Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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From the series: Classica Monacensia #51
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Hier ist die zu analysierende Abbildung:

Abb. 4:

Beispiele von ‚Eifersucht‘ nach Oppianos’ Über die Jagd

Die Miniatur zeigt auf zwei Streifen einige aus Eifersucht entstandene Verbrechen, wie in Opp. C. III 244–248OppianosC. III 244–248 zu lesen ist. Weitzmann stellt jedoch fest: „Every one of its scenes can be related to certain Euripidean tragedies, the Aegeus, the Ino, the Peliades, and the Medea, and that the most likely model of the Byzantine miniaturist was an illustrated Euripides manuscript“76.

Aus der Reihe der sieben von Oppianos erwähnten Helden77 werden in der Handschrift nur vier dargestellt, und zwar Theseus, Athamas, Themisto und Medea; weder Prokne / Philomela noch Thyestes werden in der Miniatur gemalt. In Bezug auf die erste Unterlassung glaubt Weitzmann78 den Grund zu kennen: Diese Geschichte kommt – soweit wir wissen – in keiner Tragödie von Euripides vor; in Hinblick auf den zweiten unterlassenen Kindesmord, nämlich den von Thyestes, denkt dieser Gelehrte, dass entweder die verlorene Tragödie Thyestes von Euripides ein anderes Verbrechen dieser mythologischen Figur darstellen könnte oder dieses Werk schon verschwunden war, als die Abbildung entstand.

Im unteren Streifen werden zwei Verbrechen Medeas dargestellt: Das erste könnte der Tragödie Peliaden zugeschrieben werden; das zweite, dem homonymen Werk von Jasons Frau. Im oberen Streifen, der für diese Analyse weit interessanter ist, kann man von links nach rechts als erstes die Personifikation der Eifersucht (ὁ ζῆλος) erkennen, die mit ihrer rechten Hand einen Speer umklammert und mit der linken das adamantische Schwert, auf das sich derselbe Oppianos einige Zeilen vor dem oben erwähnten Zitat bezieht, herausfordernd zeigt. Als nächstes ist Theseus zu sehen, der seine Kleider und die von seinem Vater Aigeus hinterlassenen Waffen hervorholt, damit er von seinem Vater erkannt werden könne, wenn er in AthenAthen ankäme.

Nach Theseus erwähnt Oppianos Athamas. In der Miniatur wird ein Mann in Rüstung dargestellt, der sein Schwert erhebt, um einer anderen männlichen verblutenden Figur, die gerade das Gleichgewicht verliert und kurz davor ist zu stürzen, den Gnadenstoß zu geben. Hier kommt man auf die zwei von Weitzmann genannten Fehler des Kopisten, der wahrscheinlich nicht mehr verstand, was er malte. Der Name ὁ Θησεὺς, der neben der ersten Figur steht, entspricht dieser nicht, sondern der vorhergehenden, die keinen Titel hat. Die Beischrift ὁ Ἀθάμας aber steht über der stürzenden Figur, die jedoch Learchos sein muss, denn kein literarischer Beleg weist darauf hin, dass Athamas durch ein Schwert gestorben sei. Weitzmann behauptet: „As in the preceding scene, the copyist was no longer aware of the meaning of the scene, and so he shifted the inscription of Athamas from the left to the right figure, after having already made a similar mistake in the case of the Theseus figure“79.

Abgesehen von der m.E. Ähnlichkeit dieser Szene mit der Textstelle von Nonn.Nonnos von PanopolisD. X 52–63 D. X 52–63, wird Athamas mit Schwert schon in sehr alten Quellen beschrieben, wie z.B. bei Philostephanos, der erzählt, wie der Aiolide seine Frau Ino mit einem Schwert verfolgt. Dieser Autor, um bei dem Beispiel zu bleiben, erwähnt nicht, auf welche Weise Athamas seinen Sohn Learchos getötet hat; es ist deshalb glaubhaft, dass er mit demselben Schwert, mit dem er Ino bedroht, seinen Sohn umgebracht hat. Ähnliches kann man über das von Kallistratos beschriebene Bild (Callistr. XIVKallistratosCallist. XIV) und über Eust. ad Il.Eustathios von Thessalonikead Il. I 497, 17–498, 5 I 497, 17–498, 580 sagen.

