Raue Februarwinde über den Elbmarschen

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»Natürlich hast du recht, Waldi! War dumm von mir!«

Dieser will protestieren, doch Nili erhebt sich und geht mit einem vielversprechenden Gesichtsausdruck auf ihren Geliebten zu. Waldi steht auf, sie umarmen sich und geben sich einen sehr, sehr langen Kuss. Der enge körperliche Kontakt ihrer Leiber bleibt nicht ohne deren natürliche Folgen. Langsam zieht Waldi Nilis Jogginghose über ihre Hüften, dann tut Nili dasselbe bei ihm. Wenig später sitzen beide fast vollständig nackt in Onkel Olivers Bürosessel. Während sie sich abermals eng umarmen und liebkosen, dringt Waldi behutsam in sie ein, und bald schweben sie in den Wolken eines himmlischen Orgasmus.

Rasch ziehen sie ihre Kleidung wieder an, wurde doch soeben mehrfach nach ihnen gerufen. Gerade haben sie sich zurechtgemacht und wieder hingesetzt, öffnet Tante Madde die Bürotür. »Ach, hier seid ihr!«

»Ja, Tante Madde, Waldi und ich hatten etwas Berufliches zu besprechen.«

»Weiß jemand, wann der nächste Zug nach Kiel geht?«, versucht Waldi abzulenken. »Ich muss mich dann wohl mal auf die Socken machen, ich will nämlich morgen früh unbedingt pünktlich in meinem Büro sein!«

Nili schüttelt den Kopf. »Ich weiß leider nicht, wann von Oldenmoor aus die Züge gehen. Wahrscheinlich ist es besser, ich bringe dich nach Wrist. Von dort aus hast du, soweit ich weiß, stündlich eine direkte Regio-Verbindung. Ich hole mir nur schnell Imas Autoschlüssel, dann fahre ich dich erst einmal zu unserem Onkel Suhls Haus, damit du deine Sachen holen kannst.«

Während sie eine Stunde später in Ima Lissys VW Taro nur mühsam auf der verschneiten Landstraße vorankommen und hier und dort die vom Wind zusammengefegten Schneewehen überwinden müssen, unterhalten sie sich weiter über den grausamen Tod des Kollegen.

»Vielleicht ist es ein günstiger Wink des Zufalls, dass du die nächsten Tage hier verbringen kannst, Nili. Es wäre sicherlich nützlich, wenn du – natürlich möglichst unauffällig – ein wenig auf die Pirsch gehst. Vielleicht erfährst du dabei ja etwas Nützliches.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Ist doch nur natürlich, wenn ich meinen früheren Arbeitskollegen ein wenig unter die Arme greife, oder? Ich ahne sowieso, dass es nicht lange dauern wird, bis man mich um Unterstützung bittet. Brauchst keine Angst zu haben, selbstverständlich weiß ich überhaupt nichts davon, dass der arme Tote unser KK Werner Köppen ist, das müssen die hiesigen Kollegen schon selbst herausfinden, wenn sie es überhaupt ohne die Unterstützung durch das LKA schaffen. Am besten wäre es, wenn es dem LKA irgendwie gelingen sollte, die Leiche in die Rechtsmedizin der Uni in Kiel zur Obduktion überführen zu lassen. Lasst euch doch dazu etwas Passendes einfallen!«

3. Verschollen

»Und mehr habt ihr mir nicht zu berichten?«, keift Kriminaloberrat Heinrich Stöver in seiner üblichen missmutig tadelnden und lauten Art seine beiden Kriminaloberkommissare sowie die KTU-Mitarbeiter des gestrigen Einsatzes an. Nicht umsonst wird er von seinen Untergebenen hinter vorgehaltener Hand »Hein Gröhl« genannt. Fahrig schiebt der dickliche, unsympathisch wirkende Choleriker die auf dem Tisch liegenden Aufnahmen vom Tatort hin und her.

»Mäßigen Sie doch bitte Ihren Ton, sehr geehrter Herr Kriminaloberrat! Ich bin es weder gewohnt noch bin ich gewillt, hier eine derartig unproduktive Arbeitsatmosphäre zuzulassen.« Staatsanwältin Dr. Cornelia Bach, eine aparte schwarzhaarige Erscheinung mit leicht milchkaffeebraunem Teint und in ein gut sitzendes Kostüm gekleidet, hat dieses ewige Genörgel satt. »Unter den gestrigen äußerst widrigen Wetterbedingungen war der Einsatz in der Tat eine extrem ungünstige Situation für alle Beteiligten. Dies sollten Sie entsprechend zu würdigen wissen, auch und nicht zuletzt deshalb, weil Sie nicht persönlich daran beteiligt waren!« Mit einem deutlichen Tadel in der Stimme betrachtet sie den mit einem feuerroten Kopf dasitzenden und vor Wut kochenden Leiter der Bezirkskriminalinspektion Große Paaschburg in Itzehoe.

