Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

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Bei Ebbe geht das Meer nach Hause
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Marie Wendland

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause

Roman

Impressum

Texte: © Copyright by Marie Wendland

Umschlag: © Copyright by Marie Wendland

Verlag: Marie Wendland

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

marie.wendland@autorenservices.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Der Text enthält Verweise auf folgende Werke:

Lucy Maud Montgomery, Anne auf Green Gables, 2. Auflage, Arena Taschenbuch 2001

Lucy Maud Montgomery, Anne auf Green Gables – Auf dem Weg ins Glück, 7. Auflage, Arena Taschenbuch 2006

Lucy Maud Montgomery, Anne auf Green Gables – Schicksalhafte Jahre, 4. Auflage, Arena Taschenbuch 2002

Lynne Gessner, Das Mädchen aus dem Indianerladen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1976

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, 7. Auflage, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1999

Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen, Carlsen Verlag, Hamburg 1998

Über die Autorin

Marie Wendland ist das Pseudonym einer Autorin aus dem schleswig-holsteinischen Lauenburg. Sie liebt das Wasser; die Elbe, an der ihre Heimatstadt liegt, genauso wie die nordischen Meere, sodass es sie so häufig wie möglich an die Nord- oder Ostsee zieht. Durch ihre Freude am Lesen ist sie zum Schreiben gekommen. Bei Ebbe geht das Meer nach Hause ist ihr erster Roman.

Für Oma, die das Lesen liebt

Prolog
Wangerooge, Oktober 1981

„Nein!“

Damit war es heraus und das Wort schien bedrohlich in der eingetretenen Stille nachzuhallen. Aber Klara hatte keine Zeit, sich vor sich selbst zu erschrecken. Das war nur der erste Schritt gewesen, jetzt musste es irgendwie weitergehen. Darüber hatte sie sich nur leider vorher keine Gedanken gemacht. Klara wusste nur, dass sie das hier nicht mehr wollte, dass sie nie mehr hinterherlaufen wollte, wenn sie es doch besser wusste. Also drehte sie sich langsam um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie zögerte nicht und sie rannte nicht, auch wenn sie den Impuls dazu unterdrücken musste. Nein, Klara ging einfach, ein Schritt nach dem anderen, die Straße hinunter, aus dem Dorf heraus, sie ging immer weiter. Dabei liefen die letzten zwei Tage, die in der vergangenen halben Stunde ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatten, wie ein Film in ihrem Kopf ab.

~

Gestern waren sie in Hamburg zu dieser Klassenreise auf die kleine Nordseeinsel aufgebrochen. Radfahren, Volleyball und eine Wattwanderung standen auf dem Programm. Dumm nur, dass einige der achtundzwanzig Siebtklässler schon viel zu erwachsen für diesen Kinderkram waren. Oder gerade noch nicht erwachsen genug, wie Klara sich im Stillen dachte. Gesagt hätte sie so etwas natürlich nie.

Das mulmige Gefühl im Magen, das sie schon Monate vor der Abreise begleitet hatte, bestätigte sich schon während der dreistündigen Busfahrt. Vorne neben dem Fahrer stand gerade Frau Blum, ihre Lehrerin für Deutsch und Kunst, mit einem Mikrofon in der Hand wie ein Reiseleiter und berichtete über ihr Ziel: Wangerooge, die östlichste der sieben bewohnten ostfriesischen Inseln, flächenmäßig das zweitkleinste dieser Eilande, 1804 zum Seebad ernannt. Klara hatte die meisten dieser Informationen bereits zu Hause in der Bibliothek nachgelesen. Zum einen wusste sie gerne, bevor sie einen Bus bestieg, wo sie ankommen würde, zum anderen war sie lieber vorbereitet, sollte sie im Unterricht danach gefragt werden. Ja, so war Klara nun einmal.

Trotzdem hörte sie Frau Blum geduldig zu, als jemand in der Sitzreihe neben ihr ihren Namen zischte. Unwillig drehte sie den Kopf: Bettina Waldschleger. Bettina gehörte zu diesen selbst ernannten Erwachsenen in der Klasse, die den erbärmlichen Zustand der Kindheit wie ein aus der Mode geratenes Shirt abgestreift hatten und somit den Übrigen natürlich haushoch überlegen waren. Zumindest in Bezug auf ihre schon sehr beachtliche Oberweite mochte das richtig sein. Klara dagegen war noch platt wie ein Brett, dafür einige Zentimeter größer als die meisten anderen Mädchen. Wie auch immer, Bettina hatte der gesamten Klasse klargemacht, wie schrecklich klug und schrecklich hübsch sie war. Dabei fand Klara sie insgeheim einfach nur schrecklich.

