Im Schatten der Dämmerung

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From the series: Die Diener der Krone #1
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Der Schatten

Die Sonne spendete ihre letzten Trost bringenden Strahlen, bevor sich ein dunkler Mantel über Land und Leute legen würde. Ein einsamer Reiter ritt zügig am schützenden Wald entlang. Gedankenvertieft pfiff er ein melancholisches Lied in die rasch kühler werdende Abendluft. Kaum einer kannte es noch, es stammte aus einer längst vergangenen Zeit und erzählte von den altvorderen Königen, die alle Völker und Rassen Calvaldurs unter einem Banner vereinten. Obwohl er sehr alt war, stammte es doch aus einer Zeit lange bevor er geboren war. Seine Sorgen waren in letzter Zeit schlimmer geworden und nicht einmal die Menschen waren mehr in einem Bündnis. Fast überall waren geordnete Strukturen verfallen und es bildeten sich immerzu Gruppen, die glaubten ihre Macht ausleben zu müssen. Bis auf wenige Ausnahmen überließen die Könige es den unter ihnen herrschenden Strukturen sich selbst zu festigen, solange die Steuern ausreichend flossen.

Große Kriege hatte es lange nicht mehr gegeben, aber es wimmelte überall von Soldaten und Söldnern, da jeder Stadtherr seine Truppen brauchte um halbwegs für Ordnung zu sorgen. Doch längst boten sie nicht nur Schutz. Sie waren Fluch und Segen zugleich.

Unermüdlich trug der kastanienbraune Hengst den vom Alter gezeichneten Wanderer. Ohne ein reales Ziel seiner Reise zu kennen, setzte er Tag um Tag seinen Weg fort. Überall wo er auftauchte erzählte man sich wundersame Geschichten über einen Schatten. Eine konturlose Erscheinung, die wie aus dem Nebel auftauchte und die Schergen der zahllosen gierigen Stadthalter niederstreckte. Viel Hoffnung war dem einfachen Volk nicht mehr geblieben. Einen ernsten Widerstand, der der Gewalt und der Ausbeutung Einhalt gebot, gab es nicht mehr. Andächtig wurde erzählt, wenn der Schatten den üblichen Plünderungen und der Willkür gegen das eigene Volk entgegentrat, um dann gleichsam wieder im Schleier des Waldes zu verschwinden. Diese seltsame Gestalt war die Hoffnung, die die letzten Widersacher am Leben hielt.

Jahre waren so verstrichen, Tyrannen wechselten sich ab, um dann selbst in Vergessenheit zu geraten. Magier, die einst zum Schutz aller gedient hatten, zeigten sich selten und die meisten lebten zurückgezogen. Sie waren des fortwährenden Wechsels von Krieg und Frieden überdrüssig geworden. Bis auf Splitter­gruppen hatten sie sich zu dem Bündnis der Acht Türme zusammen­geschlossen und widmeten sich der Lehre und der Heilkunst und solange keiner zu mächtig und finster wurde, überließen sie die Reiche der Menschen sich selbst. Es gab nur noch wenige Narren, die zu hoffen wagten. In den Dörfern zeigte sich stets das gleiche Bild. In den Gesichtern der Kinder spiegelte sich die Aussicht auf eine trostlose, mit jedem Tag unsicherer werdende Zukunft. Die Strukturen zerfielen vielerorts und das organisierte Verbrechen nahm sich, was es wünschte. Übrig bleib das Nötigste, um zu überleben. Die Bauern mussten geheime Verstecke anlegen, wollten sie die Winter überleben. Viele mussten in den Wäldern wildern oder verfielen selbst dem Drang zu stehlen. Etliche hatten sich aufgemacht, um in den wenigen scheinbar noch intakten Städten Arbeit zu finden. Doch selbst hart zu arbeiten, reichte meist nicht, um davon auch leben zu können. Meist bot das Militär ihnen den einzigen Ausweg. Ein großer Teil der Männer verließ in den Wintermonaten die Dörfer um sich als Söldner ausbilden zu lassen. Geld gegen Gefolgschaft, das war das Geheimrezept für viele der Stadthalter. Im Sommer bot es den Dörfern zudem scheinbaren Schutz vor kleinen Überfällen. Aber von Frieden war fast nirgends mehr zu sprechen.

