Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen

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Bruders Karlmann.

69. Vom Eschenheimer Turm

Zu Frankfurt steht noch gar ein alter Turm von der

ehemaligen Stadtmauer. Einst hatten die Frankfurter

einen Wilddieb gefangen, des Name war Hänsel Winkelsee,

und der saß schon neun Tage im finstern Loch,

ehe Spruch und Urteil über ihn erging, und hörte allnächtlich

die Wetterfahne kreischen und rasaunen

über seinem luftigen Losament hoch oben im Eschenheimer

Turme und sprach: Wär' ich frei, und dürft' ich

schießen nach meinem Wohlgefallen, so schöß' ich

dir, du lausige Fahn' – so viel Löcher durchs Blech,

als Nächt' ich hier gesessen hab'. – Diese Rede hörte

der Kerkermeister und trug sie vor den Stadtschultheißen

der freien Stadt, und dieser sagte: Dem Kerl gehört

keine Gnad' als der lichte Galgen; wenn er aber

so ein gar guter Schütz sein will, so wollen wir ihm

sein Glück probiere lasse. – Und da ward dem Winkelsee

seine Büchse gegeben und gesagt, nun solle er

tun, wes er sich vermessen: wenn er das könne, solle

er frei von dannen gehen, wenn aber auch nur eine

Kugel fehl gehe, so müsse er baumeln, und da krähe

kein Hahn nach ihm. Da hat der Wildschütz seine

Büchse genommen, und hat sie besprochen mit guten

Weidmannssprüchlein, und hat Kugeln genommen,

die auch nicht ohne waren, und hat angelegt und nach

der Fahne gezielt, und hat losgedrückt. Da saß ein

Löchlein im Blech, und alles hat gelacht und bravo

gerufen. Und nun noch achtmal so, und jede Kugel an

die richtige Stelle, und mit dem neunten Schuß war

der Neuner fertig, der heute noch in der Fahne auf

dem Eschenheimer Turm zu sehen ist, und war ein

großes Hallo um den Schützen her. Der Stadtrat aber

dachte bei sich: O weh, unsere armen Hirsche und

sonstiges Wild, wenn dieser Scharfschütze und Gaudieb

wieder hinaus in die Wälder kommt – und beriet

sich, und der Stadtschultheiß sagte: Höre, Hänsel, daß

du gut schießen kannst, haben wir schon lange an gemeiner

Stadt Wildstand verspürt und jetzt auch deine

Kunst mit Augen gesehen. Bleibe bei uns, du sollst

Schützenhauptmann bei unserer Bürgerwehr werden.

– Aber der Hänsel sprach: Mit Gunst, werte Herren,

ins Blech hab' ich geschossen, und schieß euch

auch auf euern Schützenhauptmann. Eure Dachfahnen

trillen mir zu sehr, und euer Hahn kräht mir zu wenig.

Mich seht ihr nimmer, und mich fangt ihr nimmer!

Dank für die Herberge! – Und nahm seine Büchse

und ging trutziglich von dannen. Mit dem Hahn hatte

der Hänsel aber nur einen Spott ausgeredet, er meinte

das Frankfurter Wahrzeichen, den übergüldeten Hahn

mitten auf der Sachsenhäuser Brücke, die der Teufel

hatte fertig bauen helfen. Denn als sie der Baumeister

nicht fertig brachte, rief er den Teufel zu Hülfe und

versprach ihm die erste Seele, die darüberlaufen

werde, und jagte dann in der Frühe zu allererst einen

Hahn über die Brücke. Da ergrimmte der Teufel, zerriß

den Hahn und warf ihn durch die Brücke mitten

hindurch; davon wurden zwei Löcher, die können bis

heute nicht zugebaut und zugemauert werden, und

fällt bei Nacht alles am Tage Gemauerte wieder ein.

Auf der Brücke aber wurde der Hahn zum ewigen

Wahrzeichen aufgestellt. Den meinte der Hänsel Winkelsee,

daß er zu wenig krähe, nämlich gar nicht.

Kapitel 5

70. Der Teufelsweg auf Falkenstein

Auf der Höhe, vier Stunden von Frankfurt a.M., erhebt

sich auf fast unzugänglichem Fels die Burgtrümmer

Falkenstein, die Wiege eines im Taunus und der

Wetterau gar mächtigen Geschlechts, von dessen

Sprossen einige sogar Erzbischöfe von Trier wurden.

Ein Ritter von Sayn minnte die Tochter eines Falkensteiners,

aber der Vater war ihm abhold und wies

des Ritters Werbung mit den höhnenden Worten ab:

Meine Tochter will ich Euch gern zum Ehegespons

geben, ich verlange nur einen geringen Gegendienst.

