Der Barbarossa-Effekt

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Annika beugte sich weit nach vorne. Nun drohten ihre Brüste jeden Moment den Ausschnitt zu sprengen. Ein älterer Herr am Nebentisch konnte kaum die Augen davon lassen und das, obwohl er sich in weiblicher Begleitung befand. Das dürre Gerippe an seiner Seite zog bereits ein säuerliches Gesicht.

»Hast du inzwischen herausgefunden, was dein Marcel freitags immer dermaßen lange im Wirtshaus treibt?«, raunte sie, als ginge es um brisante Staatsgeheimnisse.

»Nicht wirklich, nein. Wie er immer sagt, muss es sich um eine Art Herrenabende handeln. Du weißt schon, so eine Herde von Stammtischphilosophen die meinen, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gegessen. Es wundert mich zwar schon ein wenig, dass ausgerechnet mein Mann sich befleißigt fühlt, sich an sowas zu beteiligen, aber … ach, Männer. Wer könnte die je richtig verstehen«, grinste Eva.

»Und du bist vollkommen sicher, dass es sich um keine andere Frau handelt?«, bohrte Annika skeptisch nach. Sie stand offenbar noch ganz unter dem Eindruck ihrer letzten Trennung. Ihr Freund war mit einer Nachbarin durchgebrannt.

»Ja, da bin ich allerdings sicher. Marcel liebt mich. Außerdem habe ich … sagen wir mal … ein paar Nachforschungen betrieben. Nur zu meiner persönlichen Beruhigung. Mir kam es spanisch vor, dass mein Gatte in seiner Freizeit ständig am Computer hockt, obwohl er da schon während der Arbeit jede Menge Zeit verbringen muss. Ich kenne sein Passwort, es handelt sich um den Namen und das Geburtsjahr unseres Sohnes.

Also habe ich mir letzte Woche den Verlauf in seinem Internetbrowser angesehen und geschaut, was für Mails er bekommt und versendet. Du wirst es nicht glauben – alles stinklangweilig und ganz harmlos. Er googelt nach Zeitungsmeldungen, interessiert sich für Politik – und für Kaiser Barbarossa. Mails schreibt er, zumindest von daheim aus, kaum welche. Auch diese wenigen Nachrichten geben absolut nichts Besorgniserregendes her. Keine einzige davon ging übrigens an eine Frau.«

»Was?!«, fragte Annika ungläubig. »Und wieso Barbarossa?«

Eva lächelte versonnen. Sie hatte ihren Ehemann vor mehr als zwanzig Jahren auf einem Popkonzert in München kennengelernt. Damals hatte er sich einen Vollbart stehen lassen. Wegen seiner auffallend karottenroten Haare hatte sie ihm bereits kurz nach dem Kennenlernen diesen trefflichen Spitznamen verpasst. Sie erinnerte sich noch genau an die erste gemeinsame Nacht, als sie ihr Gesicht fasziniert in den dichten Bart geschmiegt und am nächsten Morgen eine gereizte, mit roten Pusteln übersäte Gesichtshaut davongetragen hatte.

Heute erinnerte bloß noch ein stoppeliger Dreitagebart an das drahtige Gewirr in seinem Gesicht und das Kopfhaar leuchtete inzwischen mehr blond als rot. Scheinbar wurden rote Haare im Alter nicht grau, sondern nur goldener. Eva beobachtete diesen Prozess mit ein wenig Neid, denn sie musste bei ihrem braunen Schopf bereits erste graue Strähnen überfärben.

Annika Knoll musste herzhaft lachen, nachdem ihre Freundin die Geschichte zum Besten gegeben hatte. Vor ihrem geistigen Auge baute sich das Bild eines stattlichen Wikingers mit rotem Rauschebart auf, und so ähnlich dürfte Marcel wohl früher tatsächlich ausgesehen haben. Nur dass die Streitaxt fehlte.

»Du Glückliche. Also entweder ist dein Schatz recht sentimental und trauert den alten Zeiten nach, oder ein verhinderter Geschichtsprofessor«, meinte sie achselzuckend. Sie wirkte fast ein bisschen enttäuscht, hatte wohl mit sensationellen Enthüllungen gerechnet, mit einem Skandal, über den man sich hätte auslassen können. Seit der unschönen Sache mit ihrem untreuen Thomas schien sie sämtlichen Männern grundsätzlich zu misstrauen. Sie gönnte ihrer langjährigen Freundin ihr beständiges Liebesglück zwar aus ganzem Herzen, hätte aber selbst gerne so ein Prachtstück wie Marcel gefunden. Sie schwärmte heimlich ein bisschen für ihn, aber davon ahnte Eva glücklicherweise nichts.