Jetzt säuselte Bettina süßlich lächelnd, aber mit einem teuflischen Funkeln in den Augen: „Selbst du bist eingeladen, Klara Strebermeier. Du wirst mich doch nicht enttäuschen und ablehnen, nicht wahr?“ Dabei drehte sie ein zusammengefaltetes Stück Papier zwischen den Fingern. Spelmeier, Strebermeier. Klara fiel zum gefühlt eintausendsten Mal auf, wie schlecht dieses Wortspiel mit ihrem Nachnamen doch war. Trotzdem versetzte es ihr, auch wie jedes Mal, einen Stich. Sie wollte nach dem Zettel greifen, doch Bettina zog ihn so weit auf ihre Seite zurück, dass Klara sich mit dem ganzen Oberkörper über den Gang beugen musste, um ihn zu erreichen. Natürlich bemerkte sie dabei den missbilligenden Blick von Frau Blum und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ja, so war Klara nun einmal.

Heute Abend in unserem Zimmer. Nach der Bettenkontrolle. Wer etwas Essbares hat, bringt es mit. Mehr stand da nicht auf dem unschuldig weißen Zettel, trotzdem reichte es, um bei Klara Übelkeit und Magenkrämpfe auszulösen. Warum sollte sie mitten in der Nacht in einem fremden Zimmer hocken? Sie wollte gar nicht wissen, was Bettina und ihr Gefolge da vorhatten. Außerdem wollte sie am nächsten Morgen nicht völlig übernächtigt sein. Außerdem… außerdem war das ganz einfach gegen die Regeln und damit tat man in Klaras Welt so etwas nicht. Bestimmt würden sie schon erwischt, wenn sie in ihren Nachthemden über die Flure huschten, wie peinlich.

Diese letzte Befürchtung würde sich allerdings nicht bewahrheiten, wie Klara in der Jugendherberge angekommen feststellte. Ob das eine Erleichterung war, wusste sie jedoch nicht, denn der nächtliche Weg in ein fremdes Zimmer blieb ihr nur deswegen erspart, da das hinterhältige Los sie in ein Zimmer mit Bettina und Co verfrachtet hatte. Da konnten die fünf Tage Klassenfahrt lang werden.

Im Endeffekt überstand Klara die nächtliche Zusammenkunft einschließlich Flaschendrehen genauso wie das Frühstück am darauffolgenden Morgen. Ja, auch das muss erwähnt werden, denn bei einer Bettina in der Klasse wurde selbst das Frühstück zum Spießrutenlauf. Zumindest wenn man wie Klara zwar noch keine Brüste, dafür aber die gleiche Menge Fettgewebe an anderen Stellen verteilt hatte. Danach brach die ganze Gesellschaft unter der Leitung von Frau Blum ins Inseldorf auf. Von der Jugendherberge aus, die im alten Westturm in den Dünen untergebracht war, bedeutete das eine kleine Wanderung. Dort angekommen folgte ein Besuch im Leuchtturmmuseum, bevor Frau Blum ihre Schäfchen in kleine Gruppen aufteilte, die das Dorf auf eigene Faust erkunden durften. Pünktlich um 15:00 Uhr würden alle wieder zum gemeinsamen Kuchenessen in der Jugendherberge erwartet.

Es versteht sich schon fast von selbst, dass Klara sich erneut in einer Gruppe mit Bettina wiederfand. Zum Glück war wenigstens auch Gaby mit von der Partie, die zu Hause in der gleichen Straße wohnte und somit seit der ersten Klasse Klaras Schulwegfreundin war. Mit drei weiteren Mädchen trabten sie daraufhin einer gelangweilten Bettina hinterher, die dem verträumten Inseldorf erwartungsgemäß wenig abgewinnen konnte. Wenn sie doch bloß die neueste Bravo hätten, um sich abzulenken… Leider hatte der Kiosk, den sie in der kleinen Einkaufsstraße schnell gefunden hatte, inzwischen Mittagspause. Bis 15:00 Uhr. Vollkommen logisch also, dass sie nicht um 15:00 Uhr im Westturm Kuchen essen würden, wenn sie jetzt warteten, bis der Laden wieder öffnete. Für Bettina war das jedoch weniger logisch oder besser gesagt war es ihr völlig egal. Wen interessierte schon die Anweisung der Lehrerin? Klara interessierte sich dafür, sehr sogar. Es würde fürchterlichen Ärger geben, wenn sie nicht pünktlich zurück wären. Außerdem, und das war vielleicht sogar noch schlimmer, würde Frau Blum sich sorgen, dass ihnen etwas passiert war.