Alle seine Mitarbeiter tauschen heimlich schadenfrohe Blicke aus. Endlich hat jemand dem Griesgram Paroli geboten und ihm ordentlich die Meinung gegeigt!

»Also, meine Damen und Herren«, Staatsanwältin Dr. Cornelia Bach lässt ihren Blick durch die Runde schweifen, »lassen Sie uns jetzt bitte zu unserem Fall zurückkehren. KOK Steffens, was haben wir?«

»Na ja, ein wenig muss ich doch unserem Chef recht geben, Frau Staatsanwältin. In der Tat haben wir nicht viel vorzuweisen. Zwei Mitarbeiter der Windkraftfirma sollten den Zustand ihrer Maschinen am Windpark inspizieren und fanden die Leiche in einer bereits im letzten Jahr ausgebaggerten und nur zum Teil fertigen Fundamentgrube. Ein in einer wohl ausrangierten Lkw-Plane eingehüllter und bisher nicht identifizierter toter Mann, blondes Haar, blaue Augen, schätzungsweise dreißig Jahre alt. Wahrscheinlich wurde das Opfer an einem anderen Ort getötet und dann vor ein bis zwei Wochen in der Baugrube abgelegt. Wegen des starken Schneefalls konnte die Spusi vor Ort keine verwertbaren Spuren entdecken. Einziger Fund war sein Portemonnaie mit etwas Geld darin, ansonsten keine Papiere. Der Leichenbeschauer, ein Herr Doktor Günther Vollmert aus Sankt Margarethen, hat den Totenschein ausgestellt, auf dem er die Rubrik ›unnatürlicher Tod‹ angekreuzt hat, zumal er als Todesursache einen Genickbruch annimmt. Außer den beiden am Kopf des Opfers vorgefundenen konnte er keine weiteren äußerlichen Verletzungen feststellen. Die Bergung des Leichnams aus der Baugrube gestaltete sich ziemlich kompliziert, sie musste mit Hilfe des Baggers gehoben werden und wurde dann in die Pathologie des hiesigen Klinikums zur Obduktion überführt.«

»Vielleicht sollten wir der Vollständigkeit halber erwähnen«, bemerkt KOK Dörte Westermann mit leichter Unsicherheit in der Stimme, »dass wir auf dem Weg zum Einsatzort zufällig auf zwei Kollegen stießen. Das war zum einen Haukes frühere Kollegin KHK Nili Masal, die zusammen mit ihrem Gefährten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr vom LKA in Kiel, auf dem Radweg neben der Landesstraße joggte. Da es gerade in diesem Augenblick heftig zu schneien begann, baten wir sie zu ihrem Schutz in unseren Wagen – wir konnten sie doch nicht einfach mitten auf dem Land stehen lassen, oder? Und so ergab es sich, dass wir die beiden zum Tatort mitnahmen. Danach setzten wir sie bei Nilis Onkel am Holsternhof wieder ab.«

»Das ist ja die Höhe!« Kriminaloberrat Heinrich Stöver explodiert geradezu. »Das hat uns gerade noch gefehlt, dass das Landeskriminalamt die Nase in unseren Fall steckt!«, fügt er mit viel leiserer Stimme hinzu, als er den strafenden Wink der Staatsanwältin bemerkt.

»Wenn das so war, wie Sie berichten, Frau Westermann, dann haben Sie durchaus richtig gehandelt, denn man lässt ja nicht Kollegen im Regen – oder in diesem Fall im Schnee – stehen«, kommentiert der ebenfalls anwesende Dr. Paul Kramer, Assessor bei der Staatsanwaltschaft Itzehoe.

»Zwei zu null!«, murmelt mit offensichtlichem Vergnügen KTU-Leiterin Lilo Papst und erntet einen missbilligenden Blick ihres Kriminaloberrats. Dann ergreift die hübsche und jugendlich erfrischend wirkende Frau das Wort: »Wir haben bereits ein Foto des Toten an alle Polizeidienststellen und an das LKA in Kiel gesendet, aber noch keine Rückmeldung erhalten. Auch das Durchforsten unserer Kartei brachte bislang kein Ergebnis. Sobald wir hier fertig sind, machen wir uns an die Untersuchung der Lkw-Plane, in der der Leichnam eingehüllt war. Der Kollege Uwe Wildemann konnte einige wahrscheinlich fremde DNA-Abstriche von der Decke entnehmen, diese sind bereits in Bearbeitung. Zudem fanden wir an einem Saum der Plane einen Etikettenrest des Herstellerlogos, auf dem zu erkennen war, dass sie von der Firma Covertarp in Wilster hergestellt wurde. Also werden wir morgen dort nachfragen. Vielleicht können wir erfahren, für wen diese Lkw-Decke hergestellt wurde, und kommen auf diese Weise ein Stück voran. Außerdem planen wir, uns morgen Vormittag, falls dann der Schnee ganz verschwunden sein sollte, erneut an den Fundort zu begeben, um eventuell doch noch Spuren zu sichern. Der Leichenfundort wurde polizeilich abgesperrt. Sicherheitshalber wollten die Oldenmoorer Kollegen die Stelle entsprechend absichern und weiterhin bewachen.«