Schafft diese Felsenzacken in einer Nacht zum gangund

reitbaren Wege um – das ist mein Beding und

mein Bescheid! – Unmögliches war begehrt, und hätten

tausend und aber tausend Hände sich zugleich zerarbeitet

an dem harten Felsgestein, es wäre nicht

möglich gewesen, in solch kurzer Frist das Werk zu

vollenden. Traurig zog der Ritter von Sayn, Kuno geheißen,

von dannen, zog nach dem Heiligen Lande,

focht tapfer in vielen Sarazenenschlachten, suchte den

Tod, fand ihn nicht, blieb stets eingedenk seiner

Minne und kehrte endlich in die Heimat zurück. Mit

schmerzlichen Gedanken umirrte er den felsumtürmten

Falkenstein, hätte gerne Kunde gehabt von seiner

Geliebten – und starrte trübe die Felsen an, die mit

ihrer Härte sein Geschick versinnbildeten. Hier hilft

keine menschliche Macht, nur Zauber könnte diese

Felsen zum Wege bahnen! seufzte der Ritter. Horch –

da war es ihm, als höre er seinen Namen rufen – und

wie er umschaut, hebt sich ein Erdmännchen in brauner

Kutte, eisgrau und mit verschrumpfeltem Gesicht,

aus einer Felskluft herauf und redet ihn mit sondrer

Stimme an: Kuno von Sayn, was lässest du nach Silber

wühlen drunten auf deinem Gebiet und störst

unsre Ruhe? Willst du diese Felsen zum Wege gebahnt

sehn? Willst du die Erbtochter vom Falkenstein,

die droben noch einsam um dich trauert, nach

dir sich sehnt, dein nennen? Dann gelobe nur eins und

schwöre, es zu halten. –

Dem Ritter war es seltsam zumute bei dieser Erscheinung

und Rede, und dachte, es möcht' etwa eine

Versuchung des bösen Feindes, und was er geloben

solle, möchte etwa seine Seele sein. Er fragte daher

nicht ohne Zagen: Was ist dein Begehr? – Da sprach

das Erdmännchen: Versprich mir auf dein ritterlich

Wort, daß du morgendes Tages alle deine Gruben,

Schachte und Stollen willst zuschütten lassen, die wir

ohnedies, so wir wollten, ersäufen könnten, so wollen

wir in heutiger Nacht noch die Felsen ebenen, daß du,

wenn du getan, was ich heische, am lichten Tag hinaufreiten

und den Falkensteiner an seine Zusage mahnen

kannst. – Des war der Ritter hocherfreut, er sagte

gern zu, was der kleine Erdzwerg verlangte, und

begab sich zur Ruhe. Als es Nacht geworden, regte

sich's wunderbarlich um die Burg, es krachte, es polterte,

es hackte, es schaufelte – tausend kleine Berggeister

allzumal, obschon sie zwerghaft gestaltet

waren, mit Riesenkraft begabt, förderten das verheißne

Werk, und als der Hahn den Morgen ankrähte,

war's vollbracht, und als die Sonne hinterm fernen

Spessart heraufstieg, da ritt schon Kuno von Sayn den

neuen Weg und ließ sein Horn erschallen, daß sich

der Wächter auf dem Turme des Falkenstein nicht

wenig verwunderte, und noch mehr der Falkensteiner,

doch freute er sich auch ob des so lang ersehnten

Weges und hat sein Wort gehalten und die Liebenden

vereinigt. Der Ritter Kuno von Sayn hielt gleichermaßen

auch sein Wort, das er dem Zwerg gegeben, und

ließ die Schachte, darin er nach Silber gegraben, zuwerfen

und eingehen. Der Felsenpfad, den die Erdgeister

bahnten, heißt heute noch der Teufelsweg; er

zieht unten an der westlichen Seite des Altking, wo

die Berggeister hausen, durch die Schärdter Höhle

vorüber zur Bergeshöhe.

71. Die Eppsteiner

Es hauste vordessen in den wirren Felsenschluchten

und dunkeln Gebirgstälern um das heutige Eppstein

ein wilder Riese, der lauerte den Jungfrauen auf, und

wenn er eine fing, geschah ihr mehr nach seinem Willen

als nach dem ihren. Einstmals gelang es ihm, ein

Fräulein von Falkenstein, welches ein edler Ritter

minnte, hinwegzuführen. Der Ritter, welcher Eppo

hieß, folgte eilend dem Riesen nach, mit ihm zu

kämpfen oder ihn durch List zu besiegen, und hatte

ein eisernes Netz, das er an einem gewissen Ort aufstellte.