„Wir sollten lieber zurückgehen“, begann Klara zaghaft, doch Bettina brachte sie mit einem verächtlichen Schnauben zum Schweigen.

„Gaby, überleg doch mal. Lass uns einfach gehen“, wandte sie sich noch einmal leise an die Freundin. Gaby schwankte sichtlich zwischen ihrer Freundin und dem, was sie insgeheim auch für richtig hielt, und Bettina und ihrem Gefolge, das endlich bereit schien, sie aufzunehmen.

„Bitte, Gaby!“ Klaras strahlend blaue Augen hatten einen flehenden Ausdruck angenommen und schimmerten bereits feucht. Aber Gaby schüttelte nur entschuldigend den Kopf und ließ sich neben die anderen auf den Kantstein sinken.

Klara fühlte sich plötzlich, als würde sie im stürmischen Meer ertrinken. In ihrem Kopf hämmerte es und ihre Beine waren wie gelähmt. So viel zum Thema Freundschaft!

„Siehst du“, triumphierte Bettina hämisch, „niemand interessiert sich für den ollen Kuchen und die olle Blum. Wir hängen hier lieber noch ab.“

Und dann auf einmal war es heraus: „Nein!“ Klara würde hier nicht noch weiter abhängen! Plötzlich funktionierten auch ihre Beine wieder und sie drehte sich um und ging.

~

Sie hatte noch nicht ganz realisiert, was sie da eben getan hatte (sich Bettina Waldschleger widersetzt!), als sie merkte, wie weit sie schon gegangen war. Hinter ihr lagen das Dorf und ein kleines Wäldchen, vor ihr erstreckte sich die Heidelandschaft. Zu ihrer Linken konnte sie den Deich erkennen, auf dem sie vorhin ins Dorf gelaufen waren, aber direkt vor ihr erhob sich der Westturm zwischen den Dünen. Sie konnte also genauso gut diesen Weg weitergehen, um dorthin zurückzukommen. Rechts von sich hörte sie ein rhythmisches Rauschen und wusste, dass dort hinter der hohen Dünenkette das offene Meer liegen musste. Unglaublich, dass sie schon seit fast vierundzwanzig Stunden hier war, ohne den Strand gesehen zu haben. Ein Weg aus Holzplanken führte wenige Meter vor ihr über die Düne und nach einem prüfenden Blick auf die Uhr folgte sie diesem.

 

Oben angekommen eröffnete sich ihr ein atemberaubender Blick auf den breiten Strand, der durch eine Reihe weißer Schaumkronen vom tiefblauen Meer getrennt war. Bis zum Horizont war da nichts außer diesem Blau und darüber der ebenfalls strahlend blaue Himmel. Überwältigt von dieser Weite hockte Klara sich auf die Planken, die von der Sonne ganz warm waren. Sie musste den Kopf nur ein kleines Stück drehen, dann konnte sie das Meer, die Insel und das Watt auf der anderen Seite des Deichs mit einem Blick erfassen.

Klara versuchte die Gedanken, die in ihrem Kopf verrücktspielten, zu ordnen, aber es wollte nicht gelingen. Hier oben schien alles ganz klar und einfach. Hier das Wasser, dort das Land, klar voneinander abgegrenzt. Wenn doch alles so einfach wäre. Sie richtete den Blick wieder auf den Horizont und atmete tief die salzige Luft ein. Der frische Wind kühlte ihr erhitztes Gesicht und wirbelte ihre honigblonden Haare herum. Mit einem Mal löste sich der zähe Nebel in ihrem Kopf, der es ihr unmöglich gemacht hatte zu denken, und sie wurde ganz ruhig. Es war so einfach. Hier das Wasser, dort das Land, hier richtig, dort falsch. Sie wusste, was für sie richtig war und sie hatte es schon immer gewusst. Also würde sie ab jetzt auch danach handeln. Aber was würden die anderen sagen? Wie würden sie sie behandeln? In diesem Moment machte ihr das keine Angst mehr. Jahrelang hatte sie versucht, sich anzupassen, nicht aufzufallen, und was hatte es ihr genützt? Gar nichts. Sie war trotzdem nur Klara Strebermeier und eine echte Freundin hatte es ihr auch nicht eingebracht. Der Gedanke an Gaby, wie sie sich in Bettinas Gefolge einreihte, tat immer noch weh. Also Schluss mit all dem. Ab heute gab es nur noch Klara Spelmeier und die stand zu sich selbst.

