Brüchige Zeiten

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BARCELONA

4. September 2018, nach 1250 km

Zwischenstation in Vichy (Frankreich).

Waren es echte Träume oder die Gedanken während der Autofahrt? In der kleinen Wohnung knieten wir vor dem Kreuz im Schlafzimmer. Meine Madrid-Oma sprach mit ihm, ich schaute ihn nur an. Dann sah ich mich mit ihr in die Messe gehen. Hand in Hand. Sie bemerkte, wie ich immer wieder zu ihr blickte und lächelte. Das konnte ich sehen, obwohl ihr Kopftuch beinahe das Gesicht verdeckte.

Seltsam. In Wien sprachen meine Eltern nicht über Jesus, aber geträumt habe ich damals von ihm.

Fotos vom See und vom Napoleon Park in Vichy an Fabian geschickt.

*

Mittags wollte sie in Orange sein. Danach war keine längere Pause mehr geplant, vielleicht an der Grenze ein wenig die Beine vertreten und weiter. In acht bis neun Stunden sollte sie Barcelona erreichen.

Es begann bereits zu dunkeln, als ihr Navigationsgerät verkündete, dass sie ihr Ziel nun erreicht habe. Lucía suchte auf der Karte noch die Metro-Station, die konnte sie am nächsten Tag gut zu Fuß erreichen, der Strand sollte auch in der Nähe sein. Sie fuhr in den Citystop Barcelona ein und stellte ihr Wohnmobil ab. Für Sicherheit sei gesorgt, meinte der Portier. Sie buchte vorerst fünf Tage und bezahlte im Voraus. Auf der riesigen, betonierten Fläche wurde ihr ein Platz am Rand zugeteilt.

Ihre Träume waren wirr. In einem hatte ihr Fabian eine Twitter-Nachricht geschickt. Was mache ich hier, während Fabian zu studieren beginnt?, dachte sie, noch im Halbschlaf.

Die Vögel zwitscherten.

Aus halb geöffneten Lidern nahm sie den Kühlschrank, die Tür zum Bad, den Tisch und die Fahrerkabine wahr. Ihr bewegliches Schneckenhaus war recht eng. Es gefiel ihr, damit durch Europa zu gondeln. Barcelona war der Start. Die Madrid-Oma und der Kreuzweg fielen ihr ein. ‚Ans Kreuz mit ihm‘, schrien die aufgestachelten Menschen damals. Wen würden die Menschen heute am liebsten kreuzigen? Im Wachzustand sah sie Fabian.

Der Weg zum Strand war weiter, als sie angenommen hatte. Nach einer halben Stunde musste sie noch zwei Hauptstraßen überqueren, dann lag das Meer vor ihr. Damals, mit fünfzehn, war sie lange in den wiederkehrenden Wellen gestanden. Dort, wo sie brechen, war sie hinausgelaufen und hatte sich in den Auslauf der Wellen gelegt, die Gischt über ihren Körper rieseln lassen. Wie leise Musik, dann wieder stakkatoartig, wild und unberechenbar. Sie war mit ihren Eltern hier gewesen.

Die ersten Restaurants öffneten. Lucía frühstückte in der Sonne. Lange blickte sie aufs Meer hinaus, schloss die Augen … bis Gespräche ihr Interesse weckten. Surf- und Windsurflehrer trugen ihre Bretter an den Strand, grüßten einander lautstark auf Katalanisch und warteten auf Touristen. Lucía fuhr mit der Metro ins Zentrum und ging zuerst in das gotische Viertel. Sie erinnerte sich an den Buchhändlersohn Daniel Sempere, die Hauptfigur in Carlos Ruiz Zafóns Roman Der Schatten des Windes, und konnte nachempfinden, wie er zur Zeit Francos durch die dunklen Gassen Barcelonas lief.

Gegenwärtiges holte sie in die Realität zurück: Becher und Flaschen als Spuren des Nachtlebens, dort und da Schlafende in den Gassen, überall Graffiti an den Eingangstoren und die kleinen Transparente mit den Gesichtern politischer Gefangener an den Balkonen. Bereits in Wien war sie auf das Theater Mercat de las Flores mit seinen Tanzperformances aufmerksam geworden. In einem kleinen Café googelte sie die Adresse am Handy und reservierte eine Karte für den 9. September.