Damit der Riese, wenn er ihn wahrnehme, ihn

nicht sogleich erkenne, mußte der Knappe Eppos Gewand

und Rüstung anlegen, und Eppo trug die des

Knappen. Der Riese achtete sich keinen Deut um den

Ritter, der ihm nachfolgen wollte, er war mit all seinen

Gedanken nur bei seiner Gefangenen und trachtete

danach, ihr zu tun wie den andern, aber ein Schutzgeist

war mit und bei ihr, gegen den weder des Riesen

Stärke noch seine Zaubermacht, denn er war auch ein

Zauberer, etwas vermochte. Voll Grimm darüber

wandte sich nun der Riese Eppo entgegen, und da er

diesen daherkommen sah, so gebrauchte er sich seiner

Zauberkunst und Macht und verwandelte Eppos

Dienstmann in einen Felsen, meinte so, seinen Feind

für genugsam lange Zeit an eine Stelle gebannt zu

haben, und eilte vorwärts, um auch alles Gefolge des

Ritters unschädlich zu machen. Darüber aber stürzte

der Riese in das eiserne Netz, zappelte darin gar gewaltig,

konnt' es aber nicht zerreißen, und nun kam

der Ritter in Knappentracht, der sich verborgen gehalten,

hervor, schleppte den Riesen auf einen hohen Felsen

und stürzte ihn von da herunter, worauf er die Gefangene

des Riesen aus ihrem Bann befreite und sie

zum Ehgenoß gewann. Den verzauberten Dienstmann

konnte Eppo leider nicht lösen, der steht heute noch

starr und steif wie ein Felsen und ist ein Felsen und

 

heißt der Mannstein. Darauf erbaute Ritter Eppo eine

neue Burg auf den Fels, von welchem herab er den

Riesen gestürzt, und das wurde der Eppstein, und zu

den Gewölbrippen im Tor wurden statt der gebogenen

Steine die Rippen des Riesen eingemauert und angeschmiedet.

Dem Ritter aber und seiner Gemahlin entsproßte

ein gewaltig Geschlecht mannlicher Helden

und großer Kirchenfürsten; die Ritter empfingen aus

des Kaisers Hand das Waldbotenamt am obern Taunus

zu Lehen, und fünf Eppsteiner behaupteten nach

und nach den erzbischöflichen Stuhl zu Mainz, drei

davon hießen Siegfried, einer Werner und einer Gerhard.

Dieser Gerhard, der zweite des Namens in der

Mainzer Bischofreihe, war gar ein fester trutziglicher

Herr, und wenn ein deutscher Kaiser anders wollte

wie er, so schlug er an seine Tasche und rief: Potz

Velten! Wenn ein Kaiser nicht will, wie ich will, so

hab' ich schon einen andern Kaiser in der Tasche. –

Einstmals, als auch ein Kaiser ihm nicht zu Willen

war, ergriff er zornig sein Jagdhorn und schrie: Daß

den Kaiser Gottes Marter schände! So mir's beliebt,

so blase ich aus diesem Horne einen andern Kaiser

heraus! – Er sprach auch solche Worte keineswegs in

den Wind, er war es, der dem Grafen Adolf zur Kaiserkrone

verhalf und ihm auch wieder davon half,

doch hat es ihm später nicht geglückt, und fand Ursache

genug, seine Keckheit zu bereuen.

72. Blutlinde

In der Nähe Wiesbadens steht bei der Burgtrümmer

Frauenstein eine riesige Linde, von der die Sage geht,

daß einst an ihrer Stelle sich gar Trauriges ereignet

habe. Ein Fräulein aus dem Geschlechte der Frauensteiner

liebte einen ihr nicht ebenbürtigen Jüngling

und sah ihn oft, indem sie abends noch außerhalb der

Burgfeste lustwandelte, an einem traulich schattigen

Plätzchen nahe der Burgmauer, wohin ein sonst stets

verschlossenes Pförtchen führte, zu welchem sie allein

den Schlüssel bei sich trug. Endlich nahm ihr harter

und stolzer Vater diese Zusammenkünfte wahr, zürnte

heftig, überraschte die Liebenden und erschlug den

Geliebten mit eigener Hand. Da brach die Tochter

jammernd einen jungen Lindenschoß, steckte ihn

durch das rinnende Blut ihres Geliebten in den Boden,

sprach zu ihrem Vater nie wieder ein Wort und ging

in das nächste Kloster. Täglich weinte sie um ihren

erschlagenen Geliebten, der Lindenschoß aber schlug

Wurzeln und trieb und ward ein Baum, und solange

die trauernde Liebende lebte und weinte, so lange floß

Blut aus des Lindenbaumes Gezweig, so jemand ein

Blatt oder einen Ast abriß. Das tat aber bald niemand

mehr, denn die Menschen scheuten sich, und so erwuchs

die Blutlinde zu mächtiger Höhe und Dicke,

und können den Baum jetzt kaum vier Mann umklaftern.