Bald schon ließ der Reiter den Wald hinter sich und hielt auf eine Rauchsäule zu. Als er sich näherte, musste er feststellen, dass er erneut zu spät war. In den vergangenen Wochen war es schlimmer geworden und er wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Aber das hier war nicht das Werk von ein paar herum­streunenden Soldaten, die sich mit Raubzügen bereichern wollten. Seit einigen Tagen folgte er einer Gruppe von etwa fünfzehn Mann.

Legarus blieb stehen und horchte. Er kam an einem Ausläufer des Waldes vorbei. Der nun scharfe Wind trug Stimmen des Grauen zu ihm heran. Es erhob sich bereits eine Rauchwolke in weiter Ferne. Er war soweit entfernt, dass er die einzelnen Hütten nicht einmal erkannte. Einige Menschen liefen schreiend davon, doch wurden sie schnell eingeholt. Seine Miene verfinstere sich und er trieb sein Pferd zur Eile an. Doch er war zu weit entfernt. Als die letzten Kehlen verstummten, saß er noch im Sattel und alles was der Wind verbreitete war Kälte. Angelangt lähmte ihn das Grauen. Er hatte schon viel gesehen, doch dies überstieg alle Vorstellungs­kraft. Wer auch immer die waren, sie hatten alles Leben ausgelöscht. Die Flammen nahmen sich den Hütten an und begannen die Spuren zu vertilgen. Die spärlich ausgestatteten Häuser brachen nacheinander in sich zusammen und beißender Gestank legte sich wie ein undurchdringlicher Schleier über das Dorf. Der Geruch von blutdurchtränkter Erde und verbrennenden Leichen hing an jeder Brise, die sich durch die ausgestorbene Siedlung zwang, und drückte schwer gegen die Brust. Allein der Anblick dieser Schandtat reichte, um ihm zuzusetzen, doch mit dem Tod, der bei jedem Atemzug tiefer in die Lungen drang, verkrampfte sich sein Magen. Eigentlich wollte er nur noch weg, an einen Ort, wo er wegsehen konnte und er nicht mit jeder schwindenden Sekunde leiden musste.

Hier gab es nichts mehr, was Legarus tun konnte. Doch als er weiterziehen wollte, fühlte er, dass er nicht allein war. Zögerlich folgte er seinem Gespür. Er wagte kaum zu hoffen einen Über­lebenden zu finden. Erstaunt fand er ein kleines Mädchen, kaum älter als vierzehn, über seine Mutter gebeugt. Zögernd näherte er sich dem Kind. Lange bemerkte es ihn nicht. Doch urplötzlich sprang es auf und riss ein Schwert von der Wand, um den Leichnam seiner Mutter zu verteidigen. Verkrampft hielt es sich am Schwert fest, das zu schwer für seine Hände war. Die Miene des Mädchens war genauso starr wie ausdruckslos. Nur seine Augen strahlten vor Hass und Wut. Doch dann regte es sich nicht mehr. Es stand nur da. Die Platzwunde am Kopf war bereits am trocknen, aber ansonsten war es kaum verletzt. Dennoch wirkte es wie tot. Von innen tot. Dies alles war zu viel Grauen, zu viel sinnlose Gewalt. Der Tod war allgegenwärtig. Legarus hielt in seiner Bewegung inne. Trauer überwältigte das Mädchen und ertränkte die Wut.

Das Schwert nicht achtend, nahm Legarus das Mädchen behutsam in den Arm. Ohne Vorwarnung ergoss sich ein Strom warmer Tränen auf den Mantel des Mannes. Die Berührung war sanft, die Umarmung tröstend. Doch es war nicht der Fremde, den es in den Armen hielt. Es vergaß seine Anwesenheit. Es war für das Mädchen wie eine letzte Umarmung mit seinen Eltern. Lange stand es schweigend so da, bevor es erschöpft zusammen­brach. Vorsichtig trug Legarus es aus dem Dorf, hüllte es in eine seiner Decken, und säuberte und verband die Wunde am Kopf.

Er suchte in den Taschen seines Pferdes nach einer kleinen Flasche und träufelte dem Mädchen einige Tropfen davon auf die Lippen, damit es ruhiger schlief. Sein Atmen beruhigte sich und Legarus musste sich weniger sorgen, dass es sich im Schlaf verletzen würde. Es war besser wenn sein Kopf nun ruhig lag, auch wenn es nicht lebensbedrohlich war, war es besser wenn er sich darum kümmerte.

Er trat aus dem Gebüsch in das er es gelegt hatte und sah sich in alle Richtungen um. Niemand war zu sehen, doch er wusste in etwa wohin sich die Schergen verzogen hatten. Diesmal durfte er sie nicht davon kommen lassen. Der Bogen war mehr als über­spannt und er war ihnen nah genug.