Das Vogelgezwitscher am nächsten Morgen wurde von Hundegebell übertönt. Am Platz neben Lucías Wohnmobil war ein Ehepaar mit einem Zwergpinscher angekommen. Die Frau saß bereits vor dem Wagen. Lucía schüttelte den Kopf und deutete auf ihr Ohr.

Lucía wollte gerade zu Beginn ihrer Reise nicht auf zufällige Begegnungen warten. Noch in Wien hatte sie zu politischen Gruppierungen in Barcelona recherchiert und für den zweiten Tag ihres Aufenthaltes ein Gespräch mit einer Malerin und einen Termin in der anarchistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) vereinbart. Sie fuhr in die Stadt und frühstückte im Café Schilling.

Sie saß an einem Fenstertisch. Eine ältere, große Frau in einem bunten Kleid näherte sich dem Café. Das könnte sie sein, dachte Lucía und nippte am Kaffee. Malerin der katalanischen Bewegung war unter ihren Bildern im Internet gestanden.

Die Frau trat ein um kam sofort auf Lucía zu. „Eugénia“ sagte sie, „ich habe dich bereits von draußen erkannt.“ Sie plauderten ein wenig, dann zeigte ihr Eugénia ihre Bilder am Handy. Die kräftigen Farben gefielen Lucía. Sie entdeckte einige gelbe Schleifen, die die Malerin geschickt in ihren Werken untergebracht hatte.

„Bist du aktive Katalanin?“, fragte sie und zeigte auf ein gelbes Symbol.

Eugénia lächelte: „Gut beobachtet. Ich bin Katalanin und wünsche mir mehr Unabhängigkeit von Spanien, aber nicht die Loslösung um jeden Preis. Ich weiß nicht, was das bringen soll. Ich bin zu sehr Europäerin, als dass ich die Loslösung von Spanien befürworten könnte. Für ein Europa der Regionen bin ich schon. Meine Schwester Laura ist bei allen Demonstrationen mit dabei. Die gelben Schleifen habe ich auch ein wenig für sie gemalt. Natürlich ärgert mich, dass immer noch katalanische Aktivistinnen und Aktivisten eingesperrt sind. Mit den Schleifen will ich meine Solidarität zeigen. Ich kann dir die Bilder gerne schicken.“

Die beiden Frauen redeten lange über Kunst, Lateinamerika, und den überbordenden Tourismus in Barcelona. Bei allen Themen wollte Lucía wissen, welche Haltung die katalanische Unabhängigkeitsbewegung dazu einnahm. Eugénia schlug Lucía ein Treffen mit ihrer Schwester Laura vor, rief sie gleich an und gab ihr Smartphone weiter.

„Ich schweige wie ein Grab“, sagte Lucía am Telefon, nachdem sie von Laura zu einem Vorbereitungstreffen für die große Demonstration am 1. Oktober eingeladen worden war.

Nach dem Telefonat verabschiedete sie sich herzlich von Eugénia. „Deine Schwester eröffnet mir fantastische Möglichkeiten, den katalanischen Widerstand miterleben zu können, danke.“

Sie kam gerade noch rechtzeitig zum vereinbarten Termin mit dem Gewerkschafter der CNT. Allerdings öffnete ihr niemand. Lucía wollte mehr über jene Gewerkschaft erfahren, die ihr Vater öfter erwähnt hatte. Egal, dachte sie, was würden die schon noch von der Franco-Zeit wissen.

Sie schlenderte über Barceloneta zum Strand. Am Weg zeigte sich die Armut der Welt. Taschen, Hüte, Tücher, Sonnenbrillen, Sandalen und einiges mehr lagen auf den Pflastersteinen. Dutzende afrikanische Verkäufer lungerten herum. Sie kaufte ein T-Shirt und eine große Liegedecke für den Strand.

Nach dem Abendessen blieb Lucía im Restaurant sitzen. Sie hätte es wissen müssen. Im September kann man am Meer noch einen schlimmen Sonnenbrand bekommen. Es würde wohl eine unangenehme Nacht werden, am Bauch konnte sie nicht schlafen. Erst nach Mitternacht kam sie zurück zum Wohnmobil. Der Zwergpinscher meldete ihr Ankommen. Im Bett fiel ihr Martina ein. Scheiße, ich habe ihr laufende Berichte versprochen, das werde ich morgen vom Strand aus nachholen.

