Transzendierende Immanenz

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Transzendierende Immanenz
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Manfred Bös

Transzendierende Immanenz

Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

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ISBN 978-3-8233-8340-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0201-8 (ePub)

Inhalt

 EinleitungAutoren der philosophischen AnthropologieDas lebendige Sein und die Kunst als Ausdruck transzendierender ImmanenzDie AufgabenstellungEine Vorausschau

 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNSTPaul Alsberg: Das MenschheitsrätselDas Prinzip der KörperausschaltungÄsthetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der KörperausschaltungDas Reich des Schönen und die Selbstwerdung des MenschenResümeeMax Scheler: Die Stellung des Menschen im KosmosDie Biologie, eine neue philosophische ModellwissenschaftDer Gefühlsdrang und die Leiter des LebendigenAusdruck, Empfindung, Wirklichkeit und WahrnehmungInstinkt und Rhythmus, die schöpferische Dissoziation, Intelligenz und WahlDer Mensch ist weltoffenDer Künstler und der MetaphysikerDie PhantasieKunst und RealitätResümeeHelmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des GeistesDer Mensch oder die ontologische Leerstelle auf der philosophischen BühneDie Ästhesiologie des Geistes und der Sinn der SinneDie Versinnlichung des Geistes und die Vergeistigung der SinneDer Leib und die Gegenwart von GeistBewegung, der seelische Untergrund als Basis des Sinns oder die Verschränkung von Sprache und BewegungDer Modus des Hörens als Verbindung von Geist und LeibDie Gegenständlichkeit der SinneDer Mensch und sein MilieuResümeeHelmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische AnthropologieUnter den seienden Dingen, das LebendigeDas Reich des Lebendigen und die Lockerung des SeinsDer Begriff der PositionalitätDas lebendige Ding und die Lockerung der Fesseln des SeinsAusdrücklichkeit, Eigenbewegung und DinglichkeitDie Ortlosigkeit des MenschenDie Doppelaspektivität der menschlichen Innenwelt: erlebnisbedingend wie erlebnisbedingt und die Möglichkeit von KunstDie Sphäre des Geistes und die RealitätDas Gesetz der natürlichen KünstlichkeitVermittelte Unmittelbarkeit oder die Immanenzsituation des SubjektsIn der Sprache wird das Ausdrücklichkeitsverhältnis des Menschen ausdrücklichResümeeArnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der WeltDie Erklärung des MenschenDer Mensch, das natürliche KulturwesenDer Mensch, das stellungnehmende WesenDie InstitutionenKultur als des Menschen eigene DaseinsformWahrnehmung, Bewegung, SpracheDas Führungsfeld, elementar schöpferischDie fünf SprachwurzelnDer Kreisprozess, das Leben des Lautes und der Rhythmus, Energeia des HandelnsAusdruck, eine rein menschliche TatsacheDas Schwungrad des GedankensPhantasie, das eigentliche Sozialorgan des MenschenBeweglichkeit und Stellungnahme, die große Vernunft des LeibesDie Institutionen aus dem Geiste des RitualsDas WortResümee

 Modell einer Ontologie der KunstDie platonische AbspiegelungAusdruck und Nachahmung, ein gegenseitiges BedingungsverhältnisDie ontologische Rechnung des homo faberKunst, die andere Seite der vitalen TätigkeitDer logostransparente Körperleib und die Ausdrücklichkeit des AusdrucksKunst, des Menschen überlebenswichtiges PharmakonDie Autorität und ontologische Dignität des SchönenVom Ursprung der KünsteKunst und EindringlichkeitBild, Tanz, Wort und MusikDas Ritual, Ursprungsort des menschlichen AusdrucksverhaltensDie SpracheExpressivität in PotenzDas lautsteinerne Werkzeug Wort (Paul Alsberg)Sprache und Anspruch der Deitas (Max Scheler)Sprache: Ausdruck von Ausdrücklichkeit (Helmuth Plessner)

 Der Rhythmus, die Bewegung des Wortes in seiner Temporalität und die Versammlung des SeinsMetrum und RhythmusDer Körperleib, das Ermöglichungsgefüge rhythmischer wie metrischer ErfahrungRhythmos, Ordnung in der ErscheinungDie ontologische Fessel des AltgriechischenDas genaueste Maß, das einzige Maß: das GuteDas rechte Maß in der möglichst besten StadtWeisen des Eins-seins. Metrum und RhythmusVom Problem des Rhythmus (Hönigswald)Die ontologische Verankerung des RhythmusDie Bewegung ist die Bedingung der Möglichkeit für die Versammlung des SeinsDer Rhythmus, ein Phänomen zweiter OrdnungBewegte Bewegung, Bewegung zweiter Ordnung ist ein Phänomen der Organisation

