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Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

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Die zweite Silbe bleibt ihr in der Kehle stecken … Es hat wieder geläutet, hastig, ja wild. Susannens Augen richten sich erschrocken auf ihre Magd. Die jedoch ist ganz übermütig: „Heut geht's ober zu. No jo, vielleicht schickt Seine Majestät der Kaiser wos.“

Sie enteilt, um die Tür aufzureißen vor der neuen Überraschung, und eine Überraschung ist's, aber was für eine!

Draußen läßt das Drohen und Fluchen einer rauhen Männerstimme sich vernehmen. Ohne anzuklopfen, ohne die Mütze zu rücken, poltert der Kommissionär ins Zimmer, schimpft fürchterlich, als er die angezündeten Kerzchen am Christbaum erblickt, bläst gleich drei, vier auf einmal aus und fährt Rosi, die ihm auf dem Fuße gefolgt ist, mit unglaublicher Grobheit an. Er hat es ja gesagt, hinüber auf Nummer fünf gehört das Bäumerl, zur Rainer mit A, und nicht zu einer alten Schachtel mit E. Den Guldenzettel, den sie ihm gespendet hat, wirft er auf den Tisch. Da hat sie das Ihrige, und jetzt hofft er nur, daß ihm nichts weggekommen ist, sonst – den Weg zur Polizei kennt er, den braucht ihm niemand weisen.

Kurz, nachdem er sich benommen wie in einer Diebeshöhle, nimmt er das Bäumchen unter den Arm, trampelt davon und schlägt hinter sich die Tür zu, daß alles dröhnt.

Susanne ließ sich auf einen Sessel, nicht wie sie sonst pflegte aus Rücksicht für den Überzug, niedergleiten, sonder niederfallen, Rosi stand vor ihr, nahm einen Zipfel der blanken Schürze, und steckte ihn in den Gürtel. Ihre Augen funkelten vor Entrüstung, ihre Lippen wurden dick und scharlachrot. Sie kreuzte die nackten Arme und sprach erregt:

„Na, dos is aber doch!“

Das Fräulein hat indessen ein stilles Gebet verrichtet: Lieber Gott, gib mir Kraft, vor diesem braven, aber der höchsten Politur ermangelnden Mädchen die Würde des Familienlebens meines tiefgesunkenen Vetters zu wahren. Gib mir Kraft, ich brauche sie; ich glaube, ich habe keinen Puls, und meine Füße sind ganz steif. Wie mir jetzt ist, so dürfte es der Erde sein, wenn sie dereinst in die Eisperiode tritt. O meine Sonne, mein Prachtmenschenexemplar – wie siehst du aus!

„Die Rainer,“ nimmt Rosi wieder das Wort, „dos is die Lokalsängerin, wo neulich so viel in der Zeitung g'standen is. Doß die daneben wohnt, weiß freilich die ganze Straß'n. Daß aber der Herr Vetter zu der ihrer Bekonntschoft g'hört, hätt i mer nit denkt. Hot so e scheene Frau und lauft der schiechen Astel nach.“

Susannens Zähne klappern aneinander, die Zunge klebt ihr am Gaumen, doch gelingt es ihr, dank ihrer heroischen Anstrengung, in ziemlich natürlichem Tone zu sagen: „Ja, meine liebe Rosi, die Rainer ist eben eine große Künstlerin.“

„So? und drum schickt er ihr wos zu Weihnachten, und vielleicht gar hinterm Rucken der gnädigen Frau?“

„Liebe Rosi,“ erwidert Susanna zurechtweisend und setzt ihre Wahrheitsliebe hintan, um die Familienehre zu schützen, „dieses Geschenk, es wird von ihm und von ihr sein. Es ist so Sitte bei den Herrschaften, daß sie großen Künstlerinnen zu passenden Gelegenheiten Blumen schicken oder – Christbäume.“

„Meinen's Fräulein? – No jo,“ spricht Rosi mit ihrem gewohnten überlegenen Lächeln und geht, das Abendessen anzurichten, das heute aus Fisch und Gugelhupf besteht. Dazu braut sie einen guten Punsch für sich und ihre Schwestern. Es geschieht ohne Wissen der Gebieterin, die nicht ahnen darf, daß in ihrem Hause Spirituosen, diese Mörder der Intelligenz, genossen werden.

Während der kleine Betrug an ihr verübt wird, bleibt Susanne ihren traurigen Betrachtungen überlassen.

– Solitär, wenn er nicht bei Fräulein Rainer ist! Ein Ehegatte und Familienvater? – „Ohne Dir …“ Sie sind also auf dem Du-Fuße, – „Ohne Dir,“ schauderhaft. Wenn er noch gesagt hätte: „Ohne Dich!“ – Gott, wie tief sinkt man sofort in jeder Hinsicht, wenn man in einer das Gleichgewicht verloren hat.