Nahebei liegt ein uralt Gehöft, der Graroder Hof,

von dem eine verwandte Sage geht. Ein junger Grafensohn

des Lahngaues liebte ein seinem Geschlecht

nicht ebenbürtiges Mädchen, deshalb stieß ihn sein

Vater im Zorne von sich, daß er nie wieder vor sein

Angesicht kommen solle. Das tat denn auch der junge

Ritter, er ging und folgte dem Zuge seines Herzens

und seiner Neigung. Aber um den alten Grafen her begann

ein Sterben – sein Weib starb, seine Töchter

starben, dann die vielen blühenden Söhne allzumal,

einer nach dem andern; zuletzt hatte er nur noch

einen – und auch dieser eine starb. Völlig vereinsamt,

völlig kinderlos war der Greis, da gedachte er mit

Schmerz seines verstoßenen Sohnes, wenn doch der

noch lebte und bei ihm wäre, er wolle ihn gern nicht

mehr um seiner Liebe willen verstoßen. Und ob er

wohl noch lebte? – Da machte der alte Graf sich auf,

den Sohn zu suchen, und suchte ihn ab und zu am

Rheinstrom und in den Flußtälern, die in diesen münden,

und in den Seitentälern und auf den Bergen. Da

kam er einst ermüdet an ein kleines Winzergehöft,

und da traf er ein Winzerpaar, Mann und Frau und

wohl auch Kinder, und sahe, wie diese Leute ringsum

den Felsboden gerodet hatten und hatten Reben gepflanzt

und gewannen ihr Brot, das sie mit ihm teil-

ten, denn er war hungrig, und das junge Weib bot ihm

Trauben aus irdener Schüssel, und der Mann trat

dazu, auf der Schulter den blinkenden Karst, blinkend

von stetem, fleißigem Gebrauche. Da erkannte der

alte Graf mit einem Male seinen Sohn in dem Häcker

und fiel ihm um den Hals und weinte und segnete.

Darauf hat der Ritter über sein Weinberggehöft sich

eine Burg gebaut und sie mit den Seinen bezogen,

denn er wollte nicht mehr hinweg von dem Stück

Erde, das er mit seinem Weibe gerodet und bebaut

hatte. Das nannte man hernach den Grafenroder oder

kurzweg Graroder Hof, weil ein Graf es gerodet hatte.

Der alte Graf lebte noch lange Jahre glücklich bei seinen

Kindern und Enkeln, und der junge Graf nahm

zum Helmkleinod einen bärtigen Mann im schwarzen

kurzen Rock, auf der Schulter eine silberne Rodhaue

tragend, zum Andenken, daß er selbst mit seiner Geliebten

den Boden gerodet habe. In der alten Kirche

zu Schierstein am Rhein sind noch Grabmäler des Geschlechts

zu sehen.

73. Not Gottes

Zu Rüdesheim am Rhein bewohnte das mannliche

Geschlecht der Brömser von Rüdesheim ihre uralte

graue Feste, deren Aufbau in die Römerzeit fällt, und

weiter stromabwärts an der Waldberger Höhe ist das

Kloster gelegen, welches den wunderbarlichen Namen

Not Gottes trägt. Ein Brömser von Rüdesheim zog

nach Palästina, tat allda viele mannliche Taten, bezwang

viele Sarazenen und kämpfte mit einem Drachen,

den er auch erlegte, aber bei dieser Gelegenheit

oder bald darauf fiel er in die Hände der Ungläubigen,

die ihm schwere Ketten zu tragen auferlegten. Da gelobte

er in seinem Kerker, seine Tochter, die er als ein

junges Kind verlassen, dem Himmel zu weihen, wenn

sie am Leben bleibe und er in die Heimat rückkehre.