 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne GenregrenzenDie Bewegung und die Freiheit des rhythmischen DenkensDie Sprache, Amalgam und ErscheinungLesen, ein physisches Erlebnis und die eigene WirklichkeitDie physisch vermittelte Musikalität der Sprache und die Atmung als Ausdruck der inneren BewegtheitBedeutung und GenussDichterische Realität: el símbolo poéticoDer Tod, die Erinnerung und die MusikDie Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik oder: Das dichterische Denken ist ein Denken, das singt.Das Musikalische, das Charakteristisch-Allgemeine vor dem VielenDas orphische IdiomDer Akzent, das innere Leben des BegriffsDichtung, Enthusiasmus ohne BegriffDer Blues, die música celeste und lebendig werdende FormCuestión de instrumentoDespués de veinte añosBlues de la escaleraRhythmus: Werdende Form in der ErscheinungCaigo sobre una sillaDie Zeile als dramatische FormLebendig werdende Form und individuelle ExistenzDie Verzukunftung der ErinnerungDie Zeile auf dem Weg zur Formwerdung des GedankensSartre oder die dunkle Seite des SeinsMallarmé oder der HeimgangLezama Lima oder die emanación íntimaJuan Larrea und die abseitige Seite des SeinsResümee und Ausblick

 Antonio Gamoneda, ein Realist der SelbsteigenheitDas Haben von Wirklichkeit und der impulso musicalVon der Natur des Lesens, der Natur des Zeichens und des Symbols, Träger der selbsteigenen Realität der nichtfiktionalen Dichtung Antonio GamonedasSehen und Sagen und Sinn¿Signos? (Lectura parcial de José María Navascués)Zeichen und SymbolTextbeispiele und AnalyseOigo al ciego ruiseñor – Das Licht, ein EvidenzsymbolCaigo sobre unas manos – las manos, Symbol der bergenden ExistenzMamá: ahora eres silenciosa como la ropa … – Symbol der VerschweigungSucedían cuerdas de prisoneros – Die Orange, Symbol der Milde und des VerschwindensEran días atravesados por los símbolos – Symbol des beschädigten LebensVeo el caballo agonizante – Symbol autistischer MenschennaturEsta casa estuvo dedicada a la labranza y la muerte – Symbol: Lebenskörper HausDie Selbsteigenheit des dichterischen SeinsDas signum Gamonedae (II – IV)Die expressive Plastik: WortDie Trompete des Kleanthes oder die Selbsteigenheit der dichterischen RedeTranszendierende Immanenz und orphisches IdiomEl óxido se posó en mi lengua … aus Descripción de la mentiraVeo el caballo agonizante … aus LápidasResümee

 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIEDescripción de la mentiraBestimmung und EinleitungDer Dichter als PersonDie Einheit der Sinne und der TextDas orphische Idiom und die Hermetik Antonio GamonedasLápidasDie Inszenierung des TextesLeseverhalten und die Struktur des SehfeldesErinnerungstopologieMenschenalterSatzaussage und SageweiseErinnerung und Epiphanie oder das Wesentlich-Werden der MetapherMetabolismus und MetapherLibro del fríoDie Wirklichkeit, der Tod und das Sinnbild (Symbol)Die Musik, Ausgang von LebendigkeitDas ganz Andere des Seins: der TodArden las pérdidasInneres und äußeres BrennenInneres Feuer, Wut und MutDie Kraft der DichtungDie tapfere MitteCeciliaLebendiges Sein und ErneuerungInfans und SenexDer erfüllte AugenblickLibro de los venenosMetapher und MetaboleAusdruck und lebendiger OrganismusVersammlung, der Name der transzendierenden Immanenz

 

 Canción erróneaOrdnung und IrrenDie Wirklichkeit der ExistenzDer homo absconditus und die Freiheit des Sängers

 NachwortDas signum Gamonedae und das ontologische PlusDer Rhythmus als ontologischer AnkerTranszendierende Immanenz oder die Lockerung des Seins