Weitzmann81 erklärt, man könne von der Kopie eines klassischen Musters nicht erwarten, dass Learchus in realistischer Weise als Hirsch dargestellt wird, was man eigentlich in anderen Miniaturen, die keinem klassischen Muster folgen, sehen kann: deswegen ist anzunehmen, dass sich die vorliegende Miniatur auf eine klassische, von einem byzantinischen Kopisten modifizierte Vorlage bezieht.

Weitzmanns Erklärung stößt meiner Meinung nach auf einige Schwierigkeiten, die der deutsche Gelehrte übersieht. Wenn es um Learchos geht, worauf alles hinzudeuten scheint, dann kann man das seiner Hand entglittene Schwert nicht einordnen: Es gibt keinen literarischen Beleg, der berichtet, dass Learchos ein Schwert trug, als er von seinem Vater getötet wurde. Darüber hinaus hat man nicht den Eindruck, dass da eine Jagdszene dargestellt wird, sondern eher ein Duell zwischen zwei Kriegern mit ihren Waffen. Man könnte denken, dass sich Learchos seinem Vater widersetzt und mit ihm kämpft, aber das ist auch eine neue Verstehensweise in der überlieferten Tradition dieser Szene. Wenn es nicht die Beischrift ΑΘΑΜΑΣ gäbe, wäre es unmöglich, dieses Bild dem Aioliden zuzuschreiben. Das betrifft die anderen Figuren nicht; mit Hilfe von Oppianos’ Textstelle ist es einfach, die Person, die zwei im Bett liegende Kinder erstickt, zu identifizieren, obwohl sich der Kopist noch einmal geirrt hat und sie φιλομήλη82 nennt: Es handelt sich selbstverständlich um Themisto und den Mord ihrer Kinder. Im Fall von Athamas und Learchos hilft die graphische Darstellung dem Betrachter bei der Identifizierung nicht.

Weitzmann fragt sich berechtigterweise, warum der Maler den Platz dieser Heldin in der Bilderfolge geändert und nicht nach Medea dargestellt hat; „the only reason we can deduce is its thematic connection with the preceding story of Athamas killing Learchus, which was also told, as we know from Hyginus, in the Ino of Euripides“83. Das bedeutet, dass Weitzmann – im Gegensatz zu Wilamowitz – glaubt, der letzte Absatz von Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV komme in der Handlung von Euripides’ Ino vor. Weitzmann denkt auch, die kurze Andeutung von Porphyrion und PtoosPtoos Tod bei Nonnos lasse es als unwahrscheinlich erscheinen, dass sich der Maler von einem bebilderten Werke dieses Autors inspirieren ließ: „Thus we come one more to the conclusion that the Pseudo-Oppian painter used an illustrated Euripides as source, from which he took two scenes, each one illustrating an act of violence resulting from Jealousy. These two scenes do not follow the order of the drama, but this shift is obviously to be explained by the Pseudo-Oppian text which mentions Athamas first and Themisto later“84.

Hierin liegen aber neue Probleme. Zunächst ist Hygins Hinweis auf Learchos’ Tod noch flüchtiger als der von Nonnos auf den Tod der Kinder Themistos. Zweitens hat man beim Lesen von Oppianos’ Text nicht den Eindruck, dass beide Figuren, Athamas und Themisto, Protagonisten ein- und derselben mythologischen Erzählung sind, weil Oppianos drei Heldinnen zwischen diese Personen schiebt. Man könnte sich aber vorstellen, dass der Maler derjenige ist, der sich von Euripides’ Werk inspirieren lässt, um sowohl Learchos’ Tod als auch Themistos Kindermord darzustellen. Allerdings könnte man erwidern, dass beide Darstellungen aus verschiedenen Tragödien, sogar von verschiedenen Autoren stammen könnten: Themistos Verbrechen könnte sich auf Euripides’ Ino beziehen, Learchos’ Tod – es scheint, dass Euripides nie darüber geschrieben hat – auf Sophokles’ ersten Athamas. Dieser letztere Fall ist aber noch unwahrscheinlicher, denn es ist schlüssiger, alle Abbildungen auf das Werk eines einzigen Tragikers zu beziehen.