Eine gute halbe Stunde später bedeutete ihnen Restaurantinhaber Alfonso, dass er allmählich zu schließen gedenke. Er komplimentierte die noch immer schwatzenden Damen, mit einem Grappa aufs Haus, hinaus. Seine dicke Frau watschelte derweil geschäftig um die Tische, um die Windlichter zu löschen.

Draußen auf dem Parkplatz umarmten sich die Freundinnen zum Abschied.

»Komm gut heim, Annika. Und lass dich möglichst nicht von der Polizei erwischen. Wie viel hast du getrunken? Zwei Gläser Wein und den Grappa? Hoffentlich war das nicht zu viel. Wenn du das Auto lieber stehenlassen würdest, könnte ich dich schnell nach Hause fahren.«

Die winkte ab, grinste schelmisch.

»Ach was, auf diese Menge bin ich geeicht. Außerdem dürfte ich den Großteil des Alkohols längst abgebaut haben. Sehen wir uns nächsten Freitag?«

»Klar, gerne! Ich ruf dich an.«

Familie Lünitz lebte im Zittauer Ortsteil Eichgraben, einem noblen Wohngebiet nahe der tschechischen Grenze. Auf der Heimfahrt kaute Eva gewohnheitsmäßig die Gespräche noch einmal durch. Die Sache mit Barbarossa kam ihr nun doch seltsam vor. Leider konnte sie Marcel nicht darauf ansprechen, sonst hätte sie ihre Spionagetätigkeit preisgegeben.

Werde nicht neurotisch, Eva. Du hast keinen Grund, in irgendeiner Form an deinem Mann zu zweifeln. Warum auch? Es gibt Schlimmeres, als wenn einer sich mit der deutschen Geschichte befasst. Annika ist doch immer misstrauisch, vor allem dann, wenn sie etwas nicht nachvollziehen kann. Wahrscheinlich weiß sie nicht sehr viel über den Stauferkaiser Barbarossa alias Friedrich I., sie besitzt ja nur den Hauptschulabschluss. Was sie natürlich nie zugeben würde.

Die meisten ihrer Nachbarn schienen bereits zu schlummern. Nur wenige Fenster waren in der Lückendorfer Straße beleuchtet, als sie ihr weißes SUV gähnend in die Doppelgarage steuerte. Das Tor schloss sich automatisch hinter dem Auto; es wurde, wie alles andere in diesem Haus, selbstverständlich von gespeichertem Solarstrom betrieben.

Marcels Audi fehlte, also war er noch unterwegs. Kopfschüttelnd sperrte Eva die Metalltür auf, die direkt in den

Hauswirtschaftsraum hinter der Küche führte, passierte selbige im Dunkeln und erreichte den Eingangsbereich des Hauses, wo sie ihren Schlüsselbund auf die dänische Naturholzkommode legte. Über ihr Mobiltelefon wollte sie anschließend mithilfe der Smart Home Funktion das Deckenlicht einschalten, blickte im Gehen auf das Display.

Sie stolperte über ein unerwartetes Hindernis, schlug hart auf den Steinfliesen auf. Das Smartphone rutschte ihr aus der Hand, schlitterte über den Boden und knallte gegen die Haustür.

»Was zum Teufel … !«

Eva rappelte sich hoch, drückte auf den analogen Lichtschalter. Knie und Ellbogen schmerzten, sie hatte sich offenbar ein paar Prellungen zugezogen.

Im hellen Licht der Dielenbeleuchtung lag ein zusammengekrümmter Mensch. Arne. Um Himmels willen, der Junge rührte sich nicht, hatte scheinbar nicht einmal ihren Sturz mitbekommen! Die erschrockene Mutter ignorierte ihre eigenen Wehwehchen, ging neben dem leichenblassen Sohn in die Hocke. Gott sei Dank, er atmete, schien nur fest zu schlafen. Sie packte ihn an den Schultern, rüttelte ihn kräftig durch. Sein Sweatshirt roch auffällig nach Rauch und Marihuana.

»Arnie, was ist los mit dir? Hast du Drogen genommen?«, rief sie voller Sorge.