Und siehe, des Ritters Ketten fielen von ihm ab, der

Himmel nahm das dargebotene Opfer an, der Ritter

entkam und eilte der Heimat zu. Freudvoll empfing

ihn seine schön erblühte Tochter, und er offenbarte ihr

sein Gelübde. Da wurde die Tochter bleich wie der

Tod – sie war in Minne einem jungen Ritter zugetan,

dessen Hand zugesprochen zu erhalten sie von ihrem

Vater zuversichtlich gehofft. Aber es halfen nicht Flehen,

nicht Tränen, der Vater glaubte dem Himmel vor

allem schuldig zu sein, sein ritterliches Wort zu hal-

ten. Da enteilte die Tochter laut wehklagend der

Brömserburg, erklimmte den nächsten Felsen und

stürzte sich in den Strom hinab. –

Groß war des Vaters Schmerz, und da er nun sein

Gelübde nicht halten konnte, und um des teuern Kindes

Schatten zu söhnen, tat er ein abermaliges Gelübde,

er wollte ein Kloster erbauen. Es ging aber ein

Mond nach dem andern hin, und mochte wohl so

kommen, daß der alte Brömser durch alten Rüdesheimer

seinen Schmerz hinwegbannte und darob sein

Gedächtnis etwas schwach ward – da hatte er einmal

ein nächtliches Gesicht: der Drache, den er in Palästina

erlegt, war wieder bei ihm, und lebendig, und

fauchte ihn mit weitaufgesperrtem Rachen an und

drohte ihn zu verschlingen mit Haut und Haar – da

sah er die Gestalt seiner Tochter, die winkte den Drachen

hinweg und blickte gar wehmutvoll auf den

Brömser und verschwand.

Am Morgen aber kam des Brömsers Ackerknecht

und sagte an, wie er in aller Frühe mit dem Pflug und

den Stieren zu Acker gezogen sei, habe er eine klagende

Stimme vernommen, die immerfort gerufen:

Not Gottes! Not Gottes! Und die Stiere hätten nicht

anziehen wollen, sondern immer am Boden gescharrt.

Sogleich begab sich Ritter Brömser selbst hinaus auf

das Ackerfeld, und da vernahm er dieselbe wehklagende

Stimme: Not Gottes! Not Gottes!, die ganz in

der Nähe von der Stelle drang, wo die Ochsen standen

und scharrten, und zwar kam die Stimme aus einem

hohlen Baume. Der Ritter rief und suchte, aber er entdeckte

nichts, da ließ er den Baum spalten, und da

entdeckte sich innen am Boden des hohlen Stammes

eine Monstranz mit dem heiligen Leib und ein hölzernes

Bild des Schmerzensmannes. Als diese Kleinode

dem Baum entnommen waren, schwieg die Stimme,

und die Stiere waren ruhig. Ein Jude hatte beide heiligen

Stücke aus einer nahen Kirche entwendet und

allda verborgen. Das erinnerte nun den Brömser stark

an die Erfüllung seines Gelübdes; er gründete ein

Kloster, ließ an des hohlen Baumes Stelle den Altar

aufrichten und stellte das Christusbild darauf, und geschahen

zu dem Kloster, das Zur Not Gottes genannt

ward, und zu dem Bilde viele Wallfahrten rheinab

und -auf, daß öfters an einem Tage sechzehntausend

andächtige Waller da waren, und das Bild tat vordem

große Wunder.

74. Räderberg

Auf dem Räderberge ohnweit Nassau soll vorzeiten

ein Kloster gestanden haben, davon man noch einige

Trümmer sieht, aber niemand wisse, wes Ordens.

Einst ging ein Metzger aus Nassau gegen Abend aus,

Vieh einzukaufen, und wandelte auf der Landstraße

dahin, da fuhr vor ihm her eine Kutsche, und er folgte

ihr immer nach und hatte des Weges weiter nicht acht.

Auf einmal da hält die Kutsche vor einem großen

schönen Landhaus, das dicht an der Straße steht, das

aber der Metzger sich nicht entsinnen kann je gesehen

zu haben, sooft er auch des Weges schon gekommen.

