Von Jerusalem nach Marrakesch

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Ich hatte bei Professor Scheuch mein Rigorosum im Nebenfach abgelegt und überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte. Ich ließ es. So verschrumpelt wie er mir erschien, so befremdlich würde mein Backpackeroutfit auf ihn wirken.

Einmal mit den Gedanken in der Vergangenheit angekommen, überließ ich mich den Reminiszenzen eines goldenen Nachmittags. Alle hatten nun gegessen, und viele waren auf den Matten und Liegen eingeschlafen. Leise Jazzmusik tönte über Schiff und Meer. Ich dachte an zuhause, an meine jugendliche Geliebte, die mir bald von der Fahne springen würde, eine schöne junge Frau in der Blüte ihrer Jugend, die mit einem Vaganten wie mir auf Dauer nichts anfangen konnte.

Um die Wahrheit zu sagen: Das Baden in Eilat war alles andere als ein Vergnügen. Zwar schien die Sonne, doch der winterliche Wind, der aus Jordanien herüberwehte, war so eisig, dass sich niemand längere Zeit am Strand aufhalten mochte. So schloss ich mich Hans an, der auf seiner Weiterreise nach Kairo das Katharinenkloster auf dem Sinai besuchen wollte. Seit dem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel war das ohne weiteres möglich.

Die Reise von Eilat zum Weg zum Katharinenkloster auf der Halbinsel Sinai war einfacher als erwartet. Frieden zwischen Arabern und Israeli war also doch möglich, jedenfalls wenn man die Lockerheit zum Maßstab nahm, mit der die Touristen aus Israel die ägyptische Grenze passierten. „Schalom“ und „Salam“ und Stempel in den Pass – und schon waren wir in Ägypten.

Die Wüste Sinai, das geografische Verbindungsstück zwischen Asien und Afrika bestand im Norden aus Sanddünen und im Zentrum aus einem Hochland voller Geröll und respektabler Berge. Aus der Entfernung erinnerten mich die goldgelben Dünen vor dem Hintergrund der Berge an die Sahara zwischen In Salah und Tammarasset. Alles war eindeutig in dieser Landschaft, großflächig unmissverständlich, das ideale Bühnenbild für eine der entscheidendsten Stunden der Menschheitsgeschichte: die Übergabe der Zehn Gebote von Jahwe direkt an Moses, den Führer der Israeliten, die nach ihrer Flucht aus Ägypten auf der Suche nach dem gelobten Land durch den Sinai gezogen waren.

Der Legende nach soll Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen, bereits im vierten Jahrhundert zu Füßen des Mosesberges den Bau der „Kapelle des flammenden Dornbuschs“ veranlasst haben. Gesichert war, dass Kaiser Justinian zweihundert Jahre später die kleine Anlage durch einen stabilen Festungswall von achtzig mal achtzig Metern umgürten ließ. Dieser Wall prägte das Erscheinungsbild des Klosters bis heute, eine wuchtige, burgartige Anlage, die stark an die Koptenklöster Ägyptens erinnerte. Katharinenkloster hieß die Anlage zu Ehren der heiligen Katharina von Alexandrien, von der behauptet wurde, ihre Gebeine seien durch einen Engel von einem Engel Kairo zum Sinai gebracht worden. Unglaublich, wie viele Reliquien in der Antike durch die Gegend geflogen waren. Wieder ein Ort, an dem Juden, Christen und Moslems dem gleichen Mythos huldigten, diesmal aber ausnahmsweise ein Ort, der in seiner Geschichte von Mord und Zerstörung weitgehend verschont geblieben war. Immer wenn arabische Räuberbanden, Mamluken oder Türken das Kloster hatten plündern wollen, wurde ihnen der Schutzbrief des Propheten Mohammed unter die Nase gehalten. So jedenfalls die Klosterlegende, die wie selbstverständlich von der Alphabetisierung orientalischer Wegelagerer auszugehen schien.

In der Hauptkirche des Klosters erschlug mich die übliche orthodoxe Überladung mit Lüstern, Leuchten, Lampen, Pfeilern und Baldachinen. Die Ikonen, die es in der Kirche zu besichtigen gab, waren so düster, als läge über ihnen schon der Schatten der Endzeit.