Er schlug kurz die Augen auf, brummte genervt etwas Unverständliches. Anschließend rollte er sich wieder in der EmbryoStellung zusammen, wollte einfach weiterpennen. Beim Schnarchen vibrierte sein noch dünnes, lückenhaftes Ziegenbärtchen, dessen Farbe er vom Vater geerbt hatte.

Der ist sturzbesoffen, wahrscheinlich auch bekifft. Wie kriege ich ihn in diesem Zustand bloß wegtransportiert, bevor Marcel heimkommt? Falls er ihn hier so findet, gibt es morgen wieder die üblichen Hahnenkämpfe, sorgte sie sich und überlegte, ob sie ihn unter den Achseln packen und wenigstens bis in sein Zimmer schleifen sollte.

Zu spät. Draußen fuhr soeben ein Wagen vor.

Damit war der Samstagsfriede für die Familie Lünitz gelaufen. So eloquent Marcel im Umgang mit Freunden und Arbeitskollegen auch sein mochte, beim erbitterten Streiten mit Arne gingen ihm regelmäßig die Argumente aus. Dieses Manko versuchte er durch Lautstärke auszugleichen. Eva graute schon jetzt davor, mit ihren beiden Testosteronhelden am Frühstückstisch ausharren zu müssen. Zuerst würde dieser zum Kriegsschauplatz, anschließend zur emotionalen Eiswüste werden.

Und sie … sie würde wieder zwischen den Stühlen sitzen, von beiden Seiten um verbale Schützenhilfe ersucht werden. So wie jedes Mal.

*

Sommer 1989, Universität Bayreuth

Ein Grüppchen aufgeregter Studenten trieb sich palavernd am Eingang zum Hörsaal herum. Das Foyer war festlich dekoriert, leise Klaviermusik bildete einen dezenten musikalischen Hintergrund. Heute gab es hier garantiert niemanden, der nicht festlich herausgeputzt gewesen wäre.

Manch einen der sonst legeren Jungs hatten Anzug und Krawattenknoten optisch zum erwachsenen Mann gemacht, wenn auch nur für diesen Abend. Überall schimmerten auf Hochglanz polierte Schuhe mit Samtund Seidenstoffen um die Wette. Die jungen Damen trugen adrette Hochsteckfrisuren oder modische Kurzhaarschnitte und waren meist dezent geschminkt. Flüchtige Parfümnuancen schmeichelten den Nasen.

Es war die Geburtsstunde neuer Absolventen, welche in einer traditionellen Zeremonie feierlich in ein erfolgreiches Berufsleben entlassen werden sollten. Auch Marcel Lünitz, Luna Sandner und der schlaksige Deutschtürke Cem Aytemiz gehörten an diesem Abend zu den Glücklichen, die an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften den jüngst eingeführten Studiengang Energietechnik mit Bravour abgeschlossen hatten.

 

»Meine Güte, geht es euch auch so? Zu Beginn des Studiums dachte ich, die Zeit bis zum Abschluss sei endlos lang, liege in ferner Zukunft. Und jetzt seht uns an … ich im schicken Cocktailkleid, ist das zu fassen? Wenn doch bloß meine Eltern diesen Moment noch erlebt hätten«, zog Luna ein sentimentales Resümee. Sie verdrückte eine Träne im Augenwinkel.

»Ein sehr ungewohnter Anblick, dich in einem Kleid zu sehen, aber das funkelnde Flaschengrün steht dir perfekt«, schmeichelte Cem charmant. Er meinte das Kompliment absolut ehrlich, es kam aus vollem Herzen. Dennoch wanderten Lunas Augen für einen Wimpernschlag zu Marcel hinüber, der ein bisschen hibbelig wirkte. Vermutlich hätte sie es viel lieber aus seinem Mund gehört.

Sie bedankte sich artig bei Cem.

Marcel seufzte tief, wischte sich eine Fussel vom Jackett.

»Für mich fühlt sich das Ganze ziemlich abstrus an. Ehrlich gesagt, hatte ich das Studium nur angefangen, um den Vorstellungen meines Vaters zu genügen und nach dem Abitur keine xbeliebige Lehre beginnen zu müssen. Mir fehlte damals jegliche Orientierung, was ich später eigentlich werden wollte.

Und jetzt ist die Schonzeit viel zu früh vorbei. Bald muss ich mich, wenn auch mit ein paar Jährchen Verspätung, doch kopfüber ins Berufsleben stürzen und bis zur Rente malochen. Ich weiß bis dato noch gar nicht, ob mir das taugt. Als Angestellter möchte ich aber keinesfalls arbeiten, ich bin kein Teamplayer«, gab er achselzuckend zu.