Allerdings ist diese Abbildung m.E. sehr wichtig, um den Inhalt der vierten Fabel von Hygin (Themistos Verbrechen) Euripides’ Ino zuzuschreiben, selbst wenn die Szene von Athamas in der Handschrift nicht dieser euripideischen Tragödie zuzuordnen wäre. Wie Weitzmann selbst andeutet, „the two scenes in Pseudo-Oppian are the first ever to be connected not only with the Euripidean Ino, but with this myth in general“85. Man hat tatsächlich keinen anderen ikonographischen Beleg des Todes der Kinder von Themisto86.

Zurück zu Euripides’ Ino, muss man mit Jouan / Van Looy einräumen, dass „si on ne possédait que les fragments, pourtant au nombre de vingt-cinq totalisant 79 vers, on ne pourrait jamais deviner l’intrigue d’Ino“87. Nauck schreibt Ähnliches: „de Inone scriptores alii alia perhibent: quam mythi formam Euripides secutus sit nescimus“88. Mattes jedoch glaubt, „die ,Ino’ ist ohne den Wahnsinn beider (Ino und Athamas) oder des einen kaum denkbar“89.

Diese Tragödie war in der Antike wohl bekannt. Ihr Ruf reicht, nach dem Beleg von Philostr. VA., VII 5PhilostratosVA. VII 590, bis ins 1. Jh. n. Chr.: Zur Zeit Kaiser Domitians sollen in Ephesus entweder das ganze Drama oder Teile davon aufgeführt worden sein.

Kannicht, der angeblich Hygins Fabel als zuverlässig betrachtet, bietet die wesentlichen Inhalte dieser Tragödie schematisch an. Die Szene findet in ThessalienThessalien vor Athamas’ Palast statt. Die handelnden Figuren sind wahrscheinlich Ino, Themisto und Athamas. Jouan / Van Looy fügt einen Boten und vielleicht Dionysos hinzu. In Bezug auf den Chor sagt Kannicht, dass er „fortasse ancillis domus regiae“91 bestehen konnte; Mette argumentiert aber mehr generisch: „Chor: Thessalische Frauen“92. Jouan / Van Looy denken, „si le fragment 399 appartient à Ino, le chœur était composé de femmes, amies d’Ino (φίλαι γυναῖκες)“93.

Zur Aktion der Aufführung ist sehr wahrscheinlich nur Frg. 398 KannichtEuripidesIno:Frg. 398 Kannicht zuzuschreiben. Schmid / Stählin aber meinen, „eine Reihe von Versen beziehen sich offenbar auf Inos Verhalten in ihrer dienenden Stellung (fr. 410–413EuripidesIno:Frg. 410–413 Kannicht)“94.

In Hinblick auf die Datierung dieser Tragödie sieht es vermutlich so aus, dass Aristophanes’ Komödie Die Acharner, die 425 v. Chr. aufgeführt wurde, ein terminus ante quem bleibt; denn im Vers 434 werden Inos Lumpen angedeutet, wobei dieser Hinweis immer dem euripideischen Werk zugeschrieben wurde. Nach Jouan / Van Looy, „M. Cropp-G. Fick élargissent légèrement les marges indiquées par T.B.L. Webster: 455–425 au lieu de 455–428“95. Cropp / Fick96 sagen ja, dass hinsichtlich der Komposition durch Jambi keine sichere Schlussfolgerung zu ziehen ist; Goosens aber behauptet, „l’Ino pourrait bien être contemporaine des Péliades ou de peu postérieure à la date de 455“97.

 

Kannicht stellt die Tragödie in den ‚thessalischen‘ mythologischen Rahmen, woraus „hausta sunt argumenta Phrixorum… et Athamantum“98. Starkie99 berichtet, dass sie nach Hartung100 zur Tetralogie Ino, Erectheus, Ion und Skiron gehören sollte.