Mit einem nachdenklichen Blick auf das Mädchen stieg er auf sein Pferd, gab diesem die Sporen und ritt in die Nacht hinein.

Gegen Morgen bemächtigten sich dunkle Träume des Mädchens. Die Wirkung des Trankes war verflogen und sein Unterbewusstsein ließ es die letzten wachen Minuten wieder und wieder durchleben. Es sah die sterbende Mutter blutüberströmt zu Boden sinken, während ihr Mörder dunkel auflachte.

Es hatte dies alles aus nächster Nähe gesehen. Es hätte sich verstecken sollen, doch es konnte es nicht. Als der Mörder abermals auf ihre Mutter einstechen wollte, war sie aus der Hütte hervorgesprungen und auf ihn zugestürmt. Dieser lachte aber nur dunkel auf und trat es mit einem kräftigen Hieb zur Seite. Es stürzte gegen die Wand und verlor sein Bewusstsein.

Im Osten war der Morgen längst noch nicht zu sehen, als das Mädchen aus einem Albtraum erwachte. Es richtete seinen Ober­körper auf und lehnte sich gegen den Stamm. Es wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Es war noch erschöpft, aber es fürchtete sich zu sehr einzuschlafen. Der alte Mann war seit zwei Stunden zurück und ruhte sich aus. Schlaf fand er aber keinen. Er versuchte sich einen Reim daraus zu machen, doch die vergangenen Wochen ergaben keinen Sinn. Auch nicht das Gelächter der Männer, als er sie schließlich eingeholt hatte. Sie waren wie von Sinnen und selbst die Letzten hatten bis zum Tod gekämpft obwohl ihnen da bewusst sein musste, dass sie nichts gegen ihn ausrichten konnten. Er gab dem Mädchen ein Stück Brot zum Kauen, damit es etwas zu tun hatte. Davon, dass er weggewesen war, sprach er kein Wort.

Der Alte musterte das Mädchen mit durchdringenden Blicken und so trafen sich ihre Blicke gedankenschwer. Der einsame Pilger und das Mädchen waren sich fremd, doch gab es etwas, das sie verband. Legarus konnte es nicht zurücklassen.

Am Morgen brachen sie sehr früh auf. Das Mädchen war unruhig und konnte nicht sitzen bleiben. Ständig stand es auf und ging hin und her. Ihr Kopf musste immer noch schmerzen, doch es war zu traurig und zu wütend, um es zu merken. Legarus hätte es besser gefunden, wenn das Mädchen noch liegen geblieben wäre, doch da es dies wohl nicht konnte, fand er es besser sie würden hier weggehen. Mit dem anbrechenden Morgen würde das Mädchen sicher zurück ins Dorf wollen. Aber dort gab es nichts, das es sehen sollte. Sie ließen den Ort des Grauens schweigend hinter sich. Nur einmal, als das noch immer glimmende Dorf am Horizont unterzugehen drohte, drehte sich das Mädchen um, und blickte mit gemischten Gefühlen auf die einstige Heimat. Es wusste, dass es nicht blieben konnte und es wollte es auch nicht.

 

Der einst einsame Pilger hatte nun Gesellschaft. Darüber wunderte er sich wohl selbst am meisten. Es war schon lange her, dass er unter Menschen weilte. Dennoch hatte er viel Trauer und Leid gesehen und oft auch Mitleid gefühlt, aber er hatte sich nie einer verlassenen Seele angenommen. Er half, wenn er sah, dass seine Hilfe notwendig war, aber dann verschwand er so wie er gekommen war. Er wusste zu welchen Forderungen es führte, wenn er irgendwo länger blieb. Aber das Mädchen würde diese Wünsche nicht äußern und vielleicht fand er auch einen sicheren Ort für es.

Lange durchstreiften sie das Land, ohne dass ein überflüssiges Wort fiel. Unruhig hielt der alte Mann den Horizont im Blick. Er suchte nach Zeichen, die er eigentlich nicht sehen wollte. Nach einem weiteren Tagesmarsch gegen Osten, entzündete Legarus ein kleines Lagerfeuer an das sie sich setzten.

„Wer bist du?“ Das vom Schicksal getroffene Mädchen gab erstmals ein Wort von sich. Legarus hatte sich an das Schweigen des Mädchens gewöhnt, und war sichtlich überrascht von der unvermittelten Frage. Er dachte eine Weile nach und wog seine Worte genau ab.