Kein Mensch hat eine Idee davon, wie gnadenlos kalt es auf der Halbinsel Sinai im Winter werden konnte. Vor allem auf einer Höhe von fünfzehnhundert bis zweitausend Metern. Nur wenige Minuten Aufenthalt im Schatten genügten, um die Knochen vor Kälte knacken zu lassen. Frierend kroch ich am Abend in meinen Schlafsaal in einem ungeheizten Raum, der durch nichts weiter erwärmt wurde, als durch die Körpertemperaturen von zehn schlafenden Individualreisenden.

Mitten in der Nacht, zwischen drei und vier Uhr, standen alle auf und rüsteten sich für die Besteigung des Mt. Sinai. Der asketische Teil der eiskalten Nacht ohne Wasser und sanitäre Anlagen lag hinter uns, nun wartete noch die Ekstase auf uns, vorausgesetzt, es würde gelingen im Dunkel der Nacht den Gipfel knapp 2.300 Meter hohen Mosesbergs zu ersteigen. Wie oft ich während der folgenden zwei bis drei Stunden gestolpert und auf die Steine gefallen bin, weiß ich nicht mehr. Immerhin geriet ich auf diese Weise nicht nur gehörig ins Schwitzen sondern erreichte genau zur Stunde des Sonnenaufgangs den Gipfel. Wie sich die Sonne im Osten über den Weiten der arabischen Wüste erhob, sah großartig aus, doch die Eiseskälte des Höhenwindes zwang mich sofort hinter Gesteinsvorsprüngen in Deckung zu gehen. Welcher gnädige Geist hinter einem dieser Felsen einen Beduinen mit heißem Tee positioniert hatte, wusste ich nicht, doch ich kaufte dem Araber sofort zwei Becher Tee ab, trank den ersten sofort und hielt meine zitternden Hände so lange an den zweiten Becher, bis sie wieder leidlich warm wurden. Im Windschatten des Felsens, in der Nähe eines kleinen Feuerchens, das der Beduine für die Zubereitung des Tees entzündet hatte, beobachtete ich, wie sich der kleine glutrote Sonnenball langsam aus dem Dunst herausschälte, mit seinem Licht den Morgen flutete und bald den gesamte Horizont erfüllte.

Das Leben der Beduinen vom Sinai war kein Zuckerschlecken. Tag und Nacht hockten sie mit ihrem Teegeschirr und ihren Kamelen vor den Klostermauern, um den Touristen zu Diensten zu sein. In der klirrenden Kälte trugen sie nichts anderes als verschlissene Jacketts mit zu kurzen Ärmeln, darunter einen fußknöchellangen Rock mit angegriffenem Schuhwerk. Trotzdem lachten sie, als sie uns für kleines Geld nach unserem Abstieg vom Mosesberg einen herrlichen Couscous servierten.

Trennung von Hans. Er fuhr weiter nach Kairo, ich musste nach Tel Aviv. Im Bus zur Grenze versuchte der Busfahrer von jedem Reisenden ganz ungeachtet der offiziellen Preise einen maximalen Geldbetrag abzuzapfen. Als sein Schwindel aufflog und die Passagiere mit dem Aufstand drohten, gab er ohne mit der Wimper zu zucken, jedem das überzählige Geld wieder heraus. Von Scham keine Spur. Einen Versuch war es ihm Wert gewesen.

Schon am Mittag erreichte ich wieder den Busbahnhof von Eilat. Um zwei Uhr aß ich meine letzte Falafel in Israel. Es war Sabbat, aber diesmal funktionierte der Transport zum Flughafen nach Tel Aviv. Im Abfertigungsraum des Ben Gurion Flughafens hatten die Traveller für die anstehende Nacht bereits die Schlafsäcke ausgepackt. Die Flüge nach Europa würden erst am nächsten Morgen starten. Gottseidank war es warm im Flughafen.