Kapitel 1
Edinburgh, April 2018

„Vielen Dank, hier Ihre Tickets. Möchten Sie noch einen Audio-Guide dazu buchen?“, fragte die Dame hinter der Glasscheibe des Schalters möglichst freundlich und in möglichst akzentfreiem Englisch. Tagesformabhängig fiel ihr das eine oder das andere schwerer.

Heute drängelten sich mal wieder besonders viele Touristen aus aller Welt auf dem Vorplatz des Edinburgh Castles. Alle waren vorwiegend kurz angebunden und gehetzt, um möglichst schnell dem kalten Nieselregen zu entkommen, der heute die ganze Stadt einhüllte. Da war eine Schlossbesichtigung doch die ideale Beschäftigung, um diesen Regentag sinnvoll zu nutzen. Besonders wenn man Athlet im touristischen Triathlon war und eine Stadt in kultureller, kulinarischer und architektonischer Sicht in unter einem Wochenende zu bezwingen versuchte. Eigentlich eine Verschwendung der 17 Pfund pro Ticket, dachte die Dame hinter der Glasscheibe, während sie kurz dem amerikanischen Pärchen nachblickte, das sich eilig in das erstbeste Gebäude des Schlosskomplexes schob. War doch die Aussicht vom Edinburgh Castle, das auf seinem Felsen über der Stadt thronte, mindestens ebenso viel wert, wie einen kurzen Blick auf die hier lagernden schottischen Kronjuwelen zu erhaschen. Heute war diese Aussicht aber leider nur zu erahnen. Hinter dem Nebelschleier hätte sich ebenso gut der brasilianische Dschungel, die sibirische Tundra oder ein galaktisches Portal in ein anderes Sonnensystem verbergen können. Das wäre doch mal eine echte Attraktion, überlegte unsere freundliche Ticketverkäuferin und wandte sich den nächsten Kunden zu, Koreaner ihrem geschulten Blick nach.

Im Hintergrund strömten ebenso viele Menschen schon wieder aus dem Schloss heraus, wie immer noch in einer kompliziert gewundenen Schlange auf Einlass warteten. Wie Wasser in einem Kanal strömten sie die Royal Mile, die touristische Schlagader der Old Town hinab, die von verrußten, mittelalterlichen Häusern eng umschlossen wurde. Wer den Besuch im Castle schon abgehakt hatte, konnte jetzt in Souvenirshops mit einer schier endlosen Auswahl an Schals mit Schottenkaro oder bei Bier und Burger in einem gemütlichen Pub typisch schottische Lebensart tanken. Manche wagten sich aber auch aus dem Schutz der Vordächer heraus und durch die Princes Gardens, die in dem natürlichen Graben, der die Old von der New Town trennte, angelegt waren. Auf der anderen Seite angekommen wurden sie dafür von der breiten Princes Street belohnt, an der namhafte Markenstores mit schicken Glasfronten wie aufgereiht nebeneinander lagen.

Hatte das trübe Wetter, das zu allem Überfluss schon in die zweite Woche ging, also durchaus das Potential hart arbeitenden Edinburghern die Laune zu verderben, tat es dem touristischen Erlebnis kaum einen Abbruch. Viele Besucher schienen den stetigen Nieselregen sogar als festen Bestandteil ihres Wochenendprogramms zu betrachten - typisch schottisch eben.