„Ich bin Legarus, Feind aller Verräter, Freund, dem der einen braucht.“ Ein Glitzern in seinen Augen verriet, dass er nicht viel von sich preisgeben wollte. Seine zerschlissenen und von der Sonne geblichenen Kleider standen in groteskem Gegenteil zum restlichen Erscheinungsbild. Ihn umgab eine kraftvolle Aura, die Willenskraft und Weisheit ausstrahlte. Sein bis jetzt nachdenkliches Gesicht nahm weichere Züge an, als er die Frage erwiderte. Durch ein weiteres Lächeln des alten Mannes wurde das Mädchen redseliger und begann zaghaft von sich zu erzählen.

„Mein Name ist Asylma und mein Vater war Manarus.“ Stolz erwachte in den traurigen Augen des Kindes, als es fortfuhr. „Er war ein großer Krieger.“

Legarus nickte und versuchte sich an einen solchen Namen zu erinnern. Doch er fand keine Erinnerung an einen Mann, der infrage kommen konnte. Doch das sorgte ihn nicht, ohnehin waren die Namen, die es bis zu ihm schafften, von einem schlechten Ruf begleitet. Wahrscheinlich war ihr Vater einer der vielen Bauern, die aus Not zum Dienst an den Waffen bereit waren. Und die Geschichten eines großen Kriegers wurden gerne erzählt, um den Kindern das Gefühl von Sicherheit zu schenken.

In Tränen sprach Asylma von ihrem Vater und ihrer Mutter. Über den einen Tag aber verlor es kein Wort. Sie redete und verdrängte, was sie nicht verkraften konnte. Legarus war ein guter Zuhörer. Er ließ Asylma ohne viele Unterbrechungen reden. Tränen rannen ihre Wangen hinunter, aber Asylma verdrängte das und wischte sie weg. Jedes Wort, das ihrem Mund und gleichsam ihrer Seele entwich, schenkte ihr neue Kraft und ihre Muskeln entspannten sich. Asylma versuchte mit ihren Lippen ein Lächeln zu formen, doch die Augen blieben dabei leblos. Legarus bereute es nicht, sich ihrer angenommen zu haben. Doch Gedanken setzten sich bei ihm in Gang, die er nicht mehr zum Verstummen bringen konnte. Es durfte nicht so weitergehen. So oder so, er musste einen neuen Weg einschlagen.

Asylma fürchtete sich vor dem Einschlafen und so versuchte sie sich der Müdigkeit zu widersetzen. Mehrmals versuchte Legarus, dass sie schlafen sollte, doch jedes Mal stellte sie eine andere Frage oder erzählte etwas, das ihr Vater ihr erklärt hatte. Legarus verstand sie nur zu gut und kochte ihr einen Tee, der ihr half einzuschlafen. Legarus beschloss eine Stadt aufzusuchen, um Asylma ein Pferd zu besorgen und den Proviant aufzustocken. So wurde Lasyla, eine kleine Provinzstadt am Rande des Einfluss­gebietes Masborns, zu ihrem neuen Ziel. Asylma hatte sich ihrem neuen Schicksal ergeben. Was blieb ihr anderes übrig? Der schweigsame Fremde war der einzige, den sie hatte. Die Sterne schimmerten schon lange durch die schützenden Äste der Eiche, unter der sie lagen, bevor der Schlaf sie überwältigte.

Asylma war froh, als die Nacht vorbei war und sie aufbrachen. Sie erhaschten neugierige Blicke, wenn sie an vereinzelten Höfen vorbeikamen. Auch wenn Legarus abseits der Wege ritt, so konnte er es nicht überall vermeiden gesehen zu werden. Die Bauern versteckten sich und schielten hinter zerschlissenen Gardinen hervor. Noch hielten sich die meisten in ihren Hütten auf. Viele waren nach dem Winter eben erst von ihren Söldnerdiensten zurückgekehrt und kümmerten sich nun um ihre Werkzeuge, damit sie ihren letzten Sold, den sie oft genug in Form von Saatgut erhielten, bald in die Erde bringen konnten. Einzelne Reiter bedeuteten auf dem Land selten etwas Gutes. Insbesondere wenn es sich nicht um einen Ackergaul handelte. Besonders diese Zeit kurz vor der Aussaat war überlebenswichtig.