 LITERATURVERZEICHNISPrimärtexteSekundärtexte

Einleitung
Autoren der philosophischen Anthropologie

1928 veröffentlichte der Münchner Philosoph Max Scheler ein Bändchen mit dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos1. Diese kleine Schrift wurde zur Geburtsurkunde der modernen philosophischen Anthropologie, obwohl auch noch im selben Jahr die weitaus umfassendere Arbeit Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie2 Helmut Plessners erschien. Hinsichtlich der Koinzidenz beider Publikationen bzw. der Originalität der dort ausgeführten Ideen gab es zwischen beiden Autoren noch Jahre später Verstimmungen. Zwölf Jahre danach erschien Arnold Gehlens zentrales Werk zur philosophischen Anthropologie Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt3, womit drei wesentliche Veröffentlichungen zur philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts benannt wären. In dem philosophierenden Arzt Paul Alsberg hatten sie einen Vorgänger, der mit seinem Werk Das Menschheitsrätsel4 1922 zum ersten Mal in neuer stringenter Manier die Heraufkunft des Menschen aus der Natur systematisch darzustellen suchte; desgleichen in dem Biologen Jakob Johann Baron von Uexküll, dem Begründer der Biosemiotik und dem Schöpfer des Begriffs der Umwelt, sowie dem niederländischen Mediziner und Anatom Louis Bolk oder dem Biologen und Anthropologen Frederik Jakobus Johannes Buytendijk. Auch der sich mit Fragen prähistorischer Anthropologie befassende Bonner Physiologe Max Verworn sowie viele andere Natur- wie Geisteswissenschaftler gehören zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu der Gruppe von Forschern, welche über ihr Fachgebiet hinaus sich die Frage nach dem Menschen und dem Menschlichen stellten.

Neben den gerade genannten Autoren gehören zum Kern der damaligen philosophisch-anthropologischen Forschung die Arbeit Einführung in die Philosophische Anthropologie5 des 1944 im Konzentrationslager Oranienburg gestorbenen Philosophen Paul L. Landsberg, dessen Schrift Die Erfahrung des Todes6 ihn zu einem einflussreichen Vordenker des französischen Personalismus machte, die ob der damaligen politischen Umstände zuerst 1935 in Spanien (Übersetzung von Eugenio Imaz) dann in französischer Fassung und erst 1937 in deutscher Sprache in Luzern erscheinen konnte. Auch der Philosoph Erich Rothacker gehört dazu, der mit seiner Veröffentlichung Probleme der Kulturanthropologie7 von 1942 sowie seinen Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie von 1966 zum Mitbegründer der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie wurde.

Selbstredend stehen die hier genannten Autoren nicht exklusiv für das Denken über den Menschen, welches als zentrales Substrat des westlichen philosophischen Denkens seit den Vorsokratikern über Protagoras, die athenischen Klassiker Platon und Aristoteles, über die lateinischen Denker zur conditio humana zu Montaigne, Pascal, den Aufklärern, Voltaire etc. sowie Herder und Kant und weiter hinüber bis zum monumentalen postum veröffentlichten Werk Hans Blumenbergs, Die Beschreibung des Menschen8, 2006 reicht.

Scheler, Plessner und Gehlen scheinen mir jedoch einen bedeutenden Einschnitt in dieser langen Tradition zu markieren, da sie den Versuch unternehmen, den Menschen auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in kosmologischer Perspektive neu zu bestimmen. Wesentliche Begriffe dieser Autoren scheinen bis heute fundamentale Gültigkeit zu besitzen und bei kritischer Revision dieser den Versuch wert, sie auf ein ästhetisches Fühlen und Denken zu beziehen. Eine derart aufgefasste philosophische Anthropologie reiht sich in das Denken der Aufklärung ein. Denn es stellt sich als Wagnis dar, das, was den Menschen wesentlich ausmacht, im Zusammenhang mit dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos sowie jenen Lebewesen – den Tieren, mithin den Pflanzen – zu beschreiben, mit denen er die Erde teilt. Dabei stellt sich zugleich die Aufgabe, in dieser Weltimmanenz einen Zeichenbegriff zu erarbeiten, welcher ästhetisch ausgebeutet und philologisch auf die Dichtung Antonio Gamonedas angewandt, grundlegende Aussagen erwarten lässt, zumal das Werk Antonio Gamonedas dem Versuch eines Denkens der Immanenz entspricht (siehe in Esta luz9, S. 28 und 72), der Mensch in seiner Existenz als zentrales Thema seiner Dichtung verstanden werden kann.