Einige besonders Hartgesottene spazierten sogar auf dem Calton Hill, der die Royal Mile und die parallellaufende Princes Street am östlichen Ende begrenzte und quasi auf Augenhöhe mit dem Edinburgh Castle lag. Gut in grellbunte Wetterjacken verpackt fotografierten sie in zügiger Abfolge den schmalen Turm des Nelson Monuments, das National Monument, das dem griechischen Pantheon nachempfunden war, und dieses dritte Monument, das auf jeder zweiten Postkarte der Stadt zu sehen war. Dieses runde mit den Säulen, dessen Namen sich irgendwie keiner merken konnte. Dann versuchten sie noch, durch die grauen Schwaden den Firth of Forth am Horizont auszumachen, und bewunderten pflichtschuldig den fantastischen Blick auf die Stadt. Danach konnten sie sich endlich auf den Rückweg machen, um zum nächsten Programmpunkt überzugehen. Am besten dem mit Bier und Burger.

~

Hätte jedoch einer von ihnen das National Monument etwas eingehender betrachtet, das sich in seiner tonnenschweren Nutzlosigkeit (man konnte es tatsächlich noch nicht einmal betreten) düster vom grauen Himmel abhob, wäre ihm jemand aufgefallen, der es irritierenderweise nicht so eilig hatte, dem Wetter zu entkommen: Zwischen den Säulen und durch den Querträger mehr schlecht als recht von der durchdringenden Nässe geschützt saß ein Mädchen.

Zuerst fielen ihre rostroten Haare auf, die ihr lockig über den Rücken fielen. Der Rest des Mädchens verschwand fast in einem dunkelblauen Hoodie mit der Aufschrift „University of Edinburgh“. Dabei erschien ihr jeder Gedanke an ein Studium an dieser Universität genauso unrealistisch, wie den feuchten Sweatstoff auszufüllen. Beides war ihr mindestens drei Nummern zu groß. Aber eigentlich hatte sie solche Gedanken auch nie. Sie hatte mal gehört, die Zukunft sei ein Buch, dessen Seiten ein jeder selbst beschreiben konnte. Nur leider hatte sie immer das Gefühl, dass jemand in ihrem Buch schon herumgekritzelt hatte. Und das auch noch auf Chinesisch, sodass sie keine Ahnung hatte, was der Witzbold sich dabei gedacht hatte. Aber auch darüber machte sie sich eigentlich keine Gedanken. Ihr Leben war eben so, wie es war. Meistens funktionierte dieser Ansatz ganz gut. Klar, manchmal war das Leben auch einfach scheiße, aber das hatte ja wohl schließlich jeder mal, oder? Also nicht irritieren lassen und einfach weitermachen, schließlich lässt sich ja alles trainieren: Wenig Hoffnungen, keine Träume, keine großen Pläne. Dann war das Leben ok, nicht mehr und nicht weniger. Und so machte dieses rothaarige Mädchen eben das, was sie so machte. Wie zum Beispiel an einem kühlen Aprilsonntag auf dem National Monument zu sitzen und zu warten.

Heute wartete sie für ihren Geschmack aber schon entschieden zu lange. Sie war ja schließlich nicht zum Spaß hier und außerdem wurde ihr langsam kalt. Entnervt kickte sie mit ihrem Turnschuh eine gebrauchte Spritze beiseite. Ja, diese Souvenirs übersahen die Touristen immer, dabei war doch bekannt, was auf dem Calton Hill nachts so abging. Sie hatte dieses nächtliche Treiben schon des Öfteren miterlebt, trotzdem würde sie selbst nie etwas nehmen. Nur falls das jetzt jemand denken sollte.

Das Mädchen zog die Kapuze über den Kopf und duckte sich, als eine Familie mit zwei nörgelnden Kindern ziemlich dicht an ihrem Platz vorbeiging. Auf diese Leute wartete sie bestimmt nicht. Sie atmete auf, als alle vier an ihr vorbei waren, ohne sie zu bemerken. Vielleicht hatten sie sie auch gesehen, nahmen aber einfach keine Notiz von ihr. Nicht aufzufallen war fast wie unsichtbar zu sein, hatte sie festgestellt. Und das war eine Gabe.

Jetzt näherte sich ihr wieder eine Gestalt, aber dieses Mal erkannte sie schon von weitem ihre Kontaktperson. Na endlich!

„Hey, Swirrel!“, tönte der junge Mann schon, bevor er auf fünf Meter herangekommen war.