Gegen Mittag sahen sie unter der hellstrahlenden Frühlings­sonne eine kleine verfallende Stadt, die aus einem ungeordneten Haufen von dicht stehenden Häusern bestand. Am Stadttor angelangt, wurden sie von schlecht gelaunten Wachsoldaten begrüßt, die bis gerade eben friedlich unter einem Schatten spendenden Strauch ihren Rausch ausgeschlafen hatten.

„Wer seid ihr? Was wollt ihr?“, raunte sie ein mürrischer Soldat an, ohne sich die Mühe zu machen seine Missachtung zu verheimlichen. Legarus suchte ein möglichst unbedeutendes Erscheinungsbild abzugehen.

„Wir sind Pferdezüchter aus Horjza und wollen hier Lebens­mittel erwerben und ...“

Einer der Soldaten wank ab.

„Ja ja, ist schon gut!“ Darauf gaben sie den Weg durch das Tor frei. Als sie passierten, begutachteten die Soldaten sie mit bösen Blicken. Sie waren schon ein Stück weit gegangen und merkten so nicht, wie sich einer aus dem Wachtrupp auf den Weg zur Stadtmitte begab.

In der Stadt bot sich ihnen ein trostloses Bild. Auch hier versteckten sich die Einwohner in ihren Häusern. Für eine Stadt waren die Gassen wie ausgestorben. Oft waren es angetrunkene Soldaten, denen sie begegneten. Andere gingen zügigen Schrittes voran und schenkten ihnen keine Beachtung. Auf Fragen antworteten sie, wenn überhaupt, mit einem Kopfschütteln, ohne dabei ihren Gang zu verlangsamen. Allerorts waren die Häuser am verfallen und waren nur notdürftig mit Brettern und Lehm ausgebessert. Der Zahn der Zeit hatte an allen Ecken seine Spuren hinterlassen. Sie hatten den Stadtkern schon hinter sich gelassen, als sie ein eintöniges Hämmern vernahmen. Sie näherten sich dem Lärm und sahen, dass es sich um einen Schmied handelte, der lustlos auf ein verbeultes Stück Eisen schlug, ohne diesem eine erkennbare Form zu verleihen.

„Seid gegrüßt werter Herr“, meldete sich Legarus zu Wort. Als der Handwerker keine Anstalten machte aufzuhören, fuhr er fort. „Wir suchen einen Händler. Wir bräuchten ein Pferd und ein wenig Proviant. Könntet ihr uns weiterhelfen?“

Der letzte lustlos geführte Hammerschlag verhalte und Stille trat ein. Langsam hob der Fremde den Kopf und zeigte sein von Trauer verzehrtes Gesicht. Mit scharfen, aber unterlaufenen Augen musterte er die beiden und sein Blick ruhte etwas länger auf dem Pferd, bevor er langsam den Mund öffnete.

„Dann müsst ihr es stehlen.“ Ein wehleidiges Grinsen verzerrte sein Gesicht. „Seit Masborn die Stadt seinen Soldaten überlässt, könnt ihr vieles nicht mehr kaufen. Alles gehört den Soldaten und die teilen nicht gerne.“ Wieder begann er wie wild auf sein Stück Eisen einzuhämmern. „Das geht jetzt schon so lange so, dass keine Familie mehr hier wohnt, die nicht mindestens einen Soldaten in der Familie hat. Wenn ich euch einen Rat geben darf, dann macht ihr auf der Stelle kehrt. Ich weiß von was ich rede.“ Eine lange peinliche Pause setzte ein und seine Muskeln spannten sich, als Wut in seinen Augen aufloderte. Legarus, den ein ungutes Gefühl übermannte, wurde es unwohl in seiner Haut und mühte sich vergebens nach passenden Worten zu suchen.

Doch wieder war es der muskulöse Handwerker mit seinen zorngeladenen Gesichtszügen, der die Stille durchbrach. „Mein Sohn“, begann er, doch die Worte wollten nicht so recht kommen „er hatte sich geweigert, die Soldaten zu bezahlen und ihnen beitreten wollte er auch nicht ...“ Seine ohnehin finstere Miene wurde noch düsterer, während sich seine Faust um den Hammer ballte, sodass alles Blut aus seinen Fingern wich. Abermals erbebte seine Stimme. „... und sie haben ihn auf offener Straße hingerichtet.“ Er biss sich auf die Lippen. „Auf ihn eingeschlagen, bis er blutbeschmiert im Dreck lag.“ Zum Schluss schilderte er nur noch brüchig und jedes Wort verlangte ihm unglaubliche Willenskraft ab. Als er geendet hatte, stand er schwer atmend vor seinem Amboss und starrte leblos auf die festgestampfte, Öl getränkte Erde, ohne die beiden Fremden zu beachten.