So sehr Lucía den Schlaf liebte, er wühlte sie auch immer wieder auf. Erneut durchlebte sie im Traum angstmachende Abenteuer mit Figuren, die sich gar nicht kennen konnten. Lucía rollte sich vorsichtig aus dem Bett. Der Rücken brannte noch. Ihr junger Vater war ebenfalls eine Traumfigur, er gefiel ihr und sie erinnerte sich, dass sie ein Jahr, nachdem die Olympischen Sommerspiele in Barcelona ausgetragen worden waren, mit ihren Eltern hier gewesen war. Unten am Strand, an einem ruhigen Platz unter Palmen, neben der Marina. Ihr Vater hatte ihr von seiner Jugend erzählt und danach aus dem Muster der Pflastersteine Spiele für sie erfunden.

Die Sonne stand bereits hoch, als sie wieder am Platz zwischen den Palmen ankam. „Wir dürfen nur die hellen Platten berühren“, hatte ihr Vater damals gesagt. Sie spürte ihre Jugend und versuchte es wieder, indem sie von einem beigen Pflasterstein zum nächsten sprang. Manchmal landete sie in einer Sackgasse, musste umkehren, einen neuen Weg suchen. Lucía balancierte, hüpfte. Erinnerungen an ihre ersten Erlebnisse am Meer machten sie übermütig. Mit zwei weiteren Sprüngen erreichte sie den letzten hellen Stein vor der Stiege. Wie werde ich meine neue Freiheit gestalten? Wie wird mich Fabian in Erinnerung behalten? Werden ihn seine spanischen Wurzeln interessieren? Das wogende Glitzern der Wellen erregte ihre Aufmerksamkeit. Kinder standen im Schaum, liefen einige Schritte mit und lachten. Aphrodite wurde aus dem Schaum geboren, fiel ihr ein.

Unter einer Palme streckte sie sich aus, schob den kleinen Rucksack unter den Kopf und blickte in den Himmel. Die Blätter gaben nur Ausschnitte des großen Ganzen frei. Sie dachte an ihre Ehe.

Kann Katalonien unabhängig werden, und kann ich mich von meiner Vergangenheit lösen und ebenfalls unabhängig werden?, fragte sie sich. So musste sie eingeschlafen sein und wieder begleiteten sie seltsame Figuren im Traum.

*

Ich falle! Angst kommt auf. Plötzlich blendet mich etwas. Ich bin gelandet, sehe die Sonne. Sand, Meer, und da unten sitzt einer auf einer niederen Truhe. Muskulös, ein wilder Vollbart, stark gelocktes Haar, vor ihm steht eine überdimensionale rote Schale mit Weintrauben. Hängen auf seinem Kopf auch Trauben, oder sind das die Haare? Jetzt nimmt er die Weinflasche und füllt seinen Becher. Sieht aus wie Dionysos.

Schaut er mich an? Er hebt das Kinn ein wenig, sein Bart glänzt in der Sonne. Er nickt mir zu. Ich lächle, mache einige Schritte in seine Richtung. „Wie mutig“, denke ich und gehe langsam weiter. Er lächelt, rückt zur Seite, macht mir Platz. Ich setze mich auf die Truhe und sehe Kreise im Sand. Er blickt mich mit seinen großen Augen an und reicht mir seinen Becher:

 

„Was führt dich an diesen Ort, Schöne?“

„Erinnerungen und Vergessen“, sage ich. „Ich war als Kind mit meinen Eltern an diesem Platz. Die Steine, die Palmen, das Meer, ich kann mich an sie erinnern. Dabei will ich vergessen.“

„Ist Erinnern nicht ein wichtiger Teil des Vergessens? Erzähle mir, was du vergessen willst?“

Ich suche eine Formulierung. Das Schweigen wird peinlich, er strahlt mich an. Tatsächlich: Er hat einige Weintrauben im Haar hängen.

„Ach“, sage ich nur und weiß nicht, ob er es gehört hat.

„Erzähl. Was hast du gestern gemacht? Was willst du vergessen?“

Hunderte Schwarze liegen am Boden neben ihren Waren und halten sie zum Verkauf hoch. Dahinter liegen riesige Yachten im Hafen, fette Männer in weißen Anzügen, mit Zigarren im Mund, werden von Schwarzen bedient. Sehr junge Mädchen stehen mit den Aschenbechern bereit.