„Schrei noch lauter, Josh“, entgegnete die Angeredete mit gedämpfter Stimme und blickte dabei möglichst unbeteiligt in die andere Richtung. Man nannte sie Swirrel, Eichhörnchen, wegen ihrer roten Haare, die sie wie auch heute meist zu einem dicken Zopf band. Sie hasste diesen Spitznamen, denn er erinnerte sie ständig daran, dass ihre Haare rot waren wie eine Signalflagge. Außerdem waren die roten Eichhörnchen in Großbritannien vom Aussterben bedroht, na herzlichen Dank auch! Trotzdem war Swirrel ihr immer noch lieber als ihr richtiger Name, irgendwie anonymer.

„Stell dich nicht so an, hier is‘ doch kein Schwein.“ Josh steckte sich eine Zigarette an und blies bläuliche Kringel in den Regen.

„Jetzt sag‘ schon, was du zu sagen hast“, versetzte Swirrel entnervt, „ich hab‘ schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Oh, die Dame hat noch Verpflichtungen“, sagte Josh gedehnt und lachte, wobei er ein grunzendes Geräusch von sich gab. Der Typ ist wie ein ganzer Bauernhof, dachte Swirrel wieder einmal, lacht wie ein Schwein, hat ein Gesicht wie eine Ratte und ist doof wie ein Schaf. Wobei das jedem Schaf gegenüber eine Beleidigung war. Sie nannte ihn insgeheim deswegen auch „Unsere kleine Farm“. Das war einer ihrer Tricks sich Dinge einzuprägen, sie dachte sich passende Spitznamen dafür aus. Vielleicht wäre sie sogar auf die Sache mit Swirrel selbst gekommen. Zum Glück brauchte sie aber noch keine Eselsbrücke um sich zu merken, wer sie selbst war.

Als Josh aufgehört hatte zu lachen, baute er sich wichtig vor ihr auf: „Heute Abend steigt das Ding. 23:00 Uhr. Bushaltestelle am Theater. Crispy wird da sein. Kannst du dir das merken?“

Swirrel schnaubte. Natürlich konnte sie sich das merken. Sie war nur ehrlich überrascht, dass Josh das auch hinbekommen hatte. Sichtlich zufrieden mit dieser Leistung, blies er jetzt weitere Kringel in die Luft. Als er sich wieder umdrehte, war der Platz auf dem National Monument leer. Das Mädchen war verschwunden.

~

Swirrel grinste, als sie die Stufen vom Calton Hill hinuntereilte und unten angekommen über einen alten Friedhof huschte. Wie einfach war es doch, Josh unbemerkt stehen zu lassen. Jetzt musste sie nur noch schnell zurück in die Wohngruppe, sonst verpasste sie das Abendessen. Und das würde auffallen und Auffallen war das letzte, was sie wollte. Aber auch der Rückweg war einfach. Es war Sonntag, die Stadt war voll, da konnte sie einfach so in der Menge verschwinden. Außerdem war es ja schließlich nicht verboten, sonntagabends durch die Innenstadt zu spazieren. Sie nahm hier und da eine Abkürzung durch einen Hinterhof, dann hatte sie schon Tollcross erreicht. Dieser Stadtteil war bei weitem nicht so historisch wie die Old Town, so pompös wie die New Town oder so idyllisch wie das beschauliche Stockbridge. Dafür galt Tollcross inzwischen als in.

Swirrel bog um die letzte Ecke, dann verlangsamte sie ihre Schritte, strich sich die losen Strähnen aus dem Gesicht und ging gelassen weiter, als wäre sie nur mal kurz beim Kiosk gewesen. Das Haus, in dem ihre Wohngruppe untergebracht war, war ein schmuckloses, zweigeschossiges Gebäude, das niemandem auffiel und das von außen nicht preisgab, was sich drinnen befand. Das gefiel Swirrel irgendwie. Sie schloss lautlos die Tür auf und wollte schnell in ihrem Zimmer verschwinden, um den nassen Pulli loszuwerden. Sie hatte die Tür im ersten Stock schon fast erreicht, da hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich: Laurel Todd, 32 Jahre alt, Sozialarbeiterin und ihre Betreuerin hier in der Wohngruppe.

„Ally?“ Sie hasste es, wenn jemand sie beim Namen rief. Das war, als würde plötzlich ein Scheinwerfer auf sie gerichtet werden. Sie ignorierte die Stimme und ging weiter, aber Laurel ließ sich nicht abschütteln. „Allison Christie, ich rede mit dir!“ Das waren jetzt mindestens zwei fette Scheinwerfer.

