog außerplanmäßig und entgegen jeder Vorschrift, jedoch seinen Befehlen gehorchend, den von zwei durchgeknallten Kriminellen entführten 8925 in Richtung Drei Annen Hohne. Er konnte ihre Dieselfahne im Fahrtwind riechen. Ab und zu musste er nach links schauen und einen schmalen Blick auf einen der beiden Kerle werfen, um sich zu vergewissern, dass sich dieses surreale und absurde Schauspiel nicht nur in seinem Kopf abspielte, so als ob er ein paar Bierchen über den Durst getrunken hätte. Nein, diese Verrückten mit der Knarre in der Hand, den Finger ständig am Abzug, existierten wirklich. Nur was sie vorhatten, verstand er nicht. Wer entführte denn eine Schmalspurbahn?

Vorhin, als es den beiden Kerlen mit ein paar Griffen und Drohungen gelungen war, ihn zu überwältigen, hatte er kurz die Orientierung verloren. Das war ihm noch immer peinlich. Und außerdem ärgerte es ihn. Er war einfach nicht darauf vorbereitet gewesen. So etwas verschaffte jedem Gegner einen unschätzbaren Vorteil. Dabei war er doch in der Lage, sich zu wehren, auch gegen zwei. Für ihn waren das hohle Hosen, unsicher und schlecht vorbereitet. Mit denen wäre er schon fertig geworden – hätte er im Vorfeld nur den leisesten Verdacht gehabt. Er hatte sich überrumpeln lassen. Ernst konnte mit dem Gefühl, nicht mehr Herr über das eigene Handeln und jemand anderem vollkommen ausgeliefert zu sein, nicht besonders gut umgehen.

Am liebsten wäre er hingegangen, um ihnen das Steuerpult über die Rübe zu knallen und sie anschließend mit einem kräftigen Tritt in den Hintern von der Plattform zu befördern. Aber er hatte genug damit zu tun, Lok und Fahrweg im Auge zu behalten. Es war schwierig hier. Die vielen Bäume, die nun an der Strecke standen, reckten ihre Arme bis dicht an das Gleis heran. Ernst musste sich manchmal weit über den Sicherheitsbügel strecken, um etwas zu erkennen.

Dennoch war der Rangierer für den Augenblick zumindest erst einmal erleichtert. Die Höllenfahrt durch die engen Straßen der Stadt hatten sie ohne Blessuren überstanden. Nun, da sie den Wald erreicht hatten, war die Gefahr eines Unfalls mit Straßenfahrzeugen oder Menschen deutlich geringer geworden.

Wäre da nicht der 89601. Seit einiger Zeit waren nämlich in kurzen Abständen die Warnsignale des Gegenzuges zu vernehmen, die bedrohlich durch das Tal rollten. Sein Kollege am Regler war also über die Situation informiert. Die ständigen Pfeifzeichen konnten nur bedeuten, dass der Sonderzug aus Nordhausen noch immer in Bewegung war. Also sollte er Steinerne Renne früher erreichen und dort die Kreuzung abwarten. So musste es sein.

Ernst hatte angestrengt überlegt, was er tun konnte, um seinen Zug zu stoppen, ohne sich oder die Fahrgäste in Gefahr zu bringen. Nur, um ganz sicherzugehen, dass 89601 genügend Zeit blieb. Noch war ihm nichts eingefallen. Die Kontaktaufnahme zu der Polizeibeamtin, die er in einem günstigen Moment unter den Reisenden im Waggon erkannt hatte, schien ihm aussichtslos. Nichts deutete darauf hin, dass sie vorhatte, die beiden Verbrecher zu überwältigen. Sie saß unauffällig auf ihrem Platz. Ernst sah sie sowieso nur in den kurzen Momenten, wenn er, um die Strecke im Blick zu behalten, von der einen Seite des Wagens zur anderen wechseln musste. Eine Chance, ihr zu zeigen, dass er wusste, wer sie war, sah er nicht. Einen Sinn darin allerdings auch nicht.