Schlafsack an Schlafsack kam ich mit Anke ins Gespräch, einer Essener Krankenschwester, die in Israel ihren Freund besucht hatte. Leider hatte sich Ariel, ihr israelischer Freund, ganz anders verhalten als vor einem halben Jahr in Deutschland, erzählte sie. Mäßig interessiert, abgelenkt und in seinen Umgangsformen nachlässig, hatte er Ankes Erwartungen bitter enttäuscht. „Warum hat er mir denn nicht einfach geschrieben, dass ich ihm nichts bedeute, dann wäre ich gar nicht erst gekommen“, sagte sie. „So kam ich mir vollkommen überflüssig vor, aufdringlich und lästig.“ Anke hatte ein ehrliches Gesicht, helle Haut und blonde kurzgeschnittene Haare. In ihren Augen lag etwas Verträumtes, ihr Körper war rundlich, der Mund vernascht. Eine Frau, die bereit gewesen wäre zur Liebe, musste unverrichteter Dinge wieder heimreisen. Die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Zurückweisung eingestand, imponierte mir, und so begann auch ich, ohne recht zu wissen, warum, von mir zu erzählen. Anke hörte mir zu, nickte hier und da, fragte nach und schwieg genau an den richtigen Stellen.

Ehe wir unser Gespräch weiter vertiefen konnten, aber war es auch schon zu Ende. Übergangslos gingen im ganzen Flughafen die Sirenen an. Ohrenbetäubender Lärm dröhnte aus den Lautsprechern, Rauch und Nebel quollen aus den Nachbarräumen, Schüsse und Schreie waren zu hören, als eine Durchsage kam, die alle Passagiere aufforderte, sich wegen Terroralarms fort zu ihren Abflugschaltern zu begeben. Da Anke zum Counter der Maschine nach Frankfurt lief und ich den Abfertigungsschalter für die Maschine nach Düsseldorf suchte, habe ich sie nie mehr gesehen. Der Alarm war übrigens nur eine Übung gewesen.


Der absolute Orient

Kapuzenmänner unterwegs
Kulturschock zwischen
Tanger und Essaouira

Schon der Name war eine Verheißung. Ein Land mit drei Vokalen und einer Konsonantenverdoppelung in seinem Namen, ein Land, das zudem noch in Afrika lag, konnte seine Besucher nicht enttäuschen. Großformatige Bilder von urtümlichen Kasbahs, der Anblick weiter Strände, von schneebedeckten Pässen und endlosen Sandfeldern auf Hochglanzfotografien hatte in mir schon in meiner Knabenzeit den Wunsch geweckt: Dieses Land muss ich sehen. Ich entsinne mich, wie ich in den allerfrühesten Zeiten meines Reiselebens, als ich gerade meine erste Anhaltertour durch Skandinavien plante, bereits überlegte, wie ich nach Marokko kommen könnte. Ich war noch keine sechzehn Jahre alt und saß regelmäßig an den Lesetischen der Volksbücherei Köln-Ehrenfeld, als mir der Niederlassungsleiter die schönsten Bildbände über Nordafrika zeigte: herrliche, großformatige Seiten, die sich wunderbar anfühlten und auf denen all das abgebildet war, was ich mit eigenen Augen sehen wollte: das goldene Licht des späten Tages auf der Stadtmauer von Marrakesch, das grün der Oasen am Rande der großen Wüste aber auch die harten männlichen Gesichter der Berber, die mir vorkamen wie Beispiele für ein zweites, ein härteres Menschsein in einem Kontinent, der so ganz anders war als alles, was in Europa existierte.

 

Es dauerte allerdings noch geschlagene anderthalb Jahrzehnte, ehe ich diesen Wunsch in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Die Vorgeschichte dieser Reise braucht hier nicht erzählt zu werden – wichtig war nur, dass ich endlich einen Reisepartner fand, mit dem ich in einem froschgrünen Ford Fiesta, mit einem Zelt und reichlich Konserven im Kofferraum in der Osterwoche nach Süden aufbrach, um das Land der großen Sultane und Marabuts zu besuchen. Mein Partner Wolfgang war vier Jahre älter als ich und in seinem ganzen Wesen dem meinen diametral entgegengesetzt. Er war verbindlich, wo ich schroff war, er war geschickt und geduldig, wo ich fahrig wurde, er war Familienvater, ich war Single, er war vorsichtig, wo ich draufgängerisch war, und er zögerte, wo ich mich schnell entschied - kurz: wir waren eine Mischung aus lauter Gegensätzlichkeiten, die sich gut ergänzten. Unsere Tour nach Marokko sollte die erste Etappe einer lebenslangen Reisepartnerschaft werden; wir waren anschließend zusammen in Algerien, Vietnam, in China, dem Iran, Alaska, Patagonien und an der Seidenstraße und haben Seite an Seite einen Großteil der Welt gesehen. Im Laufe dieses Reiselebens blieb die Welt sich nicht gleich, sie drehte und verwandelte sich nach ihrem eigenen Rhythmus und ist heute eine ganz andere als vor einer Generation. Auch Wolfgang veränderte sich, wurde grauer und gütiger und mir auf diese Weise von Reise zu Reise das unübersehbare Spiegelbild meines eigenen Alters.