Nach einem weiteren gedankenschweren Moment des Schweigens, wollten sich die beiden zum Weitergehen umdrehen. Doch da suchte der Schmied den direkten Augenkontakt mit Legarus. Dieser hielt dem prüfenden Blick stand und fühlte sich dadurch ermutigt nachzuhaken.

„Tut mir leid, dass diese dunkle Zeit auch euch nicht verschont hat.“ Legarus zögerte. „Könntet ihr uns nicht doch weiterhelfen?“ Obwohl der Schmied den Blick nicht von Legarus wandte, zeigte er keine Regung. Legarus näherte sich ihm und fuhr mit gesenkter Stimme fort, sodass nur dieser es vernehmen konnte. „Ich bin Amulius Agamemnon. Wir sind auf dem Weg zu der Stadt der Vergessenen. Unsere Treue gilt den Verfolgten, jenen, die uns vor langer Zeit verlassen haben.“

Die Miene des Schmieds versteinerte nach einem flüchtigen Zucken. Seine Augen verengten sich und er maß Legarus von oben bis unten ab. Langsam richtete er sich auf und sein Blick wanderte erneut zu dem stattlichen Pferd herüber. „Ist das wahr?“, hauchte er und seine Gedanken suchten nach einem Beweis.

„Es ist wahr. Der Blutzoll ist zu hoch. Es muss sich etwas ändern und ich suche Rat“, sprach Legarus leise.

Der Schmied zögerte und Legarus spürte, wie er zwischen Glauben und Zweifel hin- und hergerissen war. Legarus griff unter seinen Überhang und zog ein kleines Messer hervor. Reflexartig wich der Schmied zwei Schritte zurück, doch Legarus richtete es nicht auf ihn. Stattdessen flüsterte er etwas Unverständliches. Ein blaues Leuchten erschien und der Schmied traute seinen Augen nicht. Er sah staunend zu wie Legarus sein Messer durch das Stück Eisen zog. Ungläubig nahm der Schmied die zwei Hälfen in seine Hände und fuhr prüfend mit einem Finger an der frischen Kante vorbei. Sie war kühl und glatt als wäre sie frisch poliert.

„Dann sind die Legenden wahr.“ In Gedanken setzte er zu­sammen was er noch alles wusste. Er sah Legarus an und wusste um dessen Macht. „Ich möchte dir Glauben schenken“, hauchte der Schmied und richtete sich nun erst zu seiner vollen Größe auf. Hatte er bis zu diesem Augenblick nur aus Trotz in dieser Totenstadt vegetiert, so war es jetzt der schier unersättliche Durst nach Vergeltung, der ihm die Kraft verlieh, weiter zu leben. Die Wandlung des Ungetüms war so absolut und unerwartet, dass Asylma erschrocken ein paar Schritte zurück wisch. Sie sah förmlich, wie jede Faser des kindlosen Vaters belebt wurde. Die Augen bekamen einen neuen Glanz, während seine Willenskraft stärker als je zuvor auflebte. Auch Legarus wusste nicht, wie ihm geschah, als nun ein scheinbar jüngerer Mann in der Blütezeit seines handlungsreichen Lebens vor ihm stand.

„Kommt, seid meine Gäste. Wir sollten nicht hier draußen zusammen gesehen werden.“ Seine Stimme war selbstbewusster. Seine Augen strahlten eine unbändige Kraft aus, und verrieten den frisch erwachten Tatendrang. Mit einer höflichen Geste bat er die erstaunten Fremden in seine Behausung einzutreten. Er legte eine Eleganz an den Tag, die man ihm aufgrund seines schwerfälligen Körperbaus nicht zugetraut hätte. Im Innern seines Hauses waren die Folgen des kargen Lebens sichtbar. Das einzige Mobiliar bestand aus einem grob gefertigten Tisch, drei Strohstühlen und einem Wandschrank. Sonstige Gegenstände – von einem motten­zerfressenen Teppich abgesehen –, die zur Zierde hätten dienen können, fehlten gänzlich. Den Eigentümer störte die Schlichtheit wenig, und er forderte sie auf, Platz zu nehmen.

Die beiden Männer unterhielten sich fieberhaft über die dunklen Kräfte, die überall am Werk waren. Masborns Name fiel des Öfteren, da sie ihn als einen der Drahtzieher vermuteten. Überall wurden Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet, während der Rest der Bevölkerung hungern musste.