Tiefbekümmert fragt sich Susanne, ob sie dem ahnungslosen Vetter, hinter dessen tiefstes Geheimnis sie gekommen ist, je wieder unter die Augen wird treten können, und gar seiner betrogenen Gattin und seinen armen Kindern, deren Vater, statt für sie zu sparen, Solitäre kauft für Fräulein Rainer.

Zu Tode schämen muß sie sich vor ihnen allen … sie, die Mitwisserin einer großen Schuld. Es wird ihr aufs Herz fallen, verdammende Stimmen werden ihr zurufen: Mitwisserin! – Ach, gar zu gern hätte sie sich den morgigen Besuch, vor dem ihr schaudert, erspart, sich krank melden, sich entschuldigen lassen. Doch nein! Sie hat leider schon gelogen am heiligen Abend, sie wird nicht wieder lügen am heiligen Tage. Durch! sagt sie mit Strafford, mitten durch die gehäuften Trümmer ihres schönsten Wahngebildes.

Nun sitzt sie da, die Hände im Schoße, wie sie nicht mehr gesessen, seitdem sie Totenwache gehalten hat an der Bahre ihrer Großmutter.

Rosi läßt sich wieder sehen, deckt den Tisch, stellt mit berechtigtem Stolze das Souper auf und wünscht guten Appetit. Sie wird für heute des weiteren Dienstes enthoben und kehrt zu ihren Schwestern zurück, die bereits eingetroffen sind.

In der Küche geht es munter zu. Man schmaust, man plaudert, man findet des Kicherns kein Ende.

Susanne nickt zustimmend mit dem Kopfe, so oft sie lachen hört: „Freut euch des Lebens, ihr Armen, euch glüht ja noch das Lämpchen des Glaubens an die Menschen,“ sagt sie leise und würgt einige Stückchen Fisch hinunter.

Sie tut es nur, um Rosi, wenn die am nächsten Tage fragen sollte: „Hat's geschmeckt?“ erwidern zu können: „Es war so gut, daß ich nicht alles auf einmal verspeisen wollte, und mir etwas aufgehoben habe für heute.“ – Ach Gott ja, morgen ist wieder ein Heute, und übermorgen auch, und so geht es fort und dürfte noch lange fortgehen, denn Susanne hat eine eiserne Gesundheit. Vor ihr liegt ein weiter, ein einsamer Weg. Die Menschen, denen sie Gutes tut, was ist sie ihnen? Eine unermeßlich reiche Person, die einen Teil ihres Überflusses dazu verwendet, sie aus drückender Not zu befreien. Mit der Erinnerung an diese schwindet auch die Erinnerung an die Befreierin.

Stunden verfließen. Im Hause ist alles still geworden. Das Fräulein geht sich überzeugen, ob die Wohnungstür versperrt und verriegelt und die Sicherheitskette vorgelegt ist. Ja wohl, so müde und schläfrig Rosi gewesen sein mag, sie hat alles in Ordnung gebracht, ehe sie zur Ruhe ging. Brave Person! Eine brave Dienerin zu haben ist ein Glück, das ein einzeln stehendes weibliches Wesen nicht hoch genug schätzen kann. Als Susanne in ihrem Schlafzimmer niederkniet zum Abendgebet, dankt sie dem Himmel ganz besonders für diese Gnade; sie betet überhaupt sehr lange, gibt immer wieder einige Vaterunser zu für einen vom rechten Wege weit Abgeirrten.

Endlich legt sie sich zu Bette und will schlafen. Aber der Wille gebietet dem Schlaf nicht, verscheucht ihn im Gegenteil durch energisches Herbeirufen. Schweige denn, Wille, weichet hinweg, Gedanken! Ein tiefer, gesunder Schlaf wird Susannen heute schwerlich erquicken, doch vielleicht gelingt es ihr, in einen ihre Traurigkeit abstumpfenden Dusel zu kommen. So dämmert sie hin in der Finsternis, die rings um sie, die in ihr herrscht, schließt die Augen und rührt sich nicht.