Aber davon war damals noch nichts zu ahnen. Wie zwei wild gewordene Buben rasten wir dem Süden entgegen, passierten die Eifel, die Vogesen, das Rhonetal, die endlosen Küsten der iberischen Halbinsel, ehe wir schließlich nach zwei Tagen in der Nähe von Gibraltar die Fähre nach Marokko erreichten. Die Überfahrt von Tarifa nach Tanger vollzog sich wie in einem Rausch. So viele neue Farben und Düfte, fremdartige Gestalten und Geräusche erfüllten die Luft, die Berber sprachen französisch und tranken Bier, manche lachten, andere schimpften, und die meisten trugen merkwürdig bunte Gewänder.

Aber schon an den Kais von Tanger veränderten sich die Eindrücke. Marokko war erreicht, aber von Tausendundeiner Nacht war nichts zu spüren. Tanger war eine Millionenstadt mit überfüllten Straßen, hupenden Autos, sperrigen Obstständen, fahrenden Händlern und – wohin das Auge blickte – mit Kapuzenmännern. Als verfügten diese Kapuzenmänner über unendlich viel Zeit und Raum, bewegten sich mit ihrem eingeschränkten Gesichtsfeld wie im Zeitlupentempo über die Plätze, so dass man fast um ihr Leben fürchten musste. Damals wusste ich noch nichts von den Feinheiten der islamischen Männermode und konnte die Djellaba, das marokkanische Kapuzengewand, noch nicht von der ägyptischen Galabija, dem Kaftan ohne Kapuze, geschweige denn vom Shalwar Qamiz, dem knielangen Hemd aus Pakistan unterscheiden. Aber auch ohne die Kapuzenmänner war das Straßenbild beängstigend: Obst und Mensch, Vieh und Kind, Früchte und Salate, Karren, Tische und Bänke verbanden sich zu regelrechten Bandwurmmärkten, die kein Ende nehmen wollten. An Straßenecken und vor den Geschäften warteten Krüppel und Bettler, lauter erbärmliche Figuren, die ihre Prothesen und Stümpfe den Passanten entgegenhielten und um Almosen baten. Die Geräuschkulisse hatte etwas Heulendes, eine heruntergedimmte Kakophonie aus Klagen, Hupen und Kreischen lag wie eine Glocke über der Stadt.

Der Gran Socco von Tanger war ein palmengesäumter Platz mit Rundbänken, Brunnen und wenig grün. Jugendliche in westlicher Kleidung umkreisten den Platz mit ihren knatternden Motorrädern, als hätte man sie wie Spielzeugfiguren aufgezogen. Trotz des Lärms saßen alte Männer in ihren Kapuzenkaftanen mit gesenktem Kopf im Dauermodus des Dösens auf den Bänken. Als der Muezzin zum Gebet rief, standen sie auf und machten sich auf ins Gotteshaus. Uns wurde der Eintritt verwehrt. Hier war Raum nur für die, die an Allah glaubten.

Im Umkreis des Gran Socco hatte Paul Bowles in dem fiktiven „Cafe Eckmühl-Noiseux“ seinen Roman „Himmel über der Wüste“ beginnen lassen, die Geschichte eines amerikanischen Ehepaares, das gelangweilt die Welt durchstreifte und schließlich ins Innere Afrikas aufbrach, um durch neue Erfahrungen ihre Ehe zu retten. Einer der beiden, Port Moresby, sollte dabei umkommen, Kit, seine Gattin, kehrte am Ende des Romans alleine nach Tanger zurück. Die Fremde hatte sie nicht gerettet sondern vernichtet.