Die Sichtung der Quellen in der Einleitung breitet das denkerische Panorama der philosophischen Anthropologie jener Zeit in zentralen Schriften aus und versucht die grundlegenden Denkmuster der Autoren darzustellen. Es folgen Überlegungen zu einer Ontologie der Kunst, die Verortung der grundlegenden Begriffe von Bewegung, Rhythmus und Maß im Menschen und mit einem Entwurf zum Zeichenbegriff der Eintritt in die Welt der Dichtung Antonio Gamonedas selbst.

Das lebendige Sein und die Kunst als Ausdruck transzendierender Immanenz

Lebendige Natur ereignet sich dort, wo ein Organismus ausdrücklich wird. Ausdrücklich werden ist ein Prinzip des Lebendigen. Eine der Manifestationen der Natur ist das Organische, und im Organischen wird sie sich selbst ausdrücklich. Indem der Organismus ausdrücklich wird, manifestiert er sich als Pflanze, Tier oder sich selbst ausdrücklich auch als Mensch.

Die Kunst exponiert und potenziert dieses dem Lebendigen innewohnende Prinzip der Ausdrücklichkeit. Die Künste sind Ausdruck im emphatischen Sinne. Sie Überhöhen das Prinzip des Ausdrucks in ihren spezifischen äußeren, d.h. objektiven Manifestationen, insbesondere in den Schönen Künsten, doch nicht nur in diesen. Kunst und Leben sind daher keine Gegensätze, sondern eins. Kunst findet statt im Ausdrücklichwerden des Ausdrucks. In ihr wird sich der Mensch in hervorragender Weise seiner selbst gegenwärtig und vermittels ihrer schafft er sich – ein Wesen der Natur – sein Sein.

Kunst ist die absichtsvoll nach außen gewendete Natur des lebendigen Wesens Mensch, die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks im emphatischen Sinne.

Die Form der Ausdrücklichkeit des Lebewesens Mensch heißt transzendierende Immanenz. Transzendierende Immanenz antwortet auf die Alsbergische Frage nach dem Ort des Menschen im Linnéschen System der zoologischen Taxonomie, in dem der Mensch seinen biologischen Platz überschreitet, ohne diesen je verlassen zu können. Sie ist die Antwort auf die Frage nach der Heraufkunft des Menschen als Meister der Negation und Asket, wie Scheler ihn denkt, oder nach der Plessnerschen Dynamik des in der gegensinnigen Grenzvermittlung hervortreibenden Ausdrucks dessen, was schließlich in das sich selbst gegenwärtige Lebewesen Mensch mündet, oder aber wie in einem systemischem Denken als Zusammenhang von sich gegenseitig fordernden Bedingungen à la Arnold Gehlen. Bei ihm bindet sich Erinnerung an Motorik, und Motorik lässt den in Selbststellung stehenden Menschen sich selbst und anderen in Haltung, Handlung und Ausdruck gegenwärtig sein.

Transzendierende Immanenz entspricht der Organisation des lebendigen Individuums Mensch, da es sich in seinem Körper verwirklicht, indem er der Forderung entspricht zu bleiben, „was er ist, und überzugehen in das, was er nicht ist und was er ist.“1

Transzendierende Immanenz ist der Ursprung für die Plastizität des Sinnlichen und Bedingung der Möglichkeit für die Gegenwart des Geistes.

Transzendierende Immanenz ist der Ursprungsort selbsterlebter lebendiger Bewegung und Rhythmus ihr Impuls im Werden.

Transzendierende Immanenz entspricht der Schwellnatur des Akustischen2, das dem Hören, Atmen und der Artikulation zugrunde liegt.

Transzendierende Immanenz ist jene Form von Ausdruck, Haltung und Handlung die, der Gruppe anheim gegeben, von jedem Einzelnen dieser gespiegelt und wiederholt in Tanz, Schrift und Zeichen verwandelt, zur Bedeutung sich verfestigt und es dem Menschen – sich selbst ausdrücklich geworden – erlaubt, aus dem autistischen Schoß der Natur sich zu sich selbst hin aufzuschwingen.

Die Aufgabenstellung

Denkbarkeit also einer sich selbst fordernden Dynamik aus immanenter Struktur heißt die Aufgabe, der sich diese Studie widmet.