Ich erzähle nichts, schweige, schaue den Bärtigen an. Mit beiden Händen forme ich kleine Hügel im Sand, zerstöre sie wieder. Schütte meine Füße mit Sand zu und breche die geschaffenen Hüllen auf, indem ich meine Zehen bewege. War dort am Strand Fabian zu sehen? Erneut blicke ich den Lockenkopf an.

„Du hast in den Sand gezeichnet. Zufall? Ein Spiel?“

„Wie aufmerksam du bist“, sagt der Bärtige. „Die Kreise sind Positionen meiner Tänzer, die Linien (er deutet sie mit einer Handbewegung an) sind die geplanten Bewegungen und da (wieder deutet er hin), wo sie unterbrochen sind, heben sie vom Boden ab.“

Er lächelt mich an, krault seinen Bart mit den Fingern. Dann steht er auf, stellt sich in einen der Kreise – es sind fünf, sehe ich jetzt – und scheint sich zu drehen. Allerdings bleibt er am Platz stehen, beugt die Knie abwechselnd und asymmetrisch, dabei bewegt er die Arme. Schnell. Die Hände werden von der Sonne beleuchtet. Indem er die Handflächen nach außen dreht, werden sie zu brennenden Fackeln. Ich applaudiere, aber es ist nicht zu hören.

„So werden es die Tänzer ausführen und sie werden springen.“

Er grinst und setzt sich wieder zu mir.

„Gibt es eine Geschichte dahinter?“, frage ich.

Er bietet mir Weintrauben an und steckt sich selbst drei rote in den Mund. Langsam, die Lippen nur ein wenig geöffnet. Ich mache es ihm nach. Er hält seinen Becher mit beiden Händen.

„Komm mit“, sagt er und schließt die Augen.

„Wohin?“, frage ich.

„In unser Tanzhaus, ich lade dich ein.“

Wieder lächelt er mich an. Der Bart strahlt mit.

„Dino“, sagt er und streckt mir die Hand entgegen. „Auf welchen Namen hörst du?“

„Lucía.“

Er lässt meine Hand nicht los. Wir heben ab.

Dino kommt mit fünf Tänzern auf die Bühne, gibt noch einige Anweisungen, die ich nicht verstehe. Sie legen los. Einer tanzt in allen Szenen auf der riesigen schwarzen Fläche, auf seinem Kopf ist bereits mehr Haut als Haar zu sehen. Er zeigt das Drehen der Arme am intensivsten, seine Hände werden durch die Scheinwerferbeleuchtung zu Fackeln. Ist er der Befreier oder soll er befreit werden? Ich frage, aber sie hören mich nicht. Alle scheinen ineinander zu verschmelzen, um gleich wieder wegzuspringen. Immer wieder scheint ein Tänzer auf den Boden zu fallen, und wird doch im letzten Moment aufgefangen. Das Schlussbild erinnert an eine Rose. Sie explodiert, alle werden zu Boden geworfen. Ich öffne die Hände zum Applaus, aber die fünf springen auf und stellen sich als gelbe Schleife Kataloniens auf. Woher nehmen sie plötzlich das Gelb? Ich gehe hinaus. Dino wartet draußen.

„Es ist Tradition, dass ich zum Wein einlade. Du sollst auch etwas essen“, sagt er und bietet mir seinen Arm an. Wir schlendern über den Platz. Menschen stehen am Eingang. Ich sehe sie applaudieren, hören kann ich nichts.

Mehr als zwanzig Personen sitzen um einen großen Tisch. Der Haupttänzer nimmt zu meiner Linken Platz, rechts sitzt Dino. Wieder stellt er eine Schale mit Weintrauben vor sich. Der erste Tänzer steht plötzlich auf dem Tisch, bedankt sich bei Dino für die Einladung und erklärt einiges zur Produktion. Beim heurigen Stadtfest würden sie wieder der Höhepunkt sein.