Wir verließen Tanger und fuhren nach Süden. Tausend Kilometer bis zur Grenze der Westsahara. Rechts die Berge, links der Ozean, zersiedelte Regionen ohne Zentrum und Gesicht. Dazwischen alle naselang alleine und wie vergessen am Straßenrand herumstehende Marokkaner. Dort stand ein Marokkaner an der einer Kreuzung, hier ein anderer unter einer Palme, ein Dritter saß in einem Graben, andere kauerten, lagen, standen oder saßen auf Feldern, Steinen oder Brüstungen – alle so merkwürdig weit voneinander entfernt, als sorge eine verborgene Kraft der Abstoßung dafür, dass sie nicht zu eng zusammenrückten. Wie Statisten in einem bizarren Menschenverteilungsprogramm, bevölkerten die Leute die Landschaft - verhüllt mit ihren Kapuzen blickten sie den Reisenden teilnahmslos hinterher, als sei es ihnen egal, wohin sie fuhren oder woher sie kamen. Als wir endlich eine menschenleere Gegend kurz vor Asilah erreichten und ich am Straßenrand einfach nur austreten wollte, stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen ein Kapuzenträger neben mir.

In den kleineren Orten am Wegesrand wiederholten sich immer die gleichen Szenen. In den Straßencafés saßen die Kapuzenmänner auf kleinen Schemeln und blickten uns an, als wären wir soeben vom Mars zur Erde heruntergefallen. Ungläubig und abweisend waren die Mienen der älteren Männer, ölig und voller Schleim die Annäherung von drei jungen Burschen, die sich ungefragt an unseren Tisch setzten und sich in gebrochenem Französisch als unsere „Freunde“ zu erkennen gaben. Einer von ihnen bot uns an, uns in dem Ort herumzuführen, und marokkounerfahren wie wir waren, nahmen wir an. Unser selbst ernannter Führer hatte aber weder von Moscheen oder Medresen eine Ahnung, sondern er schleppte uns sofort in das Teppichgeschäft seines Bruders und verlangte am Ende ein Vielfaches des Entgeldes, das wir ihm freiwillig geben wollten. Als er unser Zögern bemerkte, verwandelte sich sein subalternes Gehabe in ein aggressives Fordern.

Asilah – eine blitzsaubere Stadt, so hell als bewege man sich in einem überbelichteten Foto. Hier waren Künstler zuhause, und viele Fassaden waren mit surrealistischen Gemälden bedeckt. Saubere Straßen, geordnete Märkte, ein zivilisatorisch durchgelüftetes Marokko. In einer Grundschule saßen lachende Knirpse, mitunter zwei auf einem Stühlchen. Diese kleinen Marokkaner waren fröhlich, sie kniepten und winkten, Neugier und Freundlichkeit weste aus ihren Poren. Dafür lief mir im nächsten Ort ein dreister Schlacks hinterher und verlangte zwei Dirham dafür, dass ich einen Truthahn abgelichtet hatte. Sie alle waren Teil einer gewaltigen Kinder- und Jugendwelle, die die Bevölkerung dieses Landes in der nächsten Generation verdoppeln würde.

Das römische Lixus. Totes Gestein, ein Universum von allem entfernt, was an Rom erinnerte. Überwachsene Ruinen ohne Aura. Wohnort der Legionäre, die der Kaiser als Kolonisten an das Ende der Welt verbannt hatte. Später kamen die aus Spanien vertriebenen Moslems hinzu. Alles verband sich mit allem, bis der Marokkaner entstand. Als wir neben den Ruinen hielten, beäugten uns kleine Mädchen aus sicherer Entfernung. Wie scheue Kätzchen ließen sie sich nicht anlocken, noch nicht einmal, als ich ihnen Knäcke und Käse anbot.

Abends liefen die Kinder durch die Gassen. In den Händen trugen sie offene Schachteln, aus denen sie einzelne Zigaretten verkauften. In der Ökonomie der Armut dominierte die kleine Portion. Marokkanische Männer, auch die westlich gekleideten, hielten sich an den Händen und küssten einander. Paare sah ich selten, aber die wenigen Frauen, die unseren Weg unverschleiert kreuzten waren schön. Braune Haut mit einem Bronzeton, hohe Backenknochen, lange, unafrikanische Nasen, breite Münder mit vollen Lippen und weißen Zähnen – das waren die Attribute gesegneter marokkanischer Weiblichkeit Manche gingen unverschleiert über die Straßen und schauten uns frontal in die Augen.