Wie die erwähnten Frg. 100–101 Kannicht / SnellEuripidesIno:Frg. 100–101 Kannicht / Snell wurden dieser Tragödie auch die Frg. 953m und 972 KannichtEuripidesIno:Frg. 972 KannichtEuripidesIno:Frg. 953m Kannicht zugerechnet. Es gibt aber einige Fragmente101, die genauer analysiert zu werden verdienen: P.Stras. W.G. 304–307 (Pack2 426). Fassino zufolge, „[si tratta dei] resti di un’antologia di brani lirici dalle Fenicie, dalla Medea e da una terza tragedia, ascrivibile anch’essa con ogni probabilità ad Euripide“102. Interessant sind für dieses Buch nur die Fragmente dieser Tragödie (W.G. 306 Sp. IV)103, deren Titel104 nicht erhalten ist.

Fassino fasst neun wesentliche Angaben für die Identifizierung der Tragödie zusammen:

 1) Eine Frau wünscht sich selbst, ein Kind oder mehrere Kinder zu töten.

 2) KadmosKadmos wird möglicherweise als ein mythischer Vorfahr angedeutet.

 3) Die Achäer werden erwähnt.

 4) Die Leiche eines Kindes erscheint auf der Bühne.

 5) Wahrscheinlich kommt auch eine andere Frau, die sich gänzlich von 1)105 unterscheidet.

 6) Es geschehen möglicherweise zwei Kindermorde.

 7) Ein Kind wird mit einer ἔγχη getötet.

 8) Es sieht so aus, als komme auch ein Mann vor, der wahrscheinlich βασιλεύς ist.

 9) Der Mann einer Frau wünscht anscheinend den Tod für sich herbei.

Fassino schließt die Zuschreibung zu Die eingekerkerte Melanippe und zu Die kluge Melanippe aus; er denkt eher so: „La probabile presenza di una successione negli infanticidi consente forse di restringere la scelta tra le trame note al finale dell’Ino“106. Laut diesem Gelehrten wird der erste Mord von einem Boten, zu dessen rhesis Frg. 421 und 422 KannichtEuripidesIno:Frg. 421 KannichtEuripidesIno:Frg. 422 Kannicht gehören, berichtet. Dann soll Ino ihre Absicht, das andere Kind zu töten und Selbstmord (Z. 4–7) zu begehen, angekündingt haben. Der Chor erwidert ihr, indem er sich auf den Mord des anderen Kindes konzentriert und die Nachricht vom Selbstmord außer Acht lässt. Das Lied (Z. 16–19) ruft die mythischen Präzedenzfälle des damals geschehenen Unglücks ins Gedächtnis; in diesem Moment wird KadmosKadmos angedeutet, weswegen ‚die dionysische Motivierung‘ (HeraHera bestraft Athamas und Ino, weil sie Dionysos erzogen haben) sehr wahrscheinlich ist. Learchos’ Leiche erscheint auf der Bühne (Z. 21–24.27); möglich ist, dass die Speerstiche erst dann ausgeführt werden (Z. 24). Dies versetzt die Anwesenden in Schrecken (Z 19ff). Darauf folgt eine zweite Rhesis mit dem zweiten Kindesmord und Inos Selbstmord. Der Chor (Z. 32–34) und Athamas (Z. 36) bedauern sein verlorenes Glück. Schließlich erscheint Dionysos als deus-ex-machina und berichtet Inos und Melikertes’ Divinisierung. Fassino glaubt, dass die Tragödie in ThessalienThessalien, und zwar im Achaia der Phthia stattfindet, und dass „il βασιλεύς del r. 30 e l’ ἀνέρα del r. 31 dovrebbero essere Atamante“107.

Es ist klar, dass sich diese Rekonstruktion von der in Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV erzählten I-T-Version trennt und sich auf den letzten Teil dieser Fabel konzentriert. Obwohl diese These nicht dem Standpunkt des Buches entspricht, sollte Fassinos Artikel in einer ausführlichen Untersuchung von Euripides’ Ino immer beachtet werden.