Das Haus war hell erleuchtet, und aus der Kutsche

sah der Metzger drei Mönche steigen, welche in das

Haus hineingingen, und da er vermeinte, es sei das

Haus ein Gasthaus, so folgte er ihnen ebenfalls nach,

um des Hauses Gelegenheit zu erkunden und vielleicht

da Herberge zu suchen. Er sah die Mönche in

ein Zimmer gehen, wo ein Sterbender zu liegen

schien, der ihrer harrte, um die Sterbesakramente zu

empfangen, und dann trat er in einen großen Speisesaal,

wo, so schien es ihm, viele Gäste beisammensaßen,

aßen und ziemlich lärmend zechten. Als der

Metzger eintrat, verstummten alle – aber der obenan

Sitzende erhob sich und brachte dem Metzger einen

Becher dar mit den Worten: Noch einen Tag! – Dem

Metzger überlief es kalt bei der Stimme, die er hörte,

und aller Durst verging ihm – da erhob sich ein Zweiter,

trat an ihn heran, gleich wie jener, bot ihm einen

Becher zum Trinken und sagte auch: Noch ein Tag! –

aber der Metzger dankte. Da erhob ein Dritter sich,

kam und sagte: Und noch ein Tag! Jetzt trank der

Metzger und tat Bescheid, um nicht unhöflich zu erscheinen

– als ein Vierter auf ihn zukam und ihm in

gleicher Weise anbieten zu wollen schien. Da wurde

es dem Metzger ganz unheimlich, und schlug ein

Kreuz vor sich hin – und plötzlich war alles hinweg,

er stand in tiefer Nacht ganz mutterseelenallein und

wußte nicht, wo er war, um ihn war Waldgestrüpp

und Ruinengemäuer. Zitternd und bebend erharrte der

Metzger an der wüsten Stätte den Morgen, und als

dieser anbrach, nahm jener wahr, daß er auf dem Räderberg

sei, von der Landstraße weit, weit abgekommen,

mitten in den Trümmern des verfallenen Klosters.

Auf unbegangenem steinigen Wege fand der

Metzger sich zurück, unterließ seinen Geschäftsgang,

ging vielmehr zum Pfarrer und entdeckte ihm, was

ihm geschehen war. Genau nach drei Tagen war der

Metzger tot.

75. Die Wisperstimme

Ohnweit Lorch am Rhein liegt eine Mühle im Wispertale

und am Wisperbach, darinnen lebten der Müller,

seine Frau und einige Kinder ganz gut und glücklich.

Das Haus lag dicht am Berg, auf dem die alten

Schlösser Kammerberg und Rheinberg stehen. Einer

Zeit geschah es, daß die Müllerin eine Stimme hörte,

als wispere ihr jemand in das Ohr, und sahe doch niemand

– und dann wisperte es von neuem: Gehe hinauf

auf Kammerberg, hebe den Schatz im Turm – er ist

dir bestimmt – der Schlüssel steckt am schwarzen Kasten.

 

– Die Frau, dadurch beunruhigt, erzählte ihrem

Manne, was sie immer um sich flüstern und wispern

hörte, der aber sagte: Passen! Träumerei! Hirngespinste

– kehre dich nicht an solche Dinge – unser Schatz

ist der weiße Mehlkasten! – Aber die Frau hörte die

Wisperstimme fort und fort und hatte keine Ruhe

mehr und hatte auch Lust zum Schatz, wenn der ihr

doch einmal beschert sei – und eines Morgens, da der

Müller weit oben im Tale am Wehr in der Wisper zu

bauen hatte und nicht so bald nach Hause zu kommen

gedachte, ging die Frau mit ihrem jüngsten Kinde,

einem Säugling, in aller Stille hinauf auf den Kammerberg.

Der Müller aber vollendete sein Geschäft

früher und kam nach Hause, es war gerade Mittag und

Essenszeit, aber die Müllerin fehlte. Wie er nun nach

der Mutter fragte, so sagte ihm sein ältester Knabe,

daß seine Mutter mit dem Jüngsten auf dem Arm

schon vor ein paar Stunden den Berg hinaufgegangen

sei. Eilend rann der Müller hinauf, und als er in die

Trümmer eintrat, hörte er die Stimme seines wimmernden

Kindes, die aus der Öffnung eines halbverfallenen

Turmgewölbes drang, stieg hinab und fand

darin sein Weib leblos am Boden liegen. Eilend zieht

er Frau und Kind aus dem Gemäuer und trägt und

schleppt beide hinab in sein Haus. Dann ist nach langer

Ohnmacht die Müllerin zu sich gekommen und

hat erzählt, die Wisperstimme habe ihr Tag und

Nacht keine Ruhe gelassen, sie habe hinaufgemußt,

und die Stimme habe ihr auf dem Wege noch zugewispert,

sie solle ganz ohne Furcht und Bangen sein,

es werde ihr nichts geschehen, nur reden solle sie um

keinen Preis. Sie stieg in das Turmgewölbe hinab –

da stand der Kasten, da stak der Schlüssel, sie öffnete

– da lag das blanke Gold – sie durfte nur nehmen –

da hört sie plötzlich ihren ältern Knaben hinter sich

rufen: Mutter! Mutter! und antwortet unwillig: Was

gibt's?, und da tut es einen entsetzlichen Krach, als

berste der Turm und stürze das Gemäuer auf sie und

ihr Kind nieder, und eine Stimme ruft aus: Weh! weh!

Warum redest du? Nun bin ich wieder unerlöst auf

aber hundert Jahre! – und da ist es der Müllerin

schwarz vor den Augen geworden. – Und als sie das

alles ihrem Mann erzählt gehabt, ist sie in eine tiefe,

schwere Krankheit verfallen, und nach drei Tagen ist

sie eine Leiche gewesen. So hat es der Wispermüller

selbst erzählt im Jahr des Herrn achtzehnhundertundvierzehn.