Die Staatsanwältin nickt zufrieden. »Sehr gut, weiter so! Ich schlage vor, wir beenden jetzt die Lagebesprechung und machen uns alle an die Arbeit. Sobald der Obduktionsbericht vorliegt oder andere wichtige Indizien auftauchen sollten, treffen wir uns wieder. Danke also für Ihre Berichte. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und noch einen schönen Tag!« Während sie den Teilnehmern der Besprechung auf ihrem Weg aus dem Raum hinterhersieht, bittet sie ihren Assessor, noch ein wenig zu bleiben.

»Was halten Sie von der Sache, Herr Doktor? Ich bin ja erst seit Kurzem hier an der Stelle des nach Kiel versetzten Herrn Uwe Pepperkorn. Sie hingegen haben längere Erfahrung vor Ort. Braust Kriminaloberrat Heinrich Stöver immer gleich so auf? Was ist das überhaupt für ein Mensch? Man hatte mir berichtet, er sei ein guter Polizist, aber so, wie er sich heute hier produziert hat, meine ich eher, dass er nicht gerade geeignet für die Rolle als Kripo-Führungsfigur sein dürfte.«

Dr. Paul Kramer, ein stets ernst dreinblickender, ziemlich hagerer Geselle mit fortgeschrittener Glatze, in einen dunklen Zweireiher, ein weißes Hemd und eine schmal gebundene schwarze Krawatte gekleidet, antwortet: »Da bin ich überfragt, sehr geehrte Frau Staatsanwältin. Sehen Sie, ich hatte bisher wenig oder besser gesagt keinen direkten Kontakt zu unserem Herrn Kriminaloberrat. Alles, was ich im Laufe der Zeit über ihn erfahren habe, ist Hörensagen. Aber das, was man so hört, hat sich heute in seinen hier gezeigten Umgangsformen, vor allem gegenüber seinen Untergebenen, voll bestätigt. Nach diesem Auftritt kann ich nur sagen, dass ich sehr froh bin, Sie als Vorgesetzte zu haben und nicht ihm zu unterstehen. Andererseits – die Bemerkung gestatte ich mir – ist mir die angeblich rein zufällige Anwesenheit der beiden Kieler LKA-Beamten auch nicht unbedingt recht. Dabei muss ich gestehen, dass ich von Kriminalhauptkommissarin Masals gutem Renommee als Ermittlerin gehört habe. Sie hat ihre Karriere an der Polizeidienststelle in Oldenmoor begonnen und ist im Zuge der Strukturreform zum LKA nach Kiel gekommen. So hat es mir zumindest unser Kriminaloberkommissar Steffens berichtet. Ich sage dies nur wegen der Sorge, dass die Kieler diesen Fall an sich heranziehen sollten.«

 

»Herr Doktor Kramer, was halten Sie davon, wenn Sie meinen Vorgänger in Kiel anrufen und vorsichtig sondieren, ob man dort diesen Fall bereits kennt, und gegebenenfalls, wie er ihn beurteilt.«

»Das tue ich sehr gern, Frau Doktor. Ich hatte mit Herrn Pepperkorn immer eine äußerst vertrauensvolle und angenehme Zusammenarbeit.«