Zuletzt ist eine Behauptung von Aélion interessant, die sich auf die verlorene Tragödie der Peliaden bezieht, deren Bedeutung aber auch auf die Fragmente von Euripides’ Ino anwendbar ist: „Comme, d’autre part, les fragments sont peu nombreux et que leur contenu est essentiellement gnomique, cette reconstitution ne peut avoir aucune précision“108. Diese Vorsicht gilt auch für die hier unterbreiteten Vorschläge.

III.4 PhrixosPhrixos: Einleitung

Im Katalog von Tragödien des Euripides (II 481 und III 172) sind die Titel der Tragödien gesammelt; in diesem Verzeichnis wird auf den Titel Phrixos hingewiesen. Lange haben viele Gelehrte bezweifelt, dass es zwei Tragödien mit diesem Titel gab: Wagner3, Hartung4, Wilamowitz5, Robert6, Schmitt7, Schadewaldt8, usw.; in der Tat erwähnt die Inschrift von Piräus (IG II/IIIEinschriftenIG. II/III2 2363, 482 2363, 48) nur einen Phrixos9.

Mit Ausnahme von Robert, der sich auf Apollodor beruft, haben alle anderen Gelehrten versucht, die Handlung ‚dieses Werkes‘ aus Hyg. Fab. IIHyginusFab. II und III zu rekonstruieren, wie Kannicht behauptete: „Phrixum antea quasi una esset tragoedia et fragmenta quasi ex una fabula (eaque ex Hygino restituenda) essent orta tractare solebant“10. Aus diesem Grund entsteht das berühmte und umstrittene Thema des freiwilligfreiwilligen OpferOpfertodes, der unten ausführlich analysiert wird11. Interessant ist, diesbezüglich die brillante Überlegung von Jouan / Van Looy einzubringen: „Aucune des deux versions ne mentionne le sacrifice volontaire de Phrixos (attesté seulement par Phérécyde et Hygin), qui nous semble pourtant un élément sûr pour au moins une des deux pièces, malgré le silence des fragments“12.

Dank zweier Papyri von Oxyrhynchos aber weiß man heutzutage mit Sicherheit, dass Euripides zwei Tragödien mit diesem Titel geschrieben hat. Lloyd-Jones lässt sich die Chance nicht entgehen, Wilamowitz’ Fehler „in denying that there were two plays called Phrixus“13 klarzumachen. Derselbe Fehler scheint Pearson in seinem Artikel „A Note on Pindar, Pyth. IV 162 f“ unterlaufen zu sein: „[This] version … was that given by Apollodorus (I. 80) and followed apparently by Euripides in his Phrixus“14. Schmitt spricht auch nur über einen einzigen Phrixos: „Viel Ähnlichkeit mit der Behandlung im Erechth. hat, soviel wir sehen können, die Einleitung der Devotionsszene im Phrixos“15. Schmid / Stählin erwähnen „zwei Bearbeitungen“16, sie erörtern sie aber als eine einzige Tragödie: „Die motivischen Ähnlichkeiten mit Stücken der Spätzeit, die angeführt wurden17, sind so zahlreich und bedeutsam, dass man den Phrixos ziemlich zuversichtlich in die Zeit nach 412 setzen kann“18. Roussel erkennt ein einziges Phrixos betiteltes Drama an: „J’ai negligé à dessein les autres exemples de sacrifice volontaire dans la tragédie euripidéenne (… Phrixos, dont nous ne savons presque rien, …)“19. Welcker räumt ein, dass es zwei Werke mit dem Titel Phrixos gibt, konzentriert sich aber nur auf das erste, da vom zweiten „sonst keine Spur [sc. vorhanden] ist“20. Man hat sogar den Eindruck, dass dieser Gelehrte den Hinweis auf einen zweiten Phrixos, über den er kein Wort verliert, für falsch hält.

An dieser Stelle sollte man einen großen (102 cm hoch) Volutenkrater (ca. 330 n. Chr.) aus Apulien untersuchen, weil er Taplin gemäß die Handlung der ersten Phrixos von Euripides darstellen könnte. Dieses Gefäß befindet sich heute in Berlin21 und wurde auf Darios-Maler zurückgeführt. Hier ist das Bild des Kraters.