Das Einfachste schien, wenn er in einem günstigen Moment einfach abspränge. Den Sicherheitsbügel hochreißen, zur Fahrtrichtung springen und sich dabei zur Seite hin abrollen, um sich nicht die Beine zu brechen. Das Sicherheitssystem der Lok würde wenige Zehntelsekunden später anspringen und eine Vollbremsung veranlassen. Der Gegenzug hätte alle Zeit der Welt, im Bahnhof zum Stehen zu kommen.

Doch das wagte er nicht. Es war nicht das Alter. Auch wenn er auf die Sechzig zuging, so einen Sprung traute er sich noch zu. Schließlich war er Rangierer. Er wusste, wie sich so etwas anfühlte. Er hatte vor etwas anderem Angst. Der Schwarzkopp, den sein Kumpan Ulrich nannte, behielt ihn ständig im Auge. »Versuchst du es, bist du tot«, hatte er mit ruhigen Worten gedroht, »verlass dich drauf, ich kann hiermit umgehen.« Und er grüßte kalt lächelnd mit seiner Waffe. Ernst traute ihm zu, dass er schoss. Und dann wäre er schneller wieder bei seiner Elke, als ihm lieb war. Der mit der Brille, der würde es nicht tun, das war ein Waschlappen, aber der Schwarzhaarige, der bestimmt. Und er selbst würde wahrscheinlich nicht schnell genug aus der Schusslinie kommen. Denn wenn das Steuerpaneel merkte, dass er gestürzt war, stoppte es den Zug ebenfalls automatisch mit einer Notbremsung. Noch nicht weit genug entfernt, um der Kugel zu entkommen. Vor dem Tod, da hatte jeder Respekt.

Schwarzkopp, der ihn wieder scharf beobachtete, schien seine Gedanken erraten zu haben. »Was passiert, wenn du ohnmächtig wirst oder tot umfällst?«, hatte er plötzlich ganz freundlich gefragt.

»Der Sender der Funkfernsteuerung hat eine Wachsamkeitsfunktion. Wenn sich das Gerät zu viel neigt, stoppt der Zug.« Die Kasko-Versicherung des Ernst Urbanek.

»Wirklich?« Schwarzkopp schien ihm nicht glauben zu wollen. Als ob er so etwas nur so dahersagen würde.

»Wollen wir es mal probieren? Jetzt gleich?«, hatte Ernst da provokant zurückgefragt und damit gewonnen. Der andere hatte seine Ablehnung dadurch ausgedrückt, dass er nicht mehr antwortete.

Abermals meldete sich der Fahrdienstleiter über Funk, wollte mit 8925 sprechen. Schwarzkopp reichte es. »Ausschalten!«, befahl er. Ernsts Versuch, dagegen anzureden, unterband er mit einer eindeutigen Handbewegung. Damit waren sie möglicherweise von lebenswichtigen Informationen aus der Zentrale abgeschnitten.

Der Mann stand jetzt wieder direkt neben ihm, nur einen Meter entfernt. Ernst hatte nichts, womit er ihn überwältigen konnte. Er müsste ihm die Waffe aus der Hand schlagen. Wenn die aus dem Spiel wäre, bekäme er eine Chance. Es musste schnell gehen. Dann würde er es schon schaffen. Aber der Schwarzkopp passte auf wie ein Luchs. Er schien Probleme mit seinem Bein zu haben. Ab und zu musste er sich hinhocken auf der engen Plattform. Dann belauerte er Ernst noch schärfer, witterte in jeder seiner Bewegungen einen möglichen Angriff.