Sie besteht demzufolge darin, dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas einen ontologischen Ort aufzuspannen, den es bewohnt und schafft zugleich. Ausgehend also von einer Ontologie des Lebendigen heißt es, eine Ontologie der Kunst am Leitfaden der Begriffe von Bewegung in all ihren Erscheinungsformen von Bewegtheit, Bewegtsein zur Selbstbewegung in Ortsbewegung, Handlung und Haltung sowie in ihrer Spezifizität als Metrum, Zeichen, Rhythmus und Maß zu entwickeln und den gamonedaeischen Logos so im Sein zu verfugen.

Diese Arbeit ist keine kritische, auch wenn krinein und legein (teilen und sammeln) darin wesentliche Bewegungen darstellen – rhythmisch wie denkerisch. Es handelt sich letztlich um den Versuch einer Ästhetik auf biokinetischer Grundlage, weder zynisch noch komisch, verzweifelt oder tragisch, euphorisch oder hochfahrend. Sie bewegt sich mittig, sucht die Balance, wenn auch nicht den Ausgleich.

Die Arbeit widmet sich der Entschlüsselung und Deutung von Dichtung nicht im Sinne einer Lektürekonstruktion, sondern sie versucht eine Freilegung der ontologischen Fundamente1 im dichterischen Denken Antonio Gamonedas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie. Dies führt auch zur Betrachtung der Bedeutung seines Denkens, da mit dem ontologischen Ort der dichterischen Rede auch dessen soziale und historische Relevanz erkennbar wird. Denn dieser ontologische Ort kennzeichnet den Platz des Dichterwortes im Gespräch der Gemeinschaft, und sei es auch nur, um diesen im gleichen Atemzug wieder zu bestreiten oder zu verschieben.

Das Zurückbeugen der Dichtung auf das Sein führt es an den Kreis menschlichen Tuns wie Rechnen, Messen, Zählen, Sagen, Tanzen, Malen oder Singen heran und lässt seine Bedeutung als eine der wesentlichen welterschließenden Aktivitäten des Menschen sichtbar werden. Darin liegt seine epistemologische Qualität und seine ontologische Dignität.

Der Gedanke Denken und Dichten gerade im Werk Antonio Gamonedas zusammenzubringen, kann sich auf seinen Arbeitsprozess berufen. Dieser orientiert sich am Palimpsest. Jeder Text, alt oder neu, kann zu jeder Zeit der Überarbeitung überantwortet werden. Die allgegenwärtige re-ecriture der Texte überschreibt den historischen Abstand in den Resonanzraum der beständig erneuerten Aktualität des Erinnerns. Denn die Erinnerung atmet mit dem Jetzt, während das Gedächtnis den Speicher des Vergangenen stellt. Damit erstarken die inneren symbolischen Verweisungen der Dichterrede und geben den Blick frei auf ein Sein, das sich nicht in Geschichten, sondern in der Darbietung einer Sonderwelt erschließt, der das Antlitz einer individuellen Existenz eignet. Dabei nimmt der Autor keine Transzendenz in Anspruch. Er hält sich streng in der Immanenz seines Seins als Bewohner dieser einen Welt2. Aus dieser Haltung der Immanenz nährt sich die Betrachtung der Sprache als Materie3, aus seinem dichterischen Tun das Transzendieren in und am Material.

 

Dementsprechend bieten die hier zugrunde gelegten Schriften der philosophischen Anthropologie ein passendes Rüstzeug, welches den Menschen aus der Immanenz seines Seins wie aus der Gemeinschaft der Lebewesen und ihrer Geschichte4 zu deuten versucht.

Die beharrliche Anpassung des einmal Niedergeschriebenen an die veränderten anatomischen und physiologischen Bedingungen des Körperleibes und der Bewegungen seines Atmens5, seines Taktes und Rhythmus zeugt von dessen zentraler Rolle für die Dichtung Antonio Gamonedas6. Es zeugt aber auch und vordem von der zentralen Rolle des Rhythmus selbst als einer geführten Bewegung in der Sprache hin zu einer Beschreibung der Welt im Spiegel der Seele7. Der Rhythmus als bewegte Bewegung und Impuls8 der werdenden Form der Erscheinung der Welt im Spiegel der Seele in Sprache teilt und versammelt (legein kai krinein) das Sein in ein Vorher und Nachher, ein Davor und Dahinter, ein Hier und Dort. Die Welt erscheint in der werdenden Form von Bewegung und Beharrung9. Der Rhythmus, indem er den Körperleib, den Beweger der Sprache bewegt, positioniert diesen gegenüber der Welt und die Welt ihm gegenüber. So ist der Rhythmus in der Dichtung Antonio Gamonedas gleichursprünglich, vorursprünglich gar mit dem Gedanken10, und also jener Impuls seines dichterischen Denkens, welches für die werdende Form seiner Sprache maßgeblich verantwortlich zeichnet.