Abb. 5:

Phrixos’ Opfertod

Das Bild besteht aus zwei Streifen und insgesamt fünfzehn Figuren.

Unten in der Mitte ist Phrixos zu sehen, dessen Name über seinem Kopf geschrieben ist. Er steht auf einem Altar und sein linkes Bein stützt sich auf das Oberteil einer Säule. Mit seinen Händen hält er die Hörner eines weißen WidderWidders, dessen Glanz eindeutig, wie Taplin vorschlägt, auf das goldene VliesGoldenes Vlies hinweist. Sowohl Phrixos als auch der Widder tragen angeblich die Opferinfulen22. Rechts von Phrixos – vom Betrachter aus gesehen – steht Athamas mit einem Schwert in der Hand; auch über ihm befindet sich eine Inschrift. Mit seinem Finger zeigt er auf Ino, deren Name im Bilde klar sichtbar ist. Sie wirkt beklommen wegen der Blicke von Athamas und Phrixos, vielleicht weil sie Angst hat, dass ihre böswillige Absicht entdeckt worden sei. Links von Ino stehen zwei Figuren ohne Aufschrift, die Taplin nicht identifizieren kann; möglicherweise stellen sie zwei Mitglieder des Chores dar, der aus Frauen von ThebenTheben bestand. Rechts von Athamas ermahnt der Pädagoge lebhaft Helle, deren Name ohne H geschrieben wurde, nämlich einfach ΕΛΛΗ. Die letzte Figur des rechten Teils wäre nie identifiziert worden, wenn sie keine Beischrift gehabt hätte: ΕΥΦΗΜIΑ; Taplin meint: „This word, meaning something like ‘auspicious voice,’ is most familiarly used to refer to the ritual silence that should accompany a sacrifice. Her personification here could suggest that in the tragedy, ritual observance somehow prevented the murderous and impious sacrifice from happening“23. Möglich ist, dass Euphemia in der Tragödie von Euripides – wenn dieser Krater sie schildert – nicht dargestellt wurde, sondern dass sie ein eigenes Element des Kratermalers ist.

Im oberen Niveau befindet sich die Welt der Unsterblichen, deren gelassener Gesichtsausdruck auffällig im Gegensatz zur Anspannung des unterhalb befindlichen Streifens steht. Nur eine Figur ist nicht einfach zu identifizieren, nämlich die einzige, die eine Beischrift über ihrem Kopf hat: ΝΕΦΕΛΗ. Von links nach rechts – vom Betrachter aus gesehen – kann man Pan und Artemis erkennen, die Taplin nach andeuten könnten, dass ein Teil der Handlung am Land geschah; das könnte auf den Aufenthalt von Phrixos und HelleHelle in der Herde des Königs, woher sie angerufen wurden, hinweisen. Danach erkennt man ZeusZeus, zu dessen Ehre der Opfertod durchgeführt werden konnte. Neben ihm befindet sich AtheneAthene; Taplin zufolge „[she] might possibly signify the Athenian origin of the tragedy, it is more likely that she was somehow brought into the mythical narrative“24; dieser letzte Punkt ist m.E. sehr zweifelhaft, aber Athenes Gegenwart in dieser Reihe von Göttern bleibt rätselhaft. Rechts davon sitzt ApollonApollon, dessen verfälschtes Orakel der Ursprung von Phrixos’ Opfertod war. Zuletzt kommt auch HermesHermes vor, der sich mit NepheleNephele unterhält. Diesbezüglich sehr treffend ist meiner Meinung nach Taplins Aufzeichnung: „According to Apollodoros it was Hermes who gave the golden ram to Nephele“25. Wahrscheinlich weist Hermes Nephele darauf hin, wie ihre Kinder dem Tod am Opferaltar entfliehen können; möglicherweise hat er ihr im Voraus den Widder mit dem goldenen Vlies gegeben26.