*

Hannelore Maas, die in einem Nebenjob das Amt der Pressereferentin der Wind-Powermasters Genossenschaft ausübt, legt tief betroffen den Hörer auf. Geschäftsführer Alfred Rademacher hat ihr soeben von dem Leichenfund auf dem Areal ihres Windparkprojekts berichtet und sie gebeten, sich vorsorglich einige Gedanken zwecks einer eventuell zu publizierenden Erklärung für die Medien zu machen. Die äußerst attraktive, langbeinige und wohlgeformte Fünfundzwanzigjährige erregt mit ihrer langen brünetten Haartracht und den strahlenden grünen Augen die besondere Aufmerksamkeit der Männerwelt, wo auch immer sie auftaucht. Bei besonderen Gelegenheiten wie dem Gildefest im Kolosseum oder dem Feuerwehrball in der Elbdeichhalle ist sie ein gern gesehener Gast und von zahlreichen Tanzfreaks ständig umschwärmt. Eines Tages befand sich unter diesen ein gestandenes Mannsbild namens Harald Maas, seines Zeichens Brandmeister bei der hiesigen Freiwilligen Feuerwehr. Als Lkw-Fahrer hatte er sich vor drei Jahren – vorerst mit nur einem, später noch mit einem zweiten Lastzug – selbstständig gemacht. Seitdem betreibt er eine kleine Speditionsfirma, die sich ausschließlich mit dem Transport von Gemüse aus den benachbarten Gebieten rund um Glückstadt beschäftigt. Hannelore fühlte sich, gleich nachdem sie einander zum ersten Mal begegnet waren, zu diesem besonders männlichen Typ stark hingezogen und wurde ihm bald willig. So kam es, dass sie schon nach kurzer Zeit ihrer Liaison schwanger wurde. Nach einigem Zögern wurde Harald schließlich seiner Verantwortung gerecht und machte ihr einen Heiratsantrag. Hannelores Eltern bewirtschaften in dritter Generation einen der vielen mittelgroßen Höfe am Elbdeich der Blomeschen Wildnis nahe Glückstadt, auf dessen nährstoffreichem Marschboden heimische Gemüsearten besonders ertragreich wachsen. Seitdem Hannelore den Einzelhandels-Kaufmannslehrgang an der Berufsschule in Itzehoe erfolgreich absolviert hat, betreibt sie auf dem Gelände einen kleinen Hofladen, in dem sie sowohl die saisonalen Erzeugnisse aus eigener Ernte, darüber hinaus ihren Kunden aber auch Freiland-Eier und Poularden von Lissy Masals Eulenhof anbietet. Zudem steht auf dem Hofladen eine »Tankstelle« für Frischmilch und es werden Sahne, Joghurt, Butter und diverse Käsesorten vom Holstenhof der Familie Keller angeboten. Johann und Bärbel Schwarz waren von Hannelores Männerwahl keineswegs begeistert, hätten sie doch einen in der Landwirtschaft gut bewanderten Schwiegersohn bevorzugt, damit dieser später ihren Hof übernahm. Zumindest war das Familienmitglied in spe durch den Transport ihrer Erzeugnisse aus dem Gemüseanbau sozusagen mit ihnen verschwägert, also gaben sie – insbesondere weil sich bereits Nachwuchs anmeldete – schlussendlich der Vermählung ihren Segen, dem eine Bürgschaft für den benötigten Bankkredit zwecks Anschaffung eines zweiten Lastzuges folgte. Als sich Hannelore bereits im siebten Schwangerschaftsmonat befand, erlitt sie bedauerlicherweise eine Fehlgeburt, an der sie, als Folge einer Notoperation, beinahe gestorben wäre. Das war für die Familie ein tiefer Schock, umso mehr, als sich herausstellte, dass Hannelore nie wieder Kinder bekommen würde. Ihr Mann veränderte sich seit dieser tristen Begebenheit und ihre Beziehung kühlte sich – vor allem in geschlechtlicher Hinsicht – merklich ab. Es gab zwar keine handfesten Auseinandersetzungen, jedoch war die Intensität ihrer vormaligen Zuneigung gedämpft. Harald konzentrierte sich zunehmend auf seine Arbeit und fuhr täglich kurz nach Mitternacht zum Großmarkt in Hamburg. Sein angestellter Fahrer, Herbert Pfannenschmidt, hingegen steuerte jeden Tag Kiel an. Und so ist es heute noch. Wenn die beiden nachmittags zurück sind, beschäftigen sie sich mit dem Abholen der Ware aus der benachbarten Umgebung. Beide – sowohl Harald Maas als auch Herbert Pfannenschmidt – kommen fast immer erst am späten Abend von der Tour zurück, parken ihre Kühl-Lastkraftwagen in einer eigens dafür gebauten Remise und verzehren schließlich gemeinsam ihr Abendbrot in der Wohnküche des Hofes. Zu so später Stunde hat sich der Rest der Familie bereits zur Ruhe begeben.