„Und vergesst unsere Geschichte nicht. Mein Vater saß 1968 noch ein Jahr im Gefängnis der Franco-Faschisten, weil er eine andere politische Meinung hatte. Wir werden uns selbst befreien.“

Alle applaudieren, wieder kann ich nichts hören. Dino schiebt sich drei Weintrauben in den Mund und reicht mir die Schale. Ich nehme auch drei Trauben, sie sind riesengroß, und reiche die Schale an den Tänzer weiter.

„Der Wein soll fließen“, sagt Dino und hebt das Glas.

„Welche Ehre“, flüstert mir der Tänzer ins Ohr. „Jordi“, sagt er, und es ist ihm wichtig, den Anfangsbuchstaben als Katalanisches „tsch“ auszusprechen. Ich denke an seine leuchtenden Hände. Wie sie sich auf der Haut anfühlen würden. Er ist der Befreier. Aber warum lagen in der vorletzten Szene alle am Boden? Dino unterbricht meine Gedanken:

„Deine Arme und die Hände waren heute perfekt“, sagt er zu Jordi, als hätte er meine Gedanken gelesen. Auch seine Arme und Hände hatten mich am Strand beeindruckt.

Nach dem dritten Glas Wein legt Dino seine Hand auf meinen Arm: „Ich habe nebenan eine kleine Wohnung, willst du bleiben?“ Ich nicke und er antwortet mit leichtem Druck seiner Hand.

*

„Idioten!“, rief Lucía und sprang auf. Etwas war in ihrem Gesicht gelandet. Zwei Kinder lachten und liefen mit dem Ball weg. Langsam stand sie auf und betastete vorsichtig ihre Nase. Sie schmerzte. Wie lange habe ich geschlafen? Der Sonne nach neigte sich der Nachmittag dem Ende zu. Und dieser Traum? Lucía kramte ihren Notizblock heraus und notierte die Geschichte.

Der Wind trug ihr vom Meer her neue Ideen zu: Waren es Dinos wenige Worte im Traum, waren es die Tänze, die brennenden Hände? Ist meine Erinnerung wirklich Teil dessen, was ich vergessen will? Was hat Fabian mit den feurigen Händen zu tun? Lucía blieb lange sitzen, wollte nicht mehr in die Stadt fahren.

Sie dachte an ihr Tagebuch. Bis zum Wohnmobil waren es drei oder vier Kilometer. Dort zog sie Klytia aus dem Bücherregal und tauchte in das Heidelberg des sechzehnten Jahrhunderts ein. Selbst während der Fahrten im Wohnmobil dachte sie an Klytia in der Person von Lydia, die damals sowohl mit ihrer Vaterliebe als auch mit ihrer bedingungslosen Liebe zum Pfarrer mächtige Männer beeinflusst hatte. Die vorgebliche Zuneigung des Geistlichen hatte sie erst spät bemerkt, hatte ihm verziehen und ihre Liebe zu ihm aufrecht gehalten. Erst damit konnte sie das Herz des Kurfürsten erweichen und die Freilassung ihres Vaters erreichen. Klytias Einfluss beeindruckte Lucía erneut. Würde ich das auch können? Der Roman war ein Teil von ihr geworden, sie konnte sich nicht vorstellen, ohne ihn zu reisen. Soll ich meinem ehemaligen Verehrer aus Heidelberg nochmals schreiben?

7. September 2018, Citystop Barcelona

Was für erste Tage.

Die katalonischen Fahnen und die Transparente im Zentrum sind mit den Tänzern in meinen Träumen eine Einheit geworden. Unglaublich! Was hat das zu bedeuten?

Wäre ich nicht nur im Traum bei Dino geblieben? Egal, wahrscheinlich werde ich nie so einen Typen treffen. Aber was hat es mit dem Vergessen und mit meiner Erinnerung auf sich? Habe ich meine Erinnerungen viel zu selten mit Fabian geteilt? Ich werde ihm ein Foto vom Strand senden.

Endlich eine Nachricht an Martina geschickt.

Ich träume viel, weiß aber nicht, wie lange es noch dauern wird, bis ich in meinem neuen Leben angekommen bin.

*

Laura wartete auf Lucía an der Metrostation der Linie L3, Maria Christina. Gemeinsam gingen sie zum Versammlungsort. Die Vertreter der Bewegung mussten einander an immer neuen und geheimen Plätzen treffen. Etwa dreißig Personen waren in dem kleinen Saal. Lucía wurde von vielen mit einer Umarmung begrüßt. Sie wurden ohne Weiteres durchgelassen. Laura stellte sie als österreichische Solidaritätsaktivistin vor und ergänzte, dass sie offen reden könnten. Unbehagen stieg in Lucía auf.