Taplin zufolge gibt es auf dieser Vase drei Hinweise, die das Bild des Kraters mit einem theatralischen Werk in Verbindung bringen: „there are the costumes, especially that of the king in the center with his boots, crossbanding, and conspicuous red sleeves. Second, there is the familiar old paidagogos figure, who is explicitly given the anonymous label of ‘child carer’ ΤΡΟΦΕΥΣ. Third, the name labels are all in Attic forms, including those that would be different in other dialects“27.

Taplin entscheidet sich für die Darstellung der Geschichte von Phrixos, die nach meiner Ansicht I-P-H-Version genannt werden kann, und bemerkt, dass das Stück von Euripides das berühmteste aller Theaterstücke war. Er unterscheidet zwei euripideische Werke mit diesem Titel28 und nuanciert daraufhin seinen Kommentar: Bei dem Bild handelt es sich sehr wahrscheinlich um den ersten Phrixos, denn „Dionysos was significant within the play of Phrixos (the Second Version), and while there are no fewer than seven divinities in the upper register here, Dionysos is not one of them“29.

Allerdings ist klar, dass der Maler die Handlung des Dramas nicht wörtlich darstellen wollte, sondern dass er auch einige eigene Nuancen einbringen konnte. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der Krater auf einen der beiden Phrixos von Euripides bezieht und zwar möglicherweise, wie Taplin andeutet, auf den ersten und nicht auf den zweiten Phrixos. Zweifellos ist dieser Krater aber eine wunderschöne Darstellung der I-P-H-Version.

 

Hier ist es angebracht, die Polemik über die Nummer der Tragödie, die Euripides Phrixos betitelte, beiseite zu schieben und die Textstellen, die für die Rekonstruktion der Handlung dieser Tragödien verwendet wurden, kurz zu erforschen: Apollod. I 9, 1ApollodorosApollod. I 9, 1 und Hyg. Fab. IIHyginusFab. II-IIIHyginusFab. III. Bevor Van Looy seinen Vorschlag für die euripideische Version, die er „la légende de Phrixus“30 nennt, präsentiert, zeigt er fünf wesentliche Unterschiede zwischen den beiden erwähnten Quellen zu Phrixos’ Opfertod auf:

 1) Bei Apollodor willigt Athamas nach anfänglichem Widerstand in Phrixos’ Opfertod ein; in der Version von Hygin bietet Phrixos freiwilligfreiwillig an, auf dem Opferaltar zu sterben.

 2) Nephele rettet, laut Apollodors Textstelle, ihren Sohn; bei Hygin verdankt er einer Dienerin / einem Diener31 sein Leben.

 3) Bei Apollodor kommt Ino ungestraft davon; bei Hygin wird Ino der Willkür von Phrixos ausgeliefert.

 4) Der Widder rettet Phrixos, wenn Athamas’ Sohn am Opferaltar steht; bei Hygin irren Phrixos und Helle durch den Wald, nachdem sie von Dionysos bestraft wurden.

 5) Diese Gottheit spielt in Apollodors Texten überhaupt keine Rolle, erscheint aber bei Hygin als deus-ex-machina.

Nun bieten sich die Überlegungen von Van Looy über die von mir genannte I-P-H-Version an, Athamas’ Mythos zu betrachten. Der belgische Forscher sieht zwei Hauptpunkte in der Entstehung dieses Mythos:

 A) Ein primitiver historischer Kernpunkt

Van Looy erklärt es folgendermaßen: „La sécheresse sévissant à Halo avec véhémence, la population après consultation des dieux, decide d’offrir en expiation un sacrifice humain“32. Es ist nicht ganz verständlich, wie Van Looy daraufhin von zwei Opfern, dem von Phrixos und dem von Athamas, reden kann. Man könnte denken, dass das Opfer des Aioliden durchgeführt werden sollte, weil das erste misslang. In der Tat wird das von Athamas auch nicht durchgeführt, denn sein Enkelkind rettet ihn in extremis –, aber dies entspricht nicht Van Looys Theorie; denn er behauptet, dass die Götter33 Phrixos’ Opfertod verhindert haben und ein Widder an seiner Stelle geopfert wurde. Wenn die Götter selber das MenschenopferMenschenopfer ablehnen und dieses durch ein Tier ersetzt wird, wie kann man dann in der geschichtlichen Ebene und aus dieser Perspektive heraus den neuen Opfertod von Athamas rechtfertigen?