Das pulsiv-musikalische Denken Antonio Gamonedas ist notwendiger Weise ein körpernahes Denken. Für die anthropologische Philosophie ist der Körper, insbesondere der Körperleib der Ort, an dem sich das Drama des menschlichen Lebens manifestiert. Daher kann die theoretische Angemessenheit philosophisch-anthropologischer Begriffe auf die dichterische Praxis unseres Autors behauptet werden.

Die philosophische Anthropologie eines Helmuth Plessners zum Beispiel entspricht dem Gedanken des Ausdrucks aus der Quelle des Körperleibes mit der Idee der exzentrischen Positionalität und der selbstvermerklichen Bewegung, der Manifestation des Geistes in Körperhaltung, Geste und Musik. Diese Auffassung sieht den Körperleib vermittelst der Bewegungsformen von Haltung, Handlung und Stellungnahme auch in die Welt hineingestellt. Denn die exzentrische Positionalität stellt eine Verortung des Körperleibes in sich selbst und der Welt gegenüber dar. In der Körperhaltung wird eine Stellungnahme zur Welt, eine Haltung, ein Gedanke erkennbar, die in einer Handlung oder Darstellung, in Tanz, Rede oder Musik münden mögen. In der selbstvermerklichen Bewegung schließlich erscheint die Bedingung der Möglichkeit des darstellenden, mithin symbolischen Verhaltens grundsätzlich gegeben11.

Hebt der Bürger der platonischen Stadt seinen Fuß zum Dithyrambus oder der Dichter Antonio Gamoneda seine Stimme im Fuß des Verses, so nehmen sie sich selbst gegenüber eine Stellung ein, werden sich, ihrem Milieu und der Welt gegenüber ausdrücklich. Darin finden Bewegung, und in der Folge geführte Bewegung und Rhythmus ihren ontologischen Anker und darin gründet ihre ontologische Dignität.

Nun mag der Autor Antonio Gamoneda die philosophische Anthropologie bedacht oder auch nicht bedacht haben. Die Tatsache jedoch, dass ein Werk existiert, dem der Autor sein Denken anvertraut und in dem die menschliche Existenz zentral, Transzendenz jedoch nur innerhalb dieser thematisiert ist, scheint mir eine hinreichende Ausgangsbasis für eine Untersuchung des Logos poietikos Antonio Gamondas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie darzustellen.

Wenn die Wahl der Ideen und Erklärungen sich als falsch herausstellen sollte, müssten sie widersprüchliche Ergebnisse zeitigen. Dies scheint mir jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Annahme einer Ideengemeinschaft zwischen philosophischer Anthropologie und dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas scheint sich zu bestätigen. Ausdruck dieser ist der Terminus der transzendierenden Immanenz. Transzendierende Immanenz ist der Begriff für einen Gedanken, der eine Dynamik zu beschreiben sucht, welche den Schritt aus einem Innen allein über dieses selbst hinaus entbirgt.

Damit diese Dynamis verstehbar werden kann, bedarf es der Annahme eines gliedrigen Ganzen, einer Komplexion – im Gegensatz zu einem Einfachen. Transzendierende Immanenz ist ein Geschehen der Komplexion, in dem unterschiedliche, einem Ganzen innewohnende Elemente über sich selbst hinaustreiben und die Natur des Ganzen vermittelst interner Prozesse verändern.

Transzendierende Immanenz bezeichnet also ein Geschehen kategorialer Überschreitung, ohne die rhetorischen Figuren der Metapher oder Metonymie einzubestellen.

Transzendierende Immanenz ist eine Form der Ausdrücklichkeit, und das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden ist die gemeinsame Form der Kunst und des lebendigen Seins. Dort, wo sich dieses Geschehen begibt, erscheint Sinn, und der Sinn eignet allein dem Denken und dem Sein, niemals dem Seienden an12.