Alle drei lachten ausgelassen.

»Ich hätte es nicht ganz so drastisch ausgedrückt, aber auch ich wollte natürlich die hohen Erwartungen meiner Eltern nicht enttäuschen. Ein Stipendium zu bekommen, war damals schon eine Ehre. Allerdings strebe ich nicht wie du die Selbständigkeit an; ich sehe ja, wie wenig Freizeit meinem Vater dabei bleibt. Er ist morgens immer der Erste in seinem kleinen Laden und verlässt ihn abends selten vor neun. Da kommt die Familie zu kurz und ich möchte möglichst bald meine eigene gründen«, offenbarte Cem nachdenklich.

Keiner der beiden anderen fragte nach, wer denn die Glückliche sei. Scheinbar hielten es seine Freunde für stinknormal, dass Türken früh heirateten. Ob es dafür bereits eine Kandidatin gab, schien nicht von Interesse zu sein. Allerdings hätte er ohnehin nicht gewagt, den Namen seiner Traumfrau preiszugeben.

Luna war die einzige, die sich bereits im Voraus intensiv nach einem Arbeitsplatz umgesehen hatte. Für sie wäre niemals etwas anderes infrage gekommen, als ihre hier erworbenen Kenntnisse für den Umweltschutz einzusetzen. In zwei Wochen würde sie bereits in der Stuttgarter Niederlassung der Umweltorganisation Greenpeace als ehrenamtliche Beraterin fungieren, dort Vorträge aus ihrem Fachgebiet halten, an Info-Ständen mitarbeiten und zur Vorbereitung von Aktionen Recherchen durchführen.

Sobald sie sich in diesen Tätigkeitsbereichen eine gewisse Zeit bewährt hatte, würde man sie sicher auch bei der immens wichtigen Lobbyarbeit einsetzen, welche ihr eigentliches Traumziel darstellte.

Ihren Lebensunterhalt wollte Luna durch Kellnern und ähnliche Gelegenheitsjobs sichern, so wie sie das auch bisher neben dem Studium getan hatte. Sie war sich dabei für nichts zu schade, hatte in den letzten Jahren unter anderem als Kartenabreißerin im Kino und als Krankenhausputzkraft gearbeitet. Als bescheidener Mensch benötigte sie erstaunlich wenig Einkommen zum Leben. Moderne Kleidung, Schminke, schicke Schuhe, ein Auto inklusive Führerschein – all das hielt sie für überflüssigen Firlefanz, der höchstens vom eigentlichen Leben ablenkte.

Die junge Frau hatte früh lernen müssen, sich alleine durchzuschlagen, seit beide Elternteile vor knapp fünf Jahren bei einem schweren Verkehrsunfall auf der Autobahn ums Leben gekommen waren. Da Klemens und Millie Sandner ähnlich puristisch gelebt hatten, war das Erbe ziemlich mager ausgefallen. Geerbt hatte Luna hauptsächlich deren ›grüne‹ Gesinnung, die ihnen bei nüchterner Betrachtung allerdings das Leben gekostet hatte.

Jener tragische Verkehrsunfall in einer Baustelle der A 7 hatte sich auf der Heimreise von einer Anti-Atomkraft-Demo ereignet, weswegen die Sandners, zumindest in Lunas Augen, als edle Märtyrer in ihrem stetigen Kampf für eine lebenswerte Umwelt gestorben waren. Sie hielt es deshalb für selbstverständlich, in die großen Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Dieser war überzeugter Greenpeace-Aktivist gewesen, hatte Gutes für die Umwelt bewirkt und seine einzige Tochter unermüdlich Achtsamkeit in der Natur gelehrt.

Ihm zu Ehren hatte sie sich gleich am Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag ein Parteibuch der Grünen zugelegt. Sie war sich ihrer Verantwortung als Jungwählerin bewusst, wollte eines Tages ganz oben in der Politik mitwirken, vielleicht auch Abgeordnete werden.

Doch das war momentan noch Wunschdenken, ihr würde in naher Zukunft die Zeit dazu fehlen. Heute galt es, zunächst mit diesem Lebensabschnitt abzuschließen, die Universität hinter sich zu lassen.