Das erste Wort, das die kleinen Marokkaner lernen, heißt nicht „Mama“ oder „Papa“, sondern „Dirham.“ Könnten Hunde und Katzen in Marokko sprechen, würden sie das gleiche fordern. Ungefragt tauchte ein Halbwüchsiger aus einer Seitengasse auf, schob sich zwischen Wolfgang und mich und sagte auf Französisch: „Straße, schönes Foto, drei Dirham!“ Unwillkürlich ergänzte ich: „Atmen nicht vergessen, ein Dirham“.

An den Ausfallstraßen standen hundertmeterweise gestaffelt die Kinder und hielten den vorbeifahrenden Reisenden Grasbüschel und Blumen entgegen. Zur Ökonomie der Armut gehörte auch das sinnlose Angebot. Ziegen wurden von unbarmherzigen Hirten auf die Bäume gescheucht, damit sich ein vorbeifahrender Tourist daran erfreue. Kamele warteten am Rande der Straße, um ängstliche Touristen auf ihrem Rücken dem Himmel ein Stück näher zu bringen – und seinen Geldbeutel zu erleichtern.

Auf dem Weg nach Rabat bogen wir von der Straße ab, um ein Schlachtfeld zu besuchen. Ksar el Kebir, der Ort, an dem das goldene Jahrhundert Portugals endete. Der junge portugiesische König Sebastian hatte im Jahre 1578 in grotesker Selbstüberschätzung zur Eroberung Marokkos angesetzt. Danach wollte er über Ägypten zum heiligen Grab vorstoßen und als ein neuer Alexander nach Europa zurückkehren. So groß der Traum, so tief der Fall. Kurz nach der Landung in Marokko wurde die portugiesische Armee mitsamt König und Adel vernichtet. Der junge Monarch endete unerkannt in einem Massengrab. Zwei Jahre später fiel die portugiesische Krone an den spanischen König Philipp II. Der größte Teil des portugiesischen Kolonialreiches ging an die Holländer verloren. Nichts erinnerte an diese Schlacht in Ksar el Kebir. Eine Provinzstadt ohne Flair. Ein Ereignis, wie weggewischt aus der Geschichte. Wir kauften ein Netz Orangen und fuhren weiter.

Dann wieder große Städte. Agglomerationen aus Stein am Rande des Ozeans, so müssen Rabat und Casablanca vom Weltraum aus wirken. In der Landeshauptstadt Rabat besuchten wir das Grabmal Mohammeds V, jenes Königs, der das Land 1956 in die Unabhängigkeit von Frankreich führte. Ein schmaler Sarg in einer angedeuteten Krypta. Alles in rostrot-grün gehalten. An Gold und Edelsteinen war nicht gespart worden. Vor dem Mausoleum Mohammeds V erinnerte eine unvollendete Moschee an die großen Tage der marokkanischen Geschichte. Hier war der Almohadensultan Yacub al Mansour, der Schrecken der Reconquista, am Werk gewesen. Die Moschee wäre mit ihrem geplanten Grundriss von 175 mal 128 Metern noch größer gewesen als die Mezquita von Cordoba. Geblieben waren Säulengalerien ohne Dach, dazu der unvollendete Hassanturm, ein prachtvolles maghrebinisches Vierkantminarett, das mit seinen achtzig Metern Höhe selbst die Kutubiya von Marrakesch übertroffen hätte.

Casablanca, die größte Stadt Marokkos, besaß drei Millionen Einwohner. Das war ein knappes Zehntel der Bevölkerung, das immerhin drei Viertel des Nationalproduktes erwirtschaftete. Eine Stadt ohne Geschichte, aus dem Nichts entstanden und so schnell gewachsen, dass keine Zeit geblieben war, einen urbanen Charakter zu entwickeln. Um dem abzuhelfen hatte König Hassan II verfügt, in Casablanca das höchste Minarett der Welt zu errichten. Nun stand es neben der Moschee und ragte mit 210 Metern in die Höhe. Benannt war die Moschee nach dem König, bezahlt für das Gebäude hatte das Volk.