Aber nun beobachtete er schweigend, jedoch mit Adleraugen die Strecke. Er schien nachzudenken. Immer wieder pendelte er von der linken Seite des Zuges zur rechten. Ernst wusste, was ihn beschäftigte. Die Leute vom SEK waren vor zwei Minuten an ihnen vorbeigefahren. Man konnte die Straße zwischen den Bäumen geradeso erkennen. Zwei schwarze Kleinbusse mit hoher Geschwindigkeit. Also möglicherweise zwölf Mann. Sie dürften ihnen irgendwo auflauern, getarnt von Buschwerk und Laub. Wahrscheinlich im Bahnhof Steinerne Renne. Da konnte man einen Zug leicht übernehmen. Vielleicht schossen sie aber auch einfach los. Die hatten doch bestimmt Scharfschützen dabei. Schließlich war das hier eine Ausnahmesituation. Solche Spezialisten trafen das Auge einer Fliege auf einen Kilometer. Bloß gut, dass er noch seine Arbeitsklamotten trug. Der neonrote Overall rettete ihm jetzt vielleicht das Leben. Den konnte kein Scharfschütze übersehen.

Aber dieser Ulrich war nicht dumm. Er vermied es, dass er und sein Kumpel gleichzeitig auf der Plattform waren und damit ein leichtes Ziel für die Scharfschützen bildeten. Auf diese Weise hatten sie eine Chance.

Nun ließ auch Ernst wieder das Typhon der Lok ertönen. Laut hallte das Rufzeichen durch den Talkessel. Sie näherten sich dem nächsten Bahnübergang, kurz vor der Batteriefabrik. Hier kreuzte der Weg zum Bahnhof das Gleis.

Das Wort POLIZEI erkannte er zuerst, denn das war auch noch bei extrem schlechten Lichtverhältnissen lesbar. Der Mann, auf dessen Brust es prangte, stand mit einer Art Kampfuniform am Wanderparkplatz und gestikulierte. Ernst kniff die Augen etwas zusammen. Es schien, als deutete er auf den Boden. Als der Zug herankam, ging der Mann in Deckung. Erst spät begriff Ernst, was der Polizist meinte. Bei dem trüben Wetter war die Sicht unter den Bäumen nicht scharf genug, um schon von Weitem alle Einzelheiten zu erkennen. Doch jetzt, da sie nahe genug heran waren, hatte der Rangierer keinen Zweifel. In den Waldboden hatte jemand ein riesiges Symbol geritzt, ein Zeichen. Die Linien bildeten die Form des alten Sondersignals Zs 5: ein großes L in einem auf der Spitze stehenden Rechteck. Geschwindigkeit drosseln! 89601 ist noch nicht im Bahnhof!

 

Ernst ließ einen kurzen Achtungspfiff ertönen und gab damit zu erkennen, dass er verstanden hatte. Doch auch dem Kerl mit der Waffe war aufgefallen, dass seine Geisel etwas bemerkt hatte. Was los sei, wollte er wissen. Der Rangierer deutete auf das soeben an ihnen vorübergezogene Zeichen auf dem Waldboden. »Ein Verzögerungsanzeiger. Der Gegenzug ist noch nicht da. Wenn wir die Geschwindigkeit halten und im Bahnhof nicht stoppen, kommt es zur Katastrophe.«

Der Schwarzkopp verzog den Mund. »Die Striche da? Hältst du mich für blöde?«

»Sie konnten uns über Funk nicht erreichen. Das war die letzte Möglichkeit, uns zu warnen!«

Er schaute Ernst durchdringend an. »Das riecht doch nach einer Falle …«

»Hören Sie: Wenn wir jetzt nicht drosseln, können wir nachher nur noch eine Vollbremsung einleiten! Was ist Ihnen lieber?«

Die beständigen, jedoch langsam lauter werdenden Pfeifsignale aus dem Wald schienen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Der Kidnapper änderte tatsächlich seine Meinung. »Fahr etwas langsamer.«

Ernst atmete auf. »Spät kommt sie, die Einsicht. Aber sie kommt.« Sofort drosselte er den Dieselmotor. 20 km/h. Dennoch würde es knapp werden. Viel zu knapp, befürchtete er.

»Ulrich! Sieh mal nach links! Sieh doch!« Die Brille hatte die Waggontür aufgerissen und deutete mit dem Arm gestikulierend die Waldstraße entlang.

Der Schwarzkopp folgte seinem Blick. Und grinste.