»Ich würde anregen, dass wir jetzt gleich hineingehen und uns dem Schlussakkord unserer Ausbildung stellen. Sichern wir uns also drei der hintersten Plätze für den stinklangweiligen Festvortrag einschließlich der unvermeidlichen Fleischbeschau auf der Bühne, auf die ich übrigens locker verzichten könnte, und nehmen anschließend unsere hart erarbeiteten Abschlussurkunden entgegen«, schlug Luna sarkastisch vor.

»Klar, und danach folgt endlich der gemütliche Teil. Ich werde mich an der Physikerbar heute besinnungslos saufen. Jetzt kann es mir schließlich scheißegal sein, was die Professoren und sonstigen Gäste von mir denken«, grinste Lünitz voller Vorfreude.

Er hatte seine durchgestylten Eltern schon suchend durchs Foyer spazieren sehen, war jedoch im allerletzten Moment hinter einem Pflanzkübel in Deckung gegangen. Es reichte wirklich, wenn sie ihn erst zu späterer Stunde mit Glückwünschen und gut gemeinten Ermahnungen volllaberten.

Für tief schürfende Gespräche bleibt denen ohnehin noch genügend Gelegenheit, damit brauchen sie mir heute nicht die Feierlaune verderben. Ich werde erst einmal wieder zurück nach Hause in meine alte Bude ziehen, um in aller Ruhe und Gelassenheit an hochfliegenden Zukunftsplänen zu schmieden. Mama und Papa können es sich locker leisten, mich noch eine Weile finanziell zu unterstützen, auch wenn das Gejammer groß sein wird.

Ich bin kein nutzloser Gammler, wie mein alter Herr meint, sondern möchte einfach bei der Firmengründung nichts überstürzen. Bislang steht ja noch nicht einmal der Standort meines geplanten Unternehmens fest. Vielleicht schreibe ich auch erst noch eine Doktorarbeit, mal sehen, wie sich alles entwickelt. Einschlägige Praktika könnten auch kaum schaden.

So oder so, ich werde bald zu einem Pionier der modernen Solartechnik avancieren. Ab sofort bin ich kein Student mehr, sondern ein Ingenieur der Energietechnik. Wenn der alte Geizhals die Tragweite dieser Veränderung nicht kapieren will, ist das allein sein Problem, rechtfertigte Lünitz sein respektloses Benehmen in Gedanken vor sich selbst. Der Konflikt mit seinem Vater war fast so alt wie Marcel selbst, zum Leidwesen seiner Mutter. Es ging bei jeder Gelegenheit um den Platzhirschposten in der Familie.

Nach einer rauschenden Nacht kam am folgenden Tag plötzlich Katzenjammer auf. Den drei Kommilitonen wurde schmerzlich bewusst, dass sich ihre Wege innerhalb der kommenden Woche unweigerlich trennen mussten. Keine schöne Aussicht.

Sobald sie sich mithilfe von Kaffee und Aspirintabletten wieder zu den Lebenden zählen durften, schlenderten sie deprimiert durch den Ökologisch-Botanischen Garten und beendeten ihre Abschiedstour am zentralen Platz des Campusgeländes, der von zwei konzentrischen Ringen aus Laubbäumen umstanden war. Neun schnurgerade Wege führten zu jener gepflasterten Fläche, die schmucklos in der Mitte lag.

Neun, die Zahl der Schöpfung, die Schicksalszahl. Sie symbolisiert unter anderem das Auge Gottes, jedenfalls wenn man der numerologischen Deutung Glauben schenkt. Tatsächlich entschied sich an dieser wie an jeder anderen Universität das künftige Schicksal der Studenten, die Anzahl der Wege mochte also mit Bedacht gewählt worden sein.

So ziemlich von Anfang an hatten sich die Freunde gefragt, wieso der Architekt dieser Anlage ausgerechnet den Nabel des Campus leer gelassen hatte, zu welchem alle neun Wege führten. Dieser Ort schrie doch förmlich nach einem bronzenen Denkmal, einem Stadtwappen aus Blumen oder wenigstens dem Logo der Uni. Bei so ziemlich jedem Betreten hatten sie sich gegenseitig mit scherzhaften Mutmaßungen übertroffen, wieso hier gähnende Leere herrschen mochte. Von einem schwarzen Loch war die Rede gewesen und davon, dass man auf dem Platz womöglich einen mittelalterlichen Pranger für unbeliebte Professoren aufzustellen gedenke, damit die Studierenden mit faulen Tomaten nach ihm werfen könnten.