 

Unwillig drehte sie sich um und setzte ein möglichst unschuldiges Lächeln auf. „Hallo Laurel, hab‘ dich gar nicht gehört.“

Laurel überging höflich, dass das äußert unglaubwürdig war und fuhr unbeirrt fort: „Bin ich froh, dass ich dich gefunden habe, ich suche dich schon den ganzen Nachmittag. Wo warst du denn?“

„In der Stadt“, antwortete Ally ausweichend und wollte weitergehen, aber Laurel ließ nicht locker.

„Und wo hast du so abgehangen? Los, sag‘ mal, vielleicht kannst du mir ja noch ein paar coole Spots verraten“, fragte sie aufgesetzt lässig.

Ally verdrehte die Augen. „Hier und da, war nur ein bisschen an der frischen Luft.“

Laurel änderte blitzschnell die Strategie, setzte ihr strenges Erwachsenengesicht auf und versuchte es noch einmal: „Allison Christie, du bist noch nicht volljährig und ich habe die Verantwortung für dich. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo du heute warst!“ Ally schwieg, was zeigte, wie wenig respekteinflößend Laurel war. Bei niemandem sonst hätte Ally sich das getraut.

„Du hast doch nicht wieder gestohlen?“, flüsterte Laurel jetzt übertrieben leise dafür, dass die beiden nach wie vor alleine im Flur waren.

„Ich habe noch nie gestohlen“, entgegnete Ally und das war die Wahrheit.

Ja, Ally schlich sich häufig fort und stromerte durch die Stadt, auch an Orte, die für ein junges Mädchen gemeinhin wenig typisch und auch wenig geeignet waren. Ja, Ally verkehrte mit Leuten, die man gut und gerne kleinkriminell nennen konnte. Neben ihrer Gabe, nicht aufzufallen, war sie klein und flink, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Zudem kannte sie die Stadt inzwischen besser als ihre Westentasche. All das machte Ally zum perfekten Spitzel. Und so erfuhr so manche zwielichtige Gestalt regelmäßig von ihr, wer mit offenem Fenster schlief, unter welchem Blumentopf der Haustürschlüssel versteckt war oder welcher Hotelgast die neueste Fotoausstattung im Gepäck hatte. Dass diese Betätigung auch nicht gerade ehrenhaft war, war Ally dabei egal. Sie stahl ja nie selbst. Und außerdem achtete sie penibel darauf, dass niemand auf Grund ihrer Informationen verletzt wurde, dann passte das schon. Naja, jeder zog seine moralischen Grenzen eben anders.

Laurel zuckte die Schultern. Ally war sich nicht sicher, inwieweit sie ihr glaubte. Dass Laurel ihre Streifzüge durch die Stadt so oder so nicht guthieß, war aber ohnehin klar. Ihre Betreuerin wollte, dass Ally das tat, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise taten: Mit ihren Mitbewohnern in der Küche sitzen und quatschen, mit den Klassenkameraden beim Imbiss abhängen, mit der besten Freundin shoppen gehen. Blöd nur, dass Ally eigentlich keine Freunde hatte. Was hätten die auch mit jemandem anfangen sollen, der kaum einen zusammenhängenden Satz herausbrachte, wenn mehr als zwei Leute dabeistanden. Aber sie fühlte sich in Gesellschaft einfach unwohl, denn Gesellschaft hieß, dass sie unweigerlich beachtet wurde. Allein die Vorstellung, in einer Boutique eine Jeans zu probieren und sich den Ratschlägen der Verkäuferin erwehren zu müssen oder auf die plumpen Flirtversuche ihrer Mitschüler einzugehen, war ihr ein Graus. Nicht dass sie all das nicht ausprobiert hätte, es führte aber leider nur zu dem Ergebnis, dass Ally regelmäßig im Boden versinken wollte. Laurel das klar zu machen, hatte sie bereits mehrfach versucht und inzwischen aufgegeben. Trotzdem ließ die Nervensäge sie einfach nicht in Ruhe.

Deswegen wunderte es Ally auch nicht, dass Laurel sie, jetzt wieder auf die kumpelhafte Tour, fragte, ob sie nicht zusammen zu Abend essen wollten, „um mal wieder zu quatschen“. Ally wollte das natürlich keinesfalls, denn quatschen hieß bei Laurel verhören, sie nickte aber schicksalsergeben.