Nur gelegentlich durch einen Kauflustigen unterbrochen, der den Laden betritt, arbeitet Hannelore am Schreibtisch ihres kleinen Büros und versucht einige zusammenhängende Sätze für die von ihr geforderte Verlautbarung zu Papier zu bringen. Dabei schweifen ihre Gedanken von dem tristen Leichenfund ab und gleiten in die Ferne. Schon als sie den Fremden das erste Mal sah, verliebte sie sich in den blonden, ungemein gut aussehenden jungen Mann, von dem sie lediglich weiß, dass er aus Lübeck stammt. Sie bemerkte ihn des Öfteren bei Veranstaltungen und Zusammenkünften sowohl von Befürwortern als auch Gegnern der Windkraftanlagen, an denen sie weisungsgemäß teilnahm. Natürlich blieb ihr nicht verborgen, dass dieser ausgesprochen schöne Mann immer wieder in ihre Richtung schaute und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hannelore war – das muss sie sich auch heute noch ehrlich eingestehen – durch die nachlässige Art und die sexuelle Kälte ihres Ehemannes wahrlich liebeshungrig geworden. Fast jede Nacht, wenn sie allein im Ehebett lag, brach sie in Tränen aus und tröstete sich, indem sie sich selbst befriedigte. Jedes Mal, wenn Harald Stunden später zu ihr ins Bett kroch, war sie bereits in einen tiefen Schlaf versunken. Dann auf einmal weckte plötzlich dieser Adonis die heißesten Gefühlsregungen in ihrem Inneren. Als Werner Reimers bei einer Protestveranstaltung direkt hinter ihr stand, spürte sie seinen aufgeregten Atem an ihrem Nacken. Sie sah sich vorsichtig um und bemerkte, dass die Blicke sämtlicher Anwesenden auf den Sprecher fixiert waren, der vor ihnen vehement einen lautstarken Appell zum Widerstand gegen die verhassten Windkrafträder und die »Verspargelung unserer Natur« aufrief. Eine unwiderstehliche Kraft trieb sie Schritt für Schritt rückwärts, bis sie den direkten und warmen Körperkontakt und bald darauf die drängende Härte seiner Männlichkeit an ihrem Gesäß verspürte. Willenlos ließ sie sich wenig später von dem Unbekannten vom Versammlungsort wegführen, nachdem ihr dieser nur das Wort »Komm!« ins Ohr geflüstert hatte. Verschämt blickte sie aus dem Seitenfenster des fahrenden Autos, mit dem sie gemeinsam zum Gasthof »Zur Lindenschenke« fuhren, in dem er logierte. Unbemerkt betraten sie das Gebäude durch eine Hintertür und er führte sie auf sein Zimmer. Wortlos küssten sie sich, rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leibe und fielen von einem leidenschaftlichen Fieber befallen übereinander her. Von da an nahmen sie jede sich bietende Gelegenheit wahr, um sich – wo auch immer – zu treffen. Viel sprachen sie bei ihrem immer wieder heftig aufflammenden Liebesakt nicht miteinander, zu sehr waren sie in diesen versunken. Die wenig ihnen geschenkten Augenblicke nutzten sie ausgiebig für Liebkosungen und intensivsten Geschlechtsverkehr.

»Ist jemand da? Hallo?«

Der Ruf unterbricht Hannelores Träumerei. Ein wenig beschämt bemerkt sie, dass sich ihre rechte Hand in ihrem Schoß befindet. »Einen Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen!«, ruft sie zurück, eilt zum Waschbecken und wäscht sich die Hände.

»Was kann ich für dich tun?«, fragt sie wenig später das junge Mädchen, das sich suchend im Laden umschaut.

»Meine Mama hat gesagt, ich soll einen Liter Milch in diese Kanne füllen. Können Sie mir bitte dabei helfen?«

*

Es hat zwar aufgehört zu schneien, doch stattdessen regnet es immer wieder in Strömen. Der Mann in der Tür schüttelt das eiskalte Wasser von seinem Regenschirm ab, bevor er die Polizeidienststelle Oldenmoor betritt. »Guten Tag! Ich komme, um eine Vermisstenanzeige zu machen, Frau Kommissarin.«

»Ich danke Ihnen für die nett gemeinte Beförderung.« Die freundliche weibliche uniformierte Erscheinung mit den rot gefärbten kurzen Haaren unter der Dienstmütze schmunzelt. »Ich bin nämlich leider nur Polizeimeister-Anwärterin. Mein Name ist Helga Timm, zu Ihren Diensten.« Als der Mann lediglich kurz lächelt, fährt sie fort: »Darf ich zunächst Ihren Namen, das Geburtsdatum und die Anschrift erfahren?«

Wortlos legt der etwa sechzigjährige rundliche Mann, der unrasiert und leicht schmuddelig daherkommt, seinen Personalausweis auf den Schreibtisch.