Heute war niemandem nach Scherzen zumute.

»Ich glaube ich verstehe jetzt, was dieser Platz uns sagen soll. Seht euch den Campus doch genauer an, geht dabei von außen nach innen. Wir kamen einst von dort draußen, wurden in den Gebäuden geschliffen und sind am Ende hier in der Mitte gelandet, am absoluten Endpunkt angelangt. Doch da ist vorläufig noch nichts. Wir sind in diesem Augenblick wie unbeschriebene Blätter, die erst mit Inhalten gefüllt werden müssen. Gut für den Ernst des Lebens gerüstet, ziehen wir hinaus in die weite Welt.

So bedeutet das Erreichen dieses Zieles im Grunde eher einen neuen Anfang. Ergo steht die Leere für die unbegrenzten Möglichkeiten, die uns ab heute offen stehen. Wir sind die Schmiede unseres Schicksals«, referierte Luna mit verklärtem Blick.

»Entschuldige, aber ich denke darüber weitaus pragmatischer. Man kann hier einfach gut hübsche Mädchen treffen und wunderbar knutschen – weil man schon von weitem mitkriegt, wenn einer sich nähert«, meinte Marcel.

»Banause. Obwohl du natürlich vollkommen Recht hast, wie ich sehr genau weiß«, entgegnete Luna, verschmitzt lächelnd.

Cem bemerkte, wie sie den Rothaarigen mit einem Augenaufschlag bedachte. In ihrem Blick lag heißes Begehren, was Marcel jedoch kaum zu bemerken schien. Tröstlich fand Cem insofern nur, dass auch zwischen diesen beiden Turteltauben schon bald mehrere hundert Kilometer liegen würden.

Ja, er war eifersüchtig und das hatte berechtigte Gründe. Er konnte grundsätzlich nicht damit umgehen, wenn jemand Frauen nach Belieben benutzte und wieder ausrangierte. Erst recht nicht, wenn es sich dabei um Luna handelte. Die war bildhübsch und intelligent, besaß dazu auch noch innere Werte. Für Schürzenjäger wie Marcel war solch eine Frau viel zu schade. Eine wie sie musste man respektieren und mit Bedacht umwerben, bevor man ihr seine Liebe gestand.

Es war an der Zeit, in die Offensive zu gehen. Sonst würde er sie wahrscheinlich nie wieder zu Gesicht bekommen.

»Ich hätte einen Vorschlag für euch, dann fiele uns der Abschied sicher ein wenig leichter. Treffen wir uns doch jedes Jahr für ein entspanntes Wochenende in Bayreuth, um der alten Zeiten willen. Da wird es viel zu erzählen geben. Bis dahin könnten wir per Telefon in Verbindung bleiben«, schlug er vor.

Luna war zu seiner Freude sofort Feuer und Flamme für diese Idee, einzig Marcel wirkte alles andere als begeistert. Er verweigerte schließlich notorisch die Teilnahme an Klassentreffen von Grundschule und Gymnasium, hielt solche Veranstaltungen für pure Zeitverschwendung. Was kümmerte es ihn, was ein Hansi Schneider aus der zweiten Klasse inzwischen so machte?

Nach kurzem Zögern willigte auch er ein. In diesem Fall lagen die Dinge ein bisschen anders. Mit diesen zwei Menschen hatte er als Erwachsener viel Zeit verbracht, eine echte Verbindung zu ihnen aufgebaut. Sie verließen die Uni mit ein und demselben Abschluss und es würde hochinteressant sein, was jeder einzelne daraus machte. Es wäre außerdem kein offizielles Ehemaligentreffen, sondern eine zwanglose Zusammenkunft von Freunden.

»Einverstanden!«

*

November 1989, Würzburg

In Ostberlin war der Teufel los. Marcel Lünitz verfolgte gegen Mitternacht fassungslos über die Endlosschleifen im Fernsehen, wie sich immer mehr DDR-Bürger spontan auf den Weg zu den innerstädtischen Grenzübergängen machten, die um neun Uhr nach einem groben Schnitzer des SED-Funktionärs Schabowski geöffnet worden waren. Wahre Menschenmassen bewegten sich in Richtung Bornholmer Straße. Die Schlagbäume standen senkrecht in die Höhe und die konsternierten Grenzbeamten schienen mit der unvorhergesehenen Situation heillos überfordert zu sein. Noch glaubte er nicht daran, dass die Sowjets das Grenzregime tatsächlich aufgegeben hätten und dies der erste Schritt zur Wiedervereinigung Deutschlands wäre.