Wir überlegten, ob wir nach Casablanca hineinfahren sollten. Doch die Menschenmassen an den Stadträndern schreckten uns ab. Die Bidonvilles, die Slums von Casablanca, erstreckten sich bis an die Umgehungsstraße. Bilder schrecklicher Verwahrlosung im Vorbeifahren. Menschen, denen die Kleidung in Fetzen vom Leib hing, langhingestreckte Gestalten am Wegesrand, Häuserzeilen, die aussahen wie nach einem Artilleriebeschuss. Casablanca war zum Meer hin orientiert und zeigte den Vorbeifahrenden nur seinen hässlichen Hintern.

 

Dann Szenenwechsel. Weiter Himmel, leeres Land, endloser Ozean. Viel grün, eine fast mitteleuropäische Vegetation, die anzeigte, dass hier reichlich Regen fiel. Und tatsächlich zogen die Wolken in dieser Osterwoche in dicken, schweren Klumpen über den Himmel. Ganz klar war es bisher nur in den kalten Nächten gewesen.

In El Jadida absolvierten wir unsere erste längere Rast. Ein langer weißsandiger Strand, ein gut ausgerüsteter Campingplatz gleich in der Nähe der alten Portugiesenfestung. Vor gut fünfhundert Jahren war hier Bartholomeo Diaz mit seinen Schiffen in Richtung Indien vorübergefahren. Die Zisterne von El Jadida war eine unterirdische, quadratische Halle von gut dreißig mal dreißig Meter Durchmesser. Fünf stämmige Säulen, in deren Mitte sich das Licht der oberen Öffnung im Wasser spiegelte. Zuflucht der Frauen und Kinder, wenn Eroberer draußen vor den Toren standen.

In Azemour lief eine dicke Frau ihrem Mann hinterher und warf mit Steinen nach ihm. Er war gekleidet wie ein Franzose und ging mit durchgedrücktem Kreuz unbeeindruckt vorneweg. Sie, in einen unförmigen weißen Kaftan bis zum Boden eingehüllt, humpelte ihm kreischend hinterher. Der Protest der Tradition gegen die Moderne.

Die Vegetation zwischen El Jadida und Essaouira erblüht im Frühjahr zu kurzem Leben. Neben den Wadis sprossen die Feldblumen. Ausgedörrte Felsen bedeckten sich mit Flechten, die Kronen der Palmen erhoben sich wie Fächer über dem erwachenden Land. Wie steinerne Wellen senkten sich die Hügel zum Meer hinab, immer neue Buchten säumten die endlose Straße nach Süden. Nun war kein Mensch mehr zu sehen. War Afrika endlich erreicht?

Die Altstadt von Essaouira lag auf einer Halbinsel, die völlig vom Meer umschlossen war. Eine ganze Galerie stattlicher Kanonen zielte von der Uferpromenade auf feindliche Flotten, die hier nicht mehr landeten. Die Portugiesen, die in ihren Glanzzeiten Essaouira beherrscht hatten, waren längst verschwunden. Winzige Gassen führten durch die Altstadt. Oft waren die Gebäude in der Höhe der ersten Etage über die Straßen hinweg miteinander verbunden, so dass wir durch schattige Tunnel liefen. Völlig verhangene Frauen huschten vorüber. Kleine Mädchen liefen uns hinterher und sangen ein Lied. Bald würde man ihnen einen Schleier über ihre schönen Haare stülpen.

Vor der Küste Essaouiras lag die Insel Mogador, die schon den Phöniziern bekannt gewesen war. Hier hatten sie die Purpurschnecken gesammelt, aus denen sie den Farbstoff für die in der Antike so begehrten roten Gewänder gewannen. Zweitausend Jahre später hatte es einen schottischen Seemann auf die Insel verschlagen. Sein Name war MacDonald gewesen, er war zum Islam übergetreten und hatte es immerhin bis zum Marabut Sidi Mogdul und zum Namensgeber der Insel gebracht.