 

„Überall wird es zu einem Aufstand kommen. Wenn ich nur wüsste, wer wem zu Loyalität verpflichtet ist“, rätselte Legarus.

„Du meinst nicht, dass die Soldaten ihre Städte für sich behalten wollen?“

„Es macht keinen Sinn. Warum sollte Masborn tatenlos zusehen? Ohnehin ist zu viel Verkehr auf den Straßen.“

„Aber es gibt keinen Handel mehr. Ich kenne keinen mehr der etwas über hat, das er verkaufen könnte!“

„Hier nicht, aber andere Städte blühen. Masborns Streitkräfte sind gut ausgerüstet und sie sind oft in Bewegung.“

„Du meist Masborn plant einen Angriff auf andere Bezirke?“

„Möglich, warum sonst lässt er sein Gebiet ausbluten. Er zieht alle Ressourcen in sein Militär. Er muss wissen, dass er diesen Zustand nicht mehr lange aufrechthalten kann.“

„Es wird zum Bürgerkrieg kommen.“ Brontes' Hass auf Masborn saß tief. Er wusste wem er die Schuld an seinem Schicksal geben musste.

„Überall lodert es.“ Legarus gefiel es nicht, keine Antwort auf all die Rätsel zu finden. Es ergab keinen Sinn.

„Wir müssen den Aufstand organisieren“, meinte Brontes und erfreute sich an dem Gedanken, es Masborn schließlich doch vergelten zu können.

„Es wird nichts ändern. Ich bin zu weit gereist. Vielerorts sieht es aus wie hier. Selbst wenn wir hier gewinnen könnten, so würden andere Gebietsherren über uns herfallen, um von deren Problemen abzulenken.“

„Du hast gesagt, du möchtest zu den Elfen? Glaubst du sie werden uns helfen?“

„Es ist nicht ihr Krieg, der heraufzieht.“

„Du denkst, dass es zum Krieg kommt?“

„So oder so, ja.“

„Aber warum gehst du zu ihnen, wenn sie nicht helfen werden?“, versuchte Brontes ihn zu verstehen.

„Ich suche nach Antworten.“

Asylma blieb während dessen stumm. Der Krieg ging sie nichts an, auch wenn sie wusste, dass ihr Vater anders gedacht hatte. Er wäre für die Sache gestorben und vielleicht war er das auch. Ihr Vater hatte ihr wohl das meiste verschwiegen. Doch sie verstand die Wut, die Brontes gegen die Herrschenden hegte nur zu gut. Auch sie hatte viel an die sinnlose Gewalt in diesem Lande verloren – zu viel. Tief in ihrem Herzen brannte ein Feuer, das dort unaufhaltsam loderte und von dem geschürt wurde, was sie sah, hörte und fühlte.

„Wir werden Verbündete brauchen. Irgendwo müssen wir anfangen.“

„Das stimmt. Aber erst brauchen wir Antworten. Verbündete werden wir viele finden. Sieh dir die Städte an. Viele sind ausgewandert und verstecken sich in den Wäldern und den Bergen. Aber bevor wir kämpfen…“

Plötzlich klopfte es an einer Wand.

Erschrocken fuhr Brontes auf und ging zur Rückwand seines Hauses. Er schob ein loses Brett beiseite. Legarus und Asylma konnten den Mann dahinter nicht sehen. Aufgeregt flüsterte er mit Brontes. Auf Brontes' Fragen gab er nur abgehackte Antworten und war bald wieder verschwunden.

„Brandolf weiß, wer du bist. Er hat Truppen ausgesandt, um uns gefangen zu nehmen. Wir haben keine Zeit mehr, wir müssen augenblicklich fliehen.“

„Wir? Warum musst du auch weg?“ Legarus zögerte nicht und war dabei seine Habseligkeiten aufzugreifen.

„Sie haben euch beobachtet. Sie wissen, dass ihr bei mir seid.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Er würde mich solange foltern, bis er alles über euch wüsste.“

Brontes führte sie in Richtung der Stadtmauern. Schnell ließen sie das nun gänzlich verlassene Haus hinter sich und eilten zwischen den verschlungenen Gassen hindurch. Obwohl sie die Hufe des Pferdes mit Tüchern umwickelt hatten, waren die Tritte in der ansonsten stillen Stadt verräterisch laut.