 

Ein paar Tage später dämmerte ihm jedoch, dass Glasnost und Perestroika, die Montagsdemonstrationen und vor allem die drohende Staatspleite der DDR wohl doch dazu geführt haben mussten, dass die Mauer zukünftig Geschichte war. Kilometerlange Staus gen Westen bildeten sich auf den Autobahnen. Horden von neugierigen Ossis holten sich in den grenznahen Städten freudestrahlend ihre hundert D-Mark ›Begrüßungsgeld‹ pro Nase ab, um sie in Elektrogeräten oder Südfrüchten gleich wieder anzulegen. Mittlerweile blieben auch alle restlichen Grenzübergänge dauerhaft für Autos und Fußgänger geöffnet, tausende Visa wurden auf die Schnelle ausgestellt.

Marcel sah wie elektrisiert zu. Mit einem Schlag war ihm klar geworden, was diese geschichtsträchtige Wende für ihn persönlich bedeuten könnte. Während die Fernsehbilder von endlosen Blechschlangen aus luftverpestenden Trabis und Wartburgs an ihm vorüberzogen und seine Eltern voller Skepsis die immensen Belastungen diskutierten, die nun auf die BRD zukämen, dachte er einen Schritt weiter.

Jenseits von Mauer und Grenzzaun lag ein rückständiges Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ein Eldorado für Pioniere. Da drüben besaß bislang niemand eine Photovoltaikanlage für sein Haus. Selbst hier im Westen war die umweltschonende Technologie derzeit erst im Kommen, musste noch netzfähig ausgebaut werden. Die Politik ließ durchblicken, es werde an einem staatlichen Subventionierungsprogramm namens 1000 Dächer gearbeitet, damit künftig erheblich mehr Normalverdiener in der Lage seien, ihr Dach mit solchen Anlagen zu bestücken. Umweltverbände hatten entsprechende Programme schon länger gefordert, aber mit der Öffnung der Grenze zur DDR wurde diese Angelegenheit sicher dringlich.

Er hatte ohnehin vorgehabt, sein berufliches Betätigungsfeld auf die sauberen, regenerativen Energien auszurichten. Einzig die Initialzündung hatte ihm bis heute gefehlt. Seine Gedanken rasten, überschlugen sich förmlich.

Nach einer Viertelstunde des inneren Jubilierens erhob er sich abrupt von der Couch, baute sich vor den erstaunten Gesichtern seiner Eltern auf und verkündete mit todernster Miene:

»Ihr seid mir in den letzten Monaten andauernd in den Ohren gelegen, ich solle mir endlich einen anständigen Job suchen und aufhören, auf eure Kosten Luftschlösser zu bauen. Nun denn, jetzt ist es soweit. Ich hatte in den vergangenen Monaten das Gefühl gehabt, dass die Lösung in greifbarer Nähe liege. Heute kann ich euch tatsächlich meine Pläne präsentieren, Erich Honecker sei Dank.

Vor euch steht der künftige Gründer einer innovativen Firma für Photovoltaik. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Ich werde mir fürs Erste einen verkehrstechnisch günstigen Standort an der einstigen Grenze suchen und es mir zum Ziel machen, jedes Haus in Ostdeutschland mit einer Solaranlage auszustatten. Das da drüben ist eine unberührte Goldgrube, versteht ihr?

Sobald dort die Grundbesitzverhältnisse geklärt sind, kann ich expandieren und mir eine richtig große Fabrik hinstellen. Dazu muss ich mich taktisch in Richtung der polnischen oder tschechischen Grenze bewegen. Auch in diesen Ländern wird es bald riesigen Bedarf geben«, erklärte Marcel voller Euphorie.

Seine Eltern rührten sich nicht, schauten ihn nur mit großen Augen an, wirkten ein wenig ungläubig. Scheinbar hatte er Mama und Papa mit seinem Monolog völlig überrumpelt.

Niklas Lünitz räusperte sich, rang sichtlich um passende Worte. Er wollte einerseits den Tatendrang seines Sohnes nicht ausbremsen, andererseits aber auch nicht riskieren, dass er sich von null auf hundert in solch ein unwägbares Abenteuer stürzte.