 B) Die Erweiterungen der Legende

Alle anderen Punkte der LegendeLegende resultieren aus einer Entwicklung des Mythos: Der Ursprung der DürreDürre, die entweder von Nephele oder von Ino verursacht wird, mit all ihren Wirkungen: Eifersucht oder enttäuschte Liebe; die Fälschung des Orakels; Athamas’ Zweifel über das Opfer; Phrixos’ Rettung entweder durch einen Widder oder durch eine Dienerin / einen Diener; usw.

Interessant ist nun zu sehen, welche Handlung die Gelehrten diesen Tragödien zugeschrieben haben. Lloyd-Jones sagt, es sei möglich „that the common story is that of Frixo 1, the less common one that of Frixo 2“34. In Bezug auf den zweiten Phrixos, denkt Mattes: „möglich ist die Erfindung durch den Dichter auch für den Wahn der Geschwister Phrixos und Helle im Phrixos II“35. Kannicht beteuert, „Phrixus in I Jovi immolandus ab Athamante ad aram ducitur, in II Athamante abnuente ipse se morti destinat“36. Schwanzar sagt, „in beiden Phrixos-Tragödien läßt Ino das Saatkorn rösten, um die DürreDürre herbeizuführen“37. Gantz meint, dass es im zweiten Phrixos um die Rettung vor den von Ino geplanten IntrigeIntrigen geht; „the former might have been either a different version of the same events, or the story of Phrixos’ subsequent life in KolchisKolchis“38.

Obwohl das Thema ausführlicher im Absatz über den freiwilligfreiwilligen Opfertod analysiert wird, kann man in diesem Moment eine der Meinungen, die diese Tragödie(n) mit der freiwilligen Hingabe von Phrixos verbindet, vorwegnehmen. Valgiglio spricht über den ‚Phrixos‘ von Euripides im Singular: „È da credere che ricorresse anche in questa tragedia il motivo dell’uno che salva tutto, già riscontrato nell’Ifigenia in Aulide e soprattutto nel discorso di Prassitea dell’Eretteo“39. Im Unterschied zu den anderen euripideischen Figuren (Makaria, Polixena, Menoikeus und Iphigenia), die sich freiwillig für die Gemeinschaft opfern, ist Phrixos der einzige, der gerettet wird und nicht auf dem Opferaltar stirbt40. Ino stimmt, wie Praxithea, Polyxenas Mutter, dem Opfer mutatis mutandis zu; Athamas ist Hygins Fabeln gemäß gegen das Opfer, wie Erechtheus, Kreon und Klytaimnestra. Der Aiolide wird vom Volk gezwungen, wie Agamemnon vom Heer.

In Hinblick auf das Datum der Entstehung der beiden Werke, weisen Schmid / Stählin darauf hin: „Unsicher ist die Zeit des Phrixos, von dem es zwei Bearbeitungen gegeben haben soll“41. Robert spricht nur über eine Tragödie, die „der letzten Periode des Euripides angehört“42. Van Looy erwähnt, dass Arnim die ‚Phrixos‘ nach dem Sizilianischen FeldzugFeldzug, der 415–413 n. Chr. stattfand, einreiht; Schmid ist damit einverstanden und glaubt, „daß man Phrixos ziemlich zuversichtlich in die Zeit nach 412 setzen kann“43. Van Looy zufolge „il faut supposer un assez grand laps de temps après le premier échec que fut le Phrixos A“44. Er argumentiert zusammen mit Jouan in der Ausgabe der Fragmente von Euripides, dass es unmöglich ist, diese Werke zu datieren: „Puisque l’attribution de la majorité des fragments à Phrixos A ou B est incertain, les critères métriques sont sans valeur pour dater les deux drames“45. Kannicht sagt kategorisch: „De aetate fabularum non constat“46.