Dabei war es auch nicht so, dass sie Laurel nicht ausstehen konnte. Sie traute ihr sogar und das war mehr, als Ally über jeden anderen Menschen sagen konnte. Aber Laurel war trotzdem eine nervige Klette. Was Ally daran besonders störte, war, dass die Sozialarbeiterin es dabei zwar ehrlich gut meinte, das aber vornehmlich aus beruflichem Ehrgeiz und weltanschaulichen Idealen. Allison Christie war eines ihrer Projekte, deswegen begegnete Ally ihr ebenso „auf Arbeitsebene“. Irgendwann würde sie nicht mehr hier wohnen und dann würde Laurel neue Projekte haben, deswegen lohnte es einfach nicht, irgendwelche Gefühle zu investieren. Das gehörte auch zu Allys Regeln, damit das Leben irgendwie ok war und es auch bleiben würde.

Dabei musste sie zugeben, dass Laurel ihren Job gut machte, besser als alle anderen Betreuer, die sie im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Ihr Beruf war ganz klar ihre Berufung und fügte sich nahtlos in ihre sonstige Lebenseinstellung ein: Laurel kämpfte für eine bessere Welt! Wenn sie nicht in der Wohngruppe arbeitete, war sie Vorstandsmitglied eines interkulturellen Vereins und schrieb Petitionen gegen die Verschmutzung der Meere durch Plastikabfälle. Sie selbst benutzte natürlich keinerlei derartige Verpackungen, sondern trug stets einen abbaubaren Jutebeutel bei sich. Gleiches galt für ihren Becher aus Bambus, aus dem sie ihren Bio-Tee schlürfte. Laurel ernährte sich ausschließlich vegan und verzichtete auch bei ihrer Kleidung auf jegliche tierische Materialien. Dagegen hatte Ally auch überhaupt nichts einzuwenden, aber warum mussten ihre Klamotten denn auch sonst so „öko“ aussehen? Wahrscheinlich weil genau das Laurel gefiel und so vervollständigte diese ihr Selbst mit einer lila Haarsträhne im kurzen Pixicut, unzähligen Festival-Bändern ums Handgelenk und einer kleinen afrikanischen Gottheit aus Holz, die stets in ihrem linken Ohrläppchen baumelte. Es war also nicht schwer zu erraten, warum Ally ihr den Spitznamen „die Engagierte“ gegeben hatte. „Mutter Theresa“ hatte auch zur Auswahl gestanden, aber die war in Allys Vorstellung nicht auf so eine verbissene Weise heilig.

~

Wenig später war Ally, endlich in einem trockenen Shirt, auf dem Weg in die große Gemeinschaftsküche, die sich in einem Anbau hinter dem Haus befand. Der Raum war dank mehrerer bodentiefer Fenster hell und in freundlichem Gelb gestrichen. Ein langer Holztisch mit verschiedenen Stühlen dominierte die Küche. Einige der zwölf Jugendlichen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, die hier in der Wohngruppe lebten, waren bereits versammelt. Manche halfen Susan, der zweiten Sozialarbeiterin in Vollzeit, beim Kochen, andere waren in ihre Smartphones vertieft.

Keiner von ihnen sah auf, als Ally eintrat. Schnell ließ sie sich auf den Stuhl gegenüber von Laurel sinken, die ihr völlig überflüssigerweise zugewinkt hatte. Als ob man sich hier in dieser Küche verfehlen könnte. Tapfer machte sie mit Laurel Smalltalk, bis das Essen auf dem Tisch stand. Kaum hatte sie aber den ersten Bissen auf der Gabel, stellte Laurel die Frage, die sie scheinbar schon den ganzen Tag auf der Zunge hatte: „Und? Jetzt erzähl‘ doch mal. Wie soll es jetzt bei dir weitergehen?“

Ich esse jetzt, dann gehe ich schlafen und um 23:00 Uhr treffe ich Crispy am Theater, dachte Ally, aber das wollte und durfte Laurel natürlich nicht wissen. Also antwortete sie nur vage: „Mal schauen.“

„Jetzt komm‘, Ally, das kann doch nicht dein Ernst sein“, ereiferte Laurel sich, „du bist sechzehn Jahre alt, da kann man doch erwarten, dass du dir wenigstens ein paar Gedanken für die Zukunft machst!“ Ally seufzte schwer. Nein, darüber wollte sie doch nicht nachdenken, geschweige denn mit Laurel darüber diskutieren. Brachte doch sowieso nichts.

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