»Das ist ja in der Theorie alles schön und gut, aber glaubst du wirklich du wärst der Einzige, der auf diesen glänzenden Einfall kommt? In Westdeutschland existieren doch schon längst entsprechende Firmen und diese werden dir höchstwahrscheinlich zuvorkommen. Als David gegen Goliath kannst du dich finanziell blitzschnell in die Nesseln setzen«, gab er zu bedenken.

Marcel winkte mit mürrischem Gesicht ab.

»Und wenn schon. Dieser Markt ist riesig, den können die gar nicht alleine sättigen. Ich werde mir meinen Anteil am Kuchen sichern, so viel ist gewiss. Hier zählen in erster Linie Schnelligkeit und Geschäftssinn. Das technische Know-how besitze ich, daran kann mein Projekt nicht scheitern.

Also was ist, wirst du mich wenigstens mit deiner Firmenerfahrung tatkräftig unterstützen? Du hast es mit der Möbelmanufaktur doch schließlich auch geschafft, dir einen Marktanteil zu sichern, obwohl es damals schon jede Menge Einrichtungshäuser und sogar erste Ketten gab!«

»Grundsätzlich hast du Recht, natürlich. Aber lass mich bitte zuerst ein paar Erkundigungen einholen, bevor ich dir fest zusage, ja? Du bräuchtest einen hohen Gründungskredit, möglichst für eine GmbH, wir müssten ein wenig Marktforschung betreiben, und so weiter und so weiter … «

»Das weiß ich selber!«, fiel ihm der Sohn ins Wort. »Ich ziehe das Ding durch, mit oder ohne deine Hilfe. Ich denke in Lösungen, nicht wie du in Problemen. Auf mein Bauchgefühl kann ich mich blind verlassen. An diesen Tag der Entscheidung wirst du noch lange zurückdenken«, konstatierte er mit glänzenden Augen. Anschließend stürmte Marcel entschlossen aus dem Wohnzimmer, den Blick in weite Ferne gerichtet.

»Und was wird jetzt mit deiner angefangenen Doktorarbeit?«, rief seine Mutter hinter ihm her.

»Geschenkt!«

Schon beim dritten Treffen in Bayreuth konnte er den staunenden Freunden von seinem prosperierenden Unternehmen erzählen, welches er in unmittelbarer Nähe des früheren Grenzübergangs Rudolphstein an der A 9 gegründet und auf den Firmennamen Solisol getauft hatte. Dass der maisgelbe Schriftzug sich aus den Worten Solidarität und Sonne zusammensetzte, bemerkte Luna sofort. Sie war ein heller Kopf und erkannte auf Anhieb, wie diese Solidargemeinschaft funktionierte.

Ihr Schwarm aus Studienzeiten brachte hochmoderne Technik nach Ostdeutschland, die seit September 1990 sogar vom Staat subventioniert wurde.

Seine Kunden, meist Privathaushalte, ermöglichten ihm – jedenfalls in finanzieller Hinsicht – ein sorgloses Leben. Marcel hatte zweifellos den richtigen Riecher gehabt, konnte sich mittlerweile vor Aufträgen kaum retten.

Luna fand insbesondere toll, dass er dabei auf eine nachhaltige Energiequelle setzte. Für dieses Umweltbewusstsein bewunderte sie ihn, den im Moment erfolgreichsten Macher des Trios, obgleich er mit seinem Maßanzug für ihren Geschmack inzwischen ein bisschen überheblich daherkam. Wie auch immer, er hatte sich seinen rasanten geschäftlichen Erfolg redlich verdient, das mussten Cem und Luna ihm neidlos zugestehen.

Achtundzwanzig hochmotivierte Mitarbeiter brachten Marcel Lünitz im sogenannten Frankenwald der Erfüllung seiner ambitionierten Unternehmerträume jeden Tag einen kleinen Schritt näher. Es war an der Zeit, nach den Sternen zu greifen – denn die Sonne besaß er schon, wie er gerne zu scherzen pflegte.

Unter anderem diese Absicht drückte sein Firmenlogo aus, er überließ da nichts dem Zufall. Der ehrgeizige Jungunternehmer glaubte an die archaische Macht einprägsamer Symbole, nahm sich diesbezüglich erfolgreiche Großkonzerne zum Vorbild.

Das erste O des Namenszuges Solisol war in Form einer stilisierten Sonne gestaltet, wobei die längste der orangenen Strahlen am Ende einen Stecker trug, welcher unten aus dem Logo baumelte. Das Innere des zweiten O hatte der sündhaft teure Werbegrafiker als farbgleiches Sternchen geformt.