PMA Helga Timm liest laut vor, während sie flink die Daten zur Person in ihren Computer eingibt: »Sie sind also Herr Marius Petermann, geboren am 30. November 1953 in Brunsbüttel, hier am Ort wohnhaft in der Deichgrafstraße Nr. 17. Der Name der vermissten Person, bitte?«

»Ich bin der Wirt des Gasthofes ›Zur Lindenschenke‹, eben auch unter dieser Anschrift. Vor etwa drei Monaten mietete sich ein junger Mann aus Lübeck, ein gewisser Werner Reimers, bei mir ein. Hier ist der Anmeldezettel, den er beim Einzug ausgefüllt hat. Ich weiß nicht genau, was er hier macht, doch ich glaube, er hat irgendetwas mit der Montage der Windräder in unserer Gegend zu tun. Jedenfalls ist er ein sehr ruhiger und netter Kerl und hat stets pünktlich seine zweihundertachtzig Euro für Zimmer und Frühstück bezahlt. Bisher hat er sich unauffällig und tadellos verhalten. Als er am vorletzten und auch am gestrigen Sonntag nicht wie üblich seine wöchentliche Mietzahlung entrichtete, fragte ich Grazyna, meine polnische Bedienung, ob sie etwas über Herrn Reimers wüsste. Sie sagte mir, dass unser Gast seit dem letzten Wochenende nicht mehr zum Frühstück erschienen ist. Ich fand das merkwürdig, zumal er sich nicht abgemeldet hat. Also ging ich auf sein Zimmer und stellte fest, dass seine Kleidung ordentlich im Schrank hängt. Seine Wäsche liegt in der Kommode und die üblichen Toilettenartikel befinden sich über dem Waschbecken. Ich erkläre hiermit ausdrücklich, in seinem Zimmer nichts angerührt zu haben – ich habe nur nach Herrn Reimers gesehen. Nicht dass Sie jetzt glauben …«

»Keine Aufregung, Herr Petermann, alles ist gut! Beruhigen Sie sich. Ich finde es prima, dass Sie uns Bescheid geben. Gehen Sie bitte jetzt erst einmal nach Hause, wir schicken baldmöglichst einen Kollegen vorbei, der sich das einmal vor Ort ansieht, okay?« Als der Gastwirt nickt, fügt sie an: »Kommen Sie gut nach Hause, auf Wiedersehen. Und nochmals vielen Dank für Ihre Mühe!«

Beim Hinausgehen trifft Marius Petermann auf den just eintretenden Dienststellenleiter, Hauptkommissar Boie Hansen. Die beiden ziemlich beleibten Herren passen nicht gleichzeitig durch den Eingang, weshalb Hansen höflich grüßt und zur Seite ausweicht, um den Besucher hinausgehen zu lassen, bevor er das Revier betritt.

»Moin moin, Chef! Sie sollten besser im Bett bleiben bei der Grippe, die Sie sich eingesackt haben!« Helga Timm ist verwundert über das Erscheinen ihres Vorgesetzten.

»Was wollte eigentlich der Kneipen-Petermann von uns?«, grunzt Hansen gereizt, ohne auf die Begrüßung der Polizeimeister-Anwärterin einzugehen.

»Der hat soeben eine Vermisstenanzeige gemacht. Einer seiner Gäste, ein gewisser Werner Reimers, ist seit Tagen verschollen und hat seine Rechnung nicht bezahlt.«

»Ach so, na dann …« Hansen denkt einen Moment nach: »Einen Werner Reimers kennen wir hier doch nicht, oder? Wird sich wohl wieder einfinden. Und ja, ich gehöre tatsächlich ins Bett, aber ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Unser Willi hat mich gestern Abend noch zu Hause besucht und mir von dem Leichenfund am Windpark erzählt. Dabei habe ich erfahren, dass neben unserem Kollegen KOK Hauke Steffens, der ja jetzt bei der Kripo in Itzehoe ist, auch rein zufällig meine liebe Nili Masal, ihres Zeichens Kriminalhauptkommissarin beim LKA in Kiel, am Tatort war.« Trotz seiner triefenden Nase kann sich Hansen eines genüsslichen Lächelns nicht erwehren. »Ich kann mir bis ins Detail vorstellen, was für ein Donnerwetter unser Hein Gröhl losgelassen hat, als er erfuhr, dass jemand vom LKA dabei gewesen ist!« Er setzt sich an seinen Arbeitsplatz und grient vor sich hin. »Ja, ja, die Nili! Wir haben sie hier sehr gemocht, sie ist eine kluge Deern und macht sich, wie man hört, auch beim LKA sehr gut.«

 

Wie auf ein Stichwort betritt Nili die Polizeidienststelle. »Einen wunderschönen – wenn auch kalten und nassen – guten Morgen allerseits!«

»Segg ick doch, Helga!« Boie Hansen steht auf und geht freudestrahlend auf Nili zu. »Wenn man vum Düvel schnacken deit!« Beide umarmen sich herzlich. Dann besinnt er sich seines Schnupfens und schiebt Nili behutsam von sich weg. »Go forts wiet aff vun mi, Deern, ick bün arg verköllt.« Dann stellt er Nili der Polizeimeister-Anwärterin vor.