Nach einer Weile, was sieht sie mit ihren geschlossenen Augen? Gerade vor sich das Erglimmen eines schwachen Lichtscheins. Er wird immer heller und geht von einer vergoldeten Nuß aus, die langsam über den Rand des Bettes aufsteigt, wie ein kleinwinziger Mond. Das Licht, das er verbreitet, ist warm wie das Leben und rosig wie junge Liebe. Allmählich nimmt er eine noch schönere Färbung an, und darüber braucht man sich nicht zu wundern, denn die Morgenröte ist dazu gekommen, eine herrlich strahlende Morgenröte, die das Nahen der Sonne verkündet, und da flammt sie auch schon empor in Gestalt eines feuerfarbigen Apfels. Als Herold, mit etwas defektem Federbusch, sprengt ein gelber Reiter vor ihr her. Er gibt seinem Rosse die Sporen, ein mächtiger Satz, und da steht er salutierend auf dem Federbette des Fräuleins.

Sie fährt auf, schlägt sich vor die Stirn, hat im Nu Licht gemacht, schlüpft in ihre Pantoffelchen und eilt ins Nebenzimmer.

Da liegt auf dem Tische vergessen ihre Christbescherung, der sichtbare Beweis, daß es doch ein Wesen gibt, das sich ihrer am heiligen Abende erinnert und das – selbst ein Kind, die Geschenke des Christkindleins mit ihr geteilt hat.

Dieses wunderbare Erlebnis ist ihr aufgespart worden, ihr, der alten Jungfer, die gar keinen Anspruch machen darf auf die Liebe von Kindern. Kürzlich erst hat sie ein solches Glück erfahren, und statt sich seiner innigst zu freuen, setzt sie sich hin, die undankbare Kröte! und melancholisiert und überläßt sich feigem Selbstbedauern!

Beschämt und reuig, aber mit einer sozusagen wonnegetränkten Seele ergriff Susanne ihren Husaren, ihren Apfel, ihre Nuß, und begab sich zurück ins Schlafgemach. Bevor sie ihr Lager wieder aufsuchte, legte sie die Geschenke Tonis auf das Nachtkästchen in derselben Reihenfolge, die er ihnen mit Ordnungssinn und seinem Gefühle für Rangunterschiede angewiesen hatte.

Sie blieb hellmunter und überließ sich heiteren Vorstellungen.

Den Mittelpunkt derselben bildete Toni. Was für treuherzige Augen er hat, und treuherzig ist er und warmherzig dazu, das sprach sich gar deutlich in seinem Handkuß aus. Welch ein Unterschied zwischen diesem und den pro forma-Handküssen des höflichen Neffen und der zierlichen Nichte. Susanne erinnert sich vieler kleiner Züge, die ihr im Benehmen Tonis angenehm aufgefallen sind; des Ernstes, den sie so oft an ihm bewundert hat, des Buckels voll Sorgen, den er macht, wenn ihm die Obhut über seine jüngeren Geschwister anvertraut wird. Er nimmt seinen Teil der häuslichen Sorgenlast auf seine jungen Schultern. Und wie brav und verläßlich er ist! er vergißt nie einen Auftrag, den man ihm gibt.

Zum Pfadfinder und Genie scheint Toni – wohl ihm! – keine Anlage zu haben, aber ein vortrefflicher Mann, geschickt in seinem Fache, ein Muster für seine Standesgenossen, die Vorsehung seiner Gehilfen könnte er werden, wenn er eine tüchtige Erziehung, wenn er Bildung bekäme, die echte Bildung, die von innen heraus kommt, die den Wert des Menschen erhöht und den Stolz auf seinen Wert verringert.

 

– Wenn er die bekommen könnte? wiederholt Susanne und ruft auf einmal laut aus: „Er soll sie bekommen!“

Ein Gedanke über alle Gedanken ist raketenartig in ihr emporgeschossen; sie setzt sich auf in ihrem Bette, sie lacht und weint. Es vergeht eine lange Zeit, bevor die hochgehenden Fluten ihrer Empfindungen sanft und selig verebben. Endlich liegt der Kopf wieder auf dem Kissen, sie atmet leicht und wird gut schlafen.

Vorher aber komme noch einmal, Freundin Phantasie, und male ihr die am morgigen Tage bevorstehenden Ereignisse deutlich aus.

Sie sieht sich, bereits um acht Uhr früh, in größter Parade und mit der Spitzencoiffe, federnden Ganges hinüberwandeln zu Kunzel. Die Bedienerin läßt sie ein, und sie findet die Familie, wie immer zu dieser Stunde an einem Feiertage, um den Frühstückstisch versammelt.

Beim Eintreten des verehrten und unerwarteten Gastes springen alle auf. Sie aber spricht: „Sitzen bleiben! Ich allein stehe, wie sich's gehört für eine Bittende.

„Lieber Meister, liebe Meisterin, erlauben Sie mir, den Toni zu adoptieren. Er bleibt Ihr Sohn und wird auch der meine, und im nächsten Jahre nehme ich als Familienglied teil an Ihrem Weihnachtsfeste.“