76. Die glühenden Kohlen

Im Städtchen Lorch am Rhein, da, wo die Wisper in

den Strom fällt, steht an der Stadtmauer auch eine

Mühle, deren Räder die raschen Wellen der Wisper

treiben. Einer Nacht erwachte die Magd in dieser

Mühle sehr früh, es war ganz hell, und sie meinte

schon, sich verschlafen zu haben, und eilte, das Feuer

in der Küche zu schüren. Da gewahrte sie, wie sie

durch das Küchenfenster in den Hof hinabsah, einen

Haufen glühender Kohlen und ging eilend hinab, um

davon um so schneller für ihr Herdfeuer Brand zu gewinnen.

Drunten lagen um das Kohlenfeuer einige ihr

unbekannte fremde Männer, sie aber fuhr, ohne sich

an diese Männer zu kehren, mit ihrer Schaufel in die

Kohlen hinein und kehrte mit der Schaufel voll in das

Haus zurück. Aber als sie die Kohlen auf den Herd

schüttete, so glühten sie nicht mehr, sondern waren

erloschen. Sofort lief die Magd noch einmal hinaus

und holte wieder eine Schaufel voll – es ging aber gerade

wie beim ersten, die Kohlen waren tot. Und

nochmals rannte die geschäftige Magd hinaus, da

sprach einer der Männer mit tiefer Stimme: Du, höre,

dieses ist das letzte Mal! – Die Magd erschrak, und

befiel sie ein Bangen, doch sprach sie kein Wort und

eilte nur, daß sie wieder an ihren Herd kam. Aber die

Kohlen waren abermals erloschen – und jetzt hob die

Turmuhr auf der Stadtkirche aus und schlug – und die

Magd horchte und wollte gern wissen, wie früh es

wäre, und zählte drei – vier – sechs – sieben – so spät

konnt' es doch noch nicht sein – acht – neun – was ist

das? – und die Uhrglock' schlug immer zu, und schlug

Zwölf – und im Hof verschwand das Kohlenfeuer,

verschwanden die Männer. Der Magd gruselte fürchterlich

– sie eilte in ihre Bettkammer, kroch tief unter

die Decke und betete so viele Seufzerlein und Reimgebetlein,

als sie konnte und wußte. Am Morgen verschlief

sie sich in aller Form, und statt ihrer trat der

Müller zuerst in die Küche, der traute seinen Augen

kaum, als er auf dem Herd statt glühender Kohlen

einen Haufen glitzender Goldstücke liegen sah, nahm

den Schatz und erbaute sich davon ein neues Haus zu

Lorch, gab auch der Magd ihren guten Anteil vom

durch sie gewonnenen Reichtum.

77. Taube zeigt den Tod an

Zu Armsheim auf dem Kirchhof steht ein Grabstein,

darauf ist ein Pflug, auf dem eine Taube sitzt, eingehauen.

Vor vielen Jahren hat dort ein junges Ehepaar

gelebt, und die Frau hatte eine zahme Taube, die war

ihr Liebling und nahm ihr aus dem Munde, was sie

der Taube darbot. Die junge Frau war in guter Hoffnung,

und eines Frühlingsmorgens befiel sie ein Bangen,

als eben ihr Mann hinaus an den Acker gehen

wollte zur Saat, denn es war Säezeit und der Morgen

windstill und heiter. Aber die Frau bat gar herzlich

ihren Mann: Bleibe bei mir! – Doch er entschuldigte

sich mit seiner Arbeit Dringlichkeit und verhieß sich

zu eilen und baldige Heimkehr. – Er hatte aber den

Samen noch nicht zur Hälfte ausgestreut, da kam die

Lieblingstaube seiner Frau geflogen, und flatterte

umher, und setzte sich auf den Pflug, der auf dem

Acker stand, und sah den Sämann an, und schlug mit

den Flügeln. Und da er nicht abließ von seiner Arbeit,

so flog ihm die Taube gegen die Brust und pickte ihn

in das Kinn, und da gedachte er an seine Frau und

eilte heim. Da fand er seine junge schöne Frau tot im

Bette, denn sie hatte ohne Hülfe geboren, und zwei lebende

gesunde Kinder lagen in ihren Armen. Es war

niemand da gewesen, den sie nach Hülfe senden

konnte, und er hatte ihre zarte Bitte nicht verstanden.

Und war die treue Taube nicht, so wären auch die

Kindlein Todes verblichen. Der Mann trauerte, solange

er lebte, freite nie wieder und zog die Zwillinge mit

Liebe auf. Auf der Gattin Grab ließ er das Bild der

Taube meißeln und betete oft um Mitternacht auf dem

Grabe seiner Entschlafenen.