Im Laufe der nun folgenden Unterhaltung lenkt Nili geschickt das Gespräch auf den Leichenfund am Windpark. »Stellt euch vor, mein Kollege Walter Mohr und ich waren gerade beim Joggen, als der Streifenwagen der Kripo Itzehoe an uns vorbeifuhr und Hauke Steffens uns wegen des gerade einsetzenden starken Schneefalls in seinem Wagen Schutz anbot. So gelangten wir unverhofft an den Tatort. Ich habe mich natürlich sehr gefreut, Hauke und auch Willi Seifert wiederzusehen. Wo ist der überhaupt?« Nili schaut sich suchend um.

Helga Timm zuckt mit den Schultern. »Der ist nicht da. POM Seifert und PM Klages wurden heute früh erneut zum Tatort gerufen, weil die Itzehoer KTU dort nach weiteren Spuren sucht.«

Nili ergänzt: »Ach ja, wegen des heftigen Schneefalls konnte die Spusi gestern dort nichts Wesentliches finden. Ich bezweifle allerdings, dass es ihnen heute bei diesem Regen besser gelingen wird.«

»Hast recht, Nili, es ist wirklich ein Schietwetter!«, kann Boie Hansen gerade noch von sich geben, als ihn auch schon eine heftige Niessalve überkommt. Die beiden Damen gehen schleunigst auf sicheren Abstand.

»Gesundheit! Ich sag doch, Sie gehören ins Bett, Chef!« Helga Timm zückt eine Packung Taschentücher und hält sie Boie Hansen hin.

»Papperlapapp! Ist doch nur ’n Schnupfen, wat shall dat!«, kontert Hansen mürrisch und zieht ein Taschentuch aus der Packung. »Zeig mir doch mal die Vermisstenanzeige von eben, Helga!« Als er diese über den Schreibtisch entgegennimmt und mit ihr den Anmeldezettel des Gasthofes »Zur Lindenschenke«, schnäuzt er sich zunächst und überfliegt dann das Geschriebene. »Schau doch mal im Computer nach, ob du etwas über diesen Werner Reimers findest. Gemäß Anmeldezettel ist er Mechatroniker, gebürtig am 22.10.1980 in 23554 Lübeck, dort wohnhaft in der Kurauer Straße 7.«

Nili spitzt die Ohren, als sie dessen Vornamen hört. Womöglich handelt es sich um KOK Köppen, der unter dem Decknamen »Werner Reimers« agiert hat. Auf ihre beiläufige Nachfrage erfährt sie von dem gerade erfolgten Besuch des Gastwirtes Petermann und dessen Meldung über das Verschwinden seines Gastes.

»Ich hatte Herrn Petermann gesagt, dass jemand von unserer Dienststelle vorbeikommen wird, um das Zimmer des Herrn Reimers zu inspizieren und ein Protokoll aufzunehmen. Aber jetzt sind ja die beiden Kollegen draußen. Was soll ich also tun?«

Geschäftig macht sich Helga an ihrem PC zu schaffen. »Hm, Werner Reimers gibt es einige in Lübeck: einen Zahnarzt, einen Malermeister, einen emeritierten Professor Doktor. Aber keinen Mechatroniker, und schon gar nicht unter der angegebenen Anschrift – also Fehlanzeige!« Ihr Gesichtsausdruck verrät Enttäuschung.

Nili überlegt. »Ist doch alles ziemlich seltsam, meint ihr nicht auch? Wenn du nichts dagegen hast, Boie, könnte ich ja mit der Kollegin Timm zum Gasthof fahren. Was hältst du davon?«

Boie Hansen nickt. »Eine gute Idee. Wie du siehst, sind wir für den Fall, dass zwei Einsätze gleichzeitig zu geschehen haben, vollkommen unterbesetzt. Ich bleibe so lange hier und halte die Stallwache, bis ihr zurückkommt. Dann gehe ich allerdings gern wieder zurück ins Bett!«

PMA Timm und Nili steigen aus deren Cross Polo und begeben sich in die nur schwach beleuchtete Gaststube. Das Gasthaus »Zur Lindenschenke« empfängt sie mit der so typischen schummrigen Dorfkneipenatmosphäre und einem schalen Geruchsverschnitt aus kaltem Rauch und abgestandenem Bier.