Im Stadtzentrum kamen sie schnell voran, aber als sie sich der westlichen Grenzmauer näherten, waren die großen Wegkreuz­ungen von wachsamen Soldaten besetzt. Es war kein Vergleich mit zuvor.

Allein der Ortskenntnis ihres Führers verdankten sie, dass noch keine dieser Truppen sie bemerkt hatte. Er führte sie durch verwinkelte, enge Passagen, in denen die Fassaden die ausge­spülten Pflastersteine bedeckten, anstatt die arg mitgenommenen Häuser vor Regen zu schützen. Es roch nach abgestandener feuchter Luft, modrig und alt.

Kaum mehr als 200 Schritt und drei Wegkreuzungen von der zu überwindenden Mauer entfernt, geschah das Unvermeidliche. Eine Patrouille bog um eine Ecke und erblickte die unge­wöhnliche Gemeinschaft. Sie waren in der sonst ausgestorbenen Stadt so fehl am Platz wie ein Fisch in der Wüste.

„Im Namen Brandolfs, ihr seid festgenommen!“ Sie erweckten nicht den Eindruck, als wollten sie lange reden. Kaum ausge­sprochen zogen sie ihre Schwerter blank und stürmten los.

„Asylma steig auf das Pferd und reite voraus!“, zischte Brontes in einem scharfen Ton. „Hinter dem Dornenstrauch findest du einen Durchschlupf. Warte dahinter auf uns.“ Brontes wandte sich an Legarus. „Komm, wir locken sie hier weg. Dort kommen wir nicht durch.“ Dabei konnte er sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen und musste trotz der ungemütlichen Lage grinsen.

Doch das war leichter gesagt als getan. Die Soldaten waren bedrohlich nah als Asylma das Pferd bestieg und Legarus diesem einen Klaps gab. Ihr Vater hatte ihr immer wieder eingebläut, dass Befehle ohne aufzumucken zu befolgen waren, besonders in einer heiklen Situation wie diesen. Darum ritt sie, ohne zu zögern auf den rettenden Spalt zu. Dort angelangt zwängte sich Asylma hindurch, um auf der anderen Seite das Kommen der Männer abzuwarten.

Ein heller Pfiff ertönte. Sie hörte wie das Pferd davonlief. Es war Legarus, der sein treues Pferd zu sich rief. Als Naskur seinen Herrn erblickte, sah es diesen von vier Soldaten umringt. Weitere lagen bereits überwältigt auf der sich färbenden Erde, während andere ihren Kameraden, vom Pfiff angelockt, zu Hilfe eilten. Auf dem Weg zu Legarus rannte Naskur zwei überraschte Gegner zu Boden, bevor es abrupt hinter Legarus zum Stehen kam.

„Brontes steig auf!“ Dieser Tat wie ihm geheißen, während Legarus seine Kontrahenten mit einem derben Hieb seines überlangen Schwertes auf Distanz hielt. Er fasste die hilfreiche Hand und hievte sich blitzschnell auf Naskur.

Abermals lief der Hengst los. Zwar waren sie fürs erste außer Reichweite der Soldaten, doch durch den Lärm geleitet, strömte jetzt aus jeder erdenklichen Richtung Verstärkung an und machte jeden Versuch durch die ohnehin geschlossenen Tore zu fliehen, schon am Ansatz zunichte.

Legarus sah keinen Weg mehr der Stadt zu entkommen. Brontes jedoch schien nicht sonderlich besorgt.

„Gut, dass diese Stadt schon halb verfallen ist. Selbst die Befestigungsanlagen sind ausbesserungswürdig“, erwähnte Brontes wie beiläufig.

Der Schmied hielt die Zügel. Als Legarus auffiel, dass dieser im Halbkreis geritten war, erlangte er neuen Mut. Wenige Hufschläge später tauchte vor ihnen ein gigantisches Trümmerfeld auf, das einst wohl eine beeindruckende Mauer gewesen war. Jetzt aber legten die Trümmer eine gut zwanzig Meter breite Öffnung in der Verteidigungsanlage frei, durch die eine Armee hindurch­marschieren könnte, ohne dabei aus dem Takt zu geraten. Diese Öffnung war von etwa zehn Mann bewacht gewesen, nun aber kündeten nur noch ihre zurückgelassenen Pferde von ihrer einstigen Tätigkeit. Mit dem Beginn des Tumultes, hatten auch sie ihre Posten verlassen. Dank des Schlenkers, den Brontes eingeschlagen hatte, waren nun alle Soldaten des Stadthalters hinter ihnen.