Unter einem Marabut (oder Marabout) versteht man eine Person, die durch ihren gottgefälligen Lebenswandel Bewunderung und Aufsehen erregt. Nach ihrem Tod pilgerte man zum Grab des Marabut, meist einem kleinen Mausoleum mit einer weißen Kuppel, um ihm seine Verehrung zu erweisen. Waren die Marabut auch „Sherifen“, das heißt, mit dem Propheten Mohammed verwandt, gehörten sie zur allerobersten Schicht der marokkanischen Bevölkerung. Die Vorfahren der gegenwärtigen Herrscherdynastie der Alawiten hatten ihren politischen Aufstieg als Marabuts im Tafilalet im Südosten Marokkos begonnen. Selbstverständlich waren sie auch mit dem Propheten Mohammed verwandt.

Hinter Essaouira zogen sich die Dünen die Küste entlang. Nur wenige Individualisten fanden den Weg hierher – und wurden durch Weite und Raum belohnt. Solche unendlich langen und sacht abfallenden Weißsandstrände hatte ich in ganz Afrika noch nicht gesehen. Die Temperaturen waren moderat, vom Ozean her wehte eine frische Brise über das Land. So stoppten wir an einem Campingplatz in unmittelbarer Nachbarschaft des Strandes. Der Campingplatz war komplett von Stacheldraht umgeben. Hinter dem Stacheldraht standen Männer mit Gewehren und beobachteten die Umgebung. Nur vier Wohnwagen standen in großen Abständen auf dem schattenlosen Gelände. Es gab ein flaches Haus mit sanitären Anlagen, und einem viereckiges Büro, in dem sich die Verwaltung befand. Dort erfuhren wir, dass niemand ohne Passkontrolle den Platz betreten durfte. Jedem Tourist, der den Platz für einen Ausflug verließ, wurde dringend angeraten, sich abzumelden und anzugeben, wann er voraussichtlich wieder zurückkäme.

„Sollen wir hier wirklich bleiben?“ fragte Wolfgang.

„Ich blickte zum Strand. Glutrot versank die Sonne im Ozean. Ein kitschig schönes Bild ohne einen einzigen Menschen am Strand.

„Wird schon nicht so schlimm werden“, meinte ich. „Ein Strandtag wird uns guttun.“

Der Strandtag tat uns aber alles andere als gut. Der Sand war so weich und fein wie er aussah, das Wasser erfrischend, der Wind kühlend, doch wir fanden keine Ruhe. Immer neue Gestalten tauchten aus der Ferne auf, trotteten langsam heran, als hätten sie alle Zeit der Welt, um sich endlich vor uns aufzubauen und ein Verkaufsgespräch zu beginnen. Was sie anboten, waren Gummibälle, Tücher, ausgefranste Strandmatten und Obst, lauter Produkte, die uns nicht interessierten. Doch sie schienen der Meinung zu sein, dass wir mindestens eines ihrer Angebote kaufen mussten, wenn wir uns schon die Freiheit herausnahmen, an einem marokkanischen Strand herumzuliegen. Mit höflichen, freundlich-bestimmten oder energischen Ablehnungen konnten sie genauso wenig umgehen wie mit Missachtung. Sie blieben einfach am Ort, standen uns in der Sonne, setzten sich oft eine Stunde neben uns, brabbelten in einem fort, mal schleimig mal drohend, aber immer so fordernd, dass ihre bloße Anwesenheit die reinste Nötigung war. Im Lauf des Tages ertrugen wir auf diese Weise drei Besuche, ehe sie endlich verschwanden. Aber es sollte weitergehen. Am späten Nachmittag bauten sich drei junge Männer nach unserer Ablehnung so frontal vor uns auf, dass ich jeden Augenblick mit einem Angriff rechnete. Einer der drei sagte in gebrochenem Englisch „Wenn ihr nicht kaufen wollt, dann gebt uns den Ball“. Unseren Lederball, ein schmuckes Stück, das ich vor der Reise als Geschenk erhalten hatte, wollte ich aber nicht hergeben. Wir rafften unsere Sachen zusammen und standen auf, zwei gegen drei, wir waren größer, aber älter, unsere Aussichten waren nicht gut. Langsam hob ich die Hand, als gäbe ich ein Zeichen zum Camp und fordere Hilfe. Die Jugendlichen drehten sich um und zögerten. Dann wandten sie sich schnell ab und verschwanden in den Dünen. Nach diesem Erlebnis waren alle Pläne, bei Bedarf auch einmal wild im Land zu zelten, gestorben.

You have finished the free preview. Would you like to read more?