»Hier müsste mal ordentlich gelüftet werden!«, entfährt es Helga Timm, bevor sie laut in den Raum hineinruft: »Hallo! Jemand zu Hause?«

Sie vernehmen dumpfe Geräusche aus der Küche, dann betritt eine zierliche junge Frau die Gaststube. Hinter ihr wippt die Küchentür hin und her. Über ihrer legeren Kleidung trägt sie eine lange braune Schürze. Ihre Haare sind von einem hinter ihrem Kopf zusammengeknoteten Tuch bedeckt. »Tut mir leid, Küche öffnen erst um zwölf!«, verkündet sie, während sie ihre Hände an einem Handtuch abtrocknet.

»Guten Morgen, wir sind von der Polizei«, begrüßt Helga Timm die Frau. »Ihr Arbeitgeber, der Herr Petermann, war heute bei uns auf der Dienststelle und hat uns erzählt, dass bei Ihnen ein Gast vermisst wird – ein gewisser Herr Reimers. Ich bin Polizeimeister-Anwärterin Timm, und dies ist meine Kollegin, Kriminalhauptkommissarin Nili Masal. Bestimmt sind Sie Frau Grazyna, von der uns Ihr Chef erzählt hat, nicht wahr?« Der ausländisch klingende Akzent der Frau ist Helga Timm nicht entgangen.

»Ja, doch, ich bin Grazyna Król aus Opole, schon drei Jahre hier arbeiten bei Herrn Marius. Guter Chef!«, meint sie berichten zu müssen. »Und ja, der Herr Werner ist schon fast zwei Wochen weg! Sagt nicht Auf Wiedersehen, gegangen weg und kommen nicht mehr! Alle Kleider im Zimmer! Hat nix mitgenommen!«

»Stimmt, Frau Król, das hat uns Ihr Chef genauso berichtet. Wir würden uns gern Herrn Reimers’ Zimmer ansehen. Geben Sie uns bitte den Schlüssel?«

Die Frau nickt und geht hinter den Tresen. Einem an der Rückwand befestigten Brett entnimmt sie einen der sechs Schlüssel für die Gastzimmer.

»War Herr Reimers Ihr einziger Gast?«, erkundigt sich Nili.

»Ja, jetzt schon. Wenn die Arbeit an Windmühlen wieder anfängt, dann alle Zimmer sind besetzt von Monteuren. Ich zeige das Zimmer, ja? Es hat Nummer vier«, sagt Grazyna und geht voraus, ohne auf eine Antwort zu warten.

Durch eine Tür am hinteren Ende der Gaststube gelangen sie auf einen Flur und steigen anschließend die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Werner Reimers’ Zimmer entpuppt sich als ein karg möblierter Raum mit einer vergilbt-geblümten Tapete sowie einer ziemlich schmuddeligen Gardine, die vor dem doppelflügeligen Fenster hängt. Die Einrichtung beschränkt sich auf ein altmodisches hölzernes Doppelbett, einen einfachen Tisch mit zwei wackeligen Stühlen, einen Wandschrank mit leicht blind gewordenen großen Spiegeln und eine Wäschekommode. An einer Wand befindet sich ein Waschbecken mit dem obligaten Alibert-Schränkchen darüber.

»Danke, Frau Król, wir kommen jetzt allein zurecht«, lädt Helga Timm die Frau zum Gehen ein. Dann macht sie sich zusammen mit Nili an die Durchsuchung von Werner Reimers’ Hinterlassenschaft. Leider fällt ihnen dabei nichts Nützliches in die Hände. »Alles nur Krimskrams«, stellt Nili fest. »Überhaupt nichts, was uns über diesen Herrn nähere Auskunft geben könnte«, bemerkt sie listig, nachdem sie eine kleine Kassette unter dem Bett erspäht und diese mit dem Fuß weiter unter das Möbelstück geschubst hat. Helga Timm, die gerade eine Schublade der Wäschekommode durchsucht, bekommt davon nichts mit. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Helga?« Nili richtet sich wieder auf, während die Polizeimeister-Anwärterin sich zu ihr umdreht. »Hier ist offenbar nichts zu holen, meinen Sie nicht auch? Ich denke, wir sollten erst einmal zur Dienststelle zurückkehren, damit Boie schleunigst nach Hause kann. Sie übernehmen dort wieder den Dienst. Ich besorge mir ein paar Umzugskartons und komme noch einmal hierher, um alles auszuräumen. Anschließend bringe ich Ihnen die Sachen in die Dienststelle. Und sollte dieser Herr Reimers wieder auftauchen, kann er sich sein Hab und Gut bei Ihnen abholen. Was meinen Sie dazu?«