„Die Katalanische Rebellion ist eine Erfindung der spanischen Justiz“, übersetzte ihr Laura die katalanischen Worte des Redners. Lucía verstand einzelne Worte, den gesamten Sinn konnte sie nicht erfassen.

Wieder empfand Lucía Unbehagen. Ja, sie war interessiert, wollte solidarisch sein, aber sie wusste noch nicht, ob sie wirklich hinter einer völligen Loslösung Kataloniens von Spanien stehen konnte. Nun wurde sie persönlich begrüßt, musste aufstehen und wurde frenetisch beklatscht. Sie hob beide Hände und lächelte.

Laura hatte einen wichtigen Stellenwert in der Bewegung. Anscheinend war ihr Mann unter den Inhaftierten. Sie übersetzte weiter für Lucía.

Die Bewegung sollte jedenfalls gewaltfrei bleiben, auch wenn es Stimmen in Spanien gab, die die demokratisch gewählte Regierung in Katalonien mit dem Nazi-Regime gleichsetzten.

„Ein Richter spricht gar vom ‚infektiösen Virus‘ unserer Bewegung – und bedient sich damit selbst einer Redewendung der Nazis“, sagte der Sprecher.

Die Gruppe wollte am ersten Oktober, zum Jahrestag des Verbotes der Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens, wichtige Straßen und Bahngeleise blockieren, Barrikaden errichten und zu einer Großdemonstration aufrufen. Die wichtigsten Aufgaben wurden verteilt. Eine Frau fragte, ob es schon Pläne für die Befreiung der Gefangenen aus den Gefängnissen gäbe. Niemand antwortete. Trauten sie Lucía doch nicht?

„Wir werden die Unabhängigkeit erreichen, egal, ob dies heuer, nächstes Jahr oder in zehn Jahren sein wird“, schloss der Redner.

Viele Augen richteten sich danach auf Lucía. Sie spürte, dass sie jetzt etwas sagen musste, und stand auf: „Ich fahre in den nächsten Tagen nach Málaga, aber ich komme rechtzeitig vor dem ersten Oktober zurück“, sagte sie und wurde mit Applaus verabschiedet.

Lucía verlängerte ihren Standplatz um zwei Tage. Sie wollte noch das Tanztheater besuchen und danach aufbrechen.

Das Haus sah etwas anders aus als in ihrem Traum. Aber die Aufführung glich der in ihrem Traum. Sie konnte es kaum glauben, auch diese Tänzer bewegten ihre Arme wie Räder. Sie war verwirrt, ein sehr ähnlicher Mann war eine Traumfigur gewesen und jetzt drehte einer seine Arme wie im Traum auf der Bühne? Lucía applaudierte stehend bis zum letzten Vorhang.

Am nächsten Tag wollte sie sehr früh aufbrechen und fuhr daher mit der nächsten Metro zum Stellplatz. Im Bett hielt sie ihre Eindrücke im Notizbuch fest.

10. September 2018, Barcelona

Unglaublich! Wie konnte ich bereits im Traum Ähnliches erleben, was erst heute in der Tanzaufführung zu sehen war? Oder war es der Traum, der meine Interpretationen der Tänze beeinflusst hat?

Ich packe sie ein, die von den Armen erzeugten Windräder, mit den brennenden Händen daran. Auch die dargestellte Unterdrückung und die Befreiung der Katalanen werden meine Erinnerungen an Barcelona noch lange wachhalten.

Hätte es auch Fabian gefallen? Er bekommt noch eine WhatsApp-Nachricht.

Lieber Fabian,

alte Erinnerungen an und die neue Bewegung in Barcelona füllen meine Tage. Neben spannenden Gesprächen mit einer Malerin und mit katalanischen Aktivisten erinnerte ich mich auch an die Zeit mit meinen Eltern, damals am Strand in Barcelona, als ich fünfzehn war.

Hast du dich schon für ein Studium entschieden?

Foto vom Strand: Zwei Buben hätten mir mit dem Fußball beinahe das Nasenbein gebrochen – aber sonst ist alles cool hier.

Herzlichst, Mama

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