Mehr andere Sagen gehen von Tauben, deren eine

einen Schatz angezeigt, die andere den Feind abgehalten,

eine Stadt zu beschießen.

78. Der Affe zu Dhaun

Hoch über dem Städtlein Simmern liegt der alte rheingräfliche

Burgsitz Dhaun, das war ein gar stattliches

und schönes Grafenschloß mit herrlichem säulengezierten

Palas – und über dem Eingang zum Palas wird

ein Wahrzeichen in Stein erblickt, ein Affe, der einem

Kinde einen Apfel darbeut, von welchem Bilde diese

Sage geht. Es hatte ein Burggraf ein junges Kind gehabt,

das hatte eine Wärterin, die wiegte das Kindlein

im schattigen Burghof, und da der Tag ein Sommertag

und schwül war, so nickte sie ein, und als sie aufwachte,

war das Kindlein aus der Wiege und fort. Da

ward ihr angst und bange, denn wie sie es auch ringsum

suchte und in alle Winkel lugte – es war und blieb

verschwunden. Da schlug ihr der Schreck in alle Glieder,

zitternd vor dem Zorn der Gräfin und des Grafen

dachte sie nichts Besseres tun zu können, als ihr

Leben zu retten, und stürzte in den Wald, um auch da

vielleicht noch eine Spur zu finden. Da kam sie in ein

dunkles Dickicht, und siehe, da saß der Affe, den der

Graf hielt, und hatte den jungen Grafensohn auf seinen

haarigen Armen und küßte ihn gar zärtlich und

schaukelte ihn, legte ihn dann sanft auf ein Lager von

Moos, bot ihm einen Apfel dar, und als es den nicht

annahm, sondern einschlief, wehrte der Affe eine Zeit-

lang die Fliegen von ihm ab, und dann entschlief er

selbst. Des war die Amme froh, schlich leise hinzu

und nahm das Kind und trug es fröhlich wieder zur

Feste Dhaun hinauf, wo schon alles unruhig war und

nach ihr rief und suchte. Da verkündete sie laut die

Tat des Affen, und die erst entsetzten, nun hocherfreuten

Eltern beschlossen, dieselbe in Stein ausgehauen

und überm Torbogen ihres herrlichen Palas verewigen

zu lassen.

79. Das Pfaffenkäppchen

Zwischen schroff und steil überm Tal der Nahe zum

Himmel sich aufgipfelnden Felskolossen werden jetzt

die Trümmer der einst trotzigen Burgfeste Rheingrafenstein

erblickt. Auf der Kauzenburg saß ein junger

Rheingraf, jagdlustig, mutig, der wünschte sich eine

Burg auf diesen ungeheuren Felsen, stattlich wie die

Ebernburg und der Landstuhl der Sickinger, unnahbar

dem Feinde – und mit solchen Wünschen weilte er

einstens sehnend und sinnend in der Nähe der Felsriesen,

deren Gipfel noch kein Mensch erstiegen hatte.

Da gesellte sich einer zu ihm, den man nicht gern

nennt, der las in des jungen Rheingrafen Seele den

Wunsch und redete ihn an und sprach: Eine Burg da

droben, eine schöne stattliche, feste, ja, die wär' Euch

recht! Nicht so? Fehlt nur der Baumeister – ja – und

wenn einer käme, und baute sie über Nacht – dem

verschriebet Ihr wohl einen stattlichen Lohn? Was

gäbet Ihr solchem? Sagt es an! – Ihr redet wunderlich,

erwiderte der Rheingraf. Seid Ihr der Mann, der das

vermag, so fordert und bestimmt den Lohn. – Nur

eine einzige Seele – die Seele dessen, der zuerst

durchs Fenster der neuen Burg herab ins Tal der Nahe

und über alle die Täler und Berge ausschaut – das ist

wohl wenig für eine stattliche Grafenburg. – Kommt

heute abend wieder her, ich will es in Überlegung ziehen!

sagte der Rheingraf und verließ gedankenvoll

den Ort – eine Seele seinem Wunsche zu opfern,

dünkte ihm sündlicher Frevel, und doch war sein

Wunsch stark und groß. Daheim ließ er seinen Burgpfaffen

kommen und offenbarte dem den Handel. Der

Pfaffe schlug viele Kreuze und riet ernstlich ab, warnte

gar treu vor des bösen Feindes List und Tücken

und rückte sein schwarzes Käppchen auf dem Scheitel

wohl hin und her. Da trat des Rheingrafen junges

Ehegemahl herein und hörte das Gespräch und ließ

erst den Pfaffen hinausgehen, dann sagte sie: Laß

jenem nur gewähren, versprich ihm, was er begehrt,

das andere findet sich. – Da ritt der Ritter wieder hinaus