Selbstbiographie

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Selbstbiographie
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Selbstbiographie, L. Corinth

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849607968

www.jazzybee-verlag.de

admin@jazzybee-verlag.de

Selbstbiographie

Erster Teil – Kindheit

Mein Leben schildern? Das heißt, wahr und objektiv sein, sowohl gegen sich selbst, als auch gegen diejenigen, welche in meinem Leben eine Rolle gespielt haben. Ist doch vieles, was man begangen hat, gerade nicht lobenswert; man möchte diese Sünden lieber nicht erwähnen, auch selbst nach dem Tode, wenn noch diese Beichte gelesen werden sollte. Begangene Sünden verheimlichen und verschweigen, daß sie einer späteren Nachwelt doch lieber nicht zur Erkenntnis kommen mögen.

Dennoch ist es mir ein so heiliger Ernst, Einkehr wieder in mich zu halten, um die Zeiten wieder heraufzubeschwören, wo ich als Kind meine Spiele spielte, gleichgültig gegen Schaden oder Nutzen, welche mir daraus erwuchsen. Der Instinkt leitete mich stets, auch noch in den Mannesjahren; er ließ mich fast das Ziel erreichen, welches ich mir gesteckt hatte und so sehe ich nun auf die Vergangenheit herab und gebe mir Rechenschaft über Gutes und Böses. Denn dem Menschen ist der natürliche Hang gegeben, sich lieber der Taten zu rühmen, wenn sie auch schlecht sind, und die Taten zu verschweigen, die zwar gut, aber dennoch leicht einen lächerlichen Schimmer über uns verbreiten.

Als ich als fünfjähriger Knirps zum ersten Male in der Schule gewesen war, lief ich auf meine Eltern zu und fragte sie: »Wann ist denn mein Geburtstag? Der Lehrer will es wissen.« Meine Mutter lachte und gab mir zur Antwort: »Segg, toon Koornaust!« Ich sah sie verdutzt an und war nicht klüger als vorher.

Erst viel später reimte ich es mir zusammen, daß die Bauern und einfache Leute wichtige Ereignisse relativ miteinander bekennzeichnen.

So wurde denn mein Geburtstag stets mit einer Roggenernte verbunden oder umgekehrt. Heute mache ich mir aus jener Äußerung eine ganze Geschichte:

Am 21. Juli 1858 war alles gerüstet, am frühesten Morgen auf das Feld zu gehen. Da jedenfalls das schönste Sommerwetter war und alles Gute auf die Ernte, wie auf die Geburt zu weisen schien, so wurden, um die Arbeit schneller zu beendigen, alle Menschenkräfte verwandt, über die man verfügte. Deshalb war wohl meine Mutter in ihrer schweren Stunde beinahe allein, und Haus und Hof war still wie ausgestorben. Als alle wieder abends in das Haus zurückkehrten, war wohl der neue Weltbürger bereits da. Gesund und wohlgeboren mußte ich sein, denn verhältnismäßig früh, den 8. August, wurde ich in der kleinen Stadtkirche zu Tapiau getauft.

Ich erhielt die Namen: Franz Heinrich Louis Corinth. Mein Vater war Bürger von Tapiau und meine Mutter eine geborene Buttcher, verwitwete Opitz. Meine Paten waren außer den Geschwistern meines Vaters der Kaufmann William Bauer, welcher an der Deime eine Dampferstation nebst einem Kolonialwarenladen inne hatte.

Ich schiebe den Vorhang beiseite, und wir sehen ein kleines ostpreußisches Städtchen. Kleine Leutchen gehen geschäftig ihrem Werkeltag nach; sie glauben, daß der liebe Gott das ganze Weltall expreß für sie allein gemacht hat.

Als Kind war ich für die Menschen, welche mit mir oder ich mit ihnen zu tun hatte – wie Kinder sein mögen – der Sonnenschein des Hauses gewesen. Die Arbeiter und Tagelöhner, welche von meinen Eltern gehalten wurden, gingen ihrem Tagewerk mit ernsten und düsteren Mienen nach. Sie erhellten sich aber, wenn sie mich auf dem Hofe hantieren sahen, und wenn sie mir zuriefen: »Na Luke, wat deihst Du denn da?«

Oft stand ich im Gehöft an der hinteren Haustüre auf einem Absatz, welcher mit drei kümmerlichen, ungleichen und steinernen Stufen in den Hof führte. Darauf wimmelten schnatternde Enten und gackernde Hühner, ab und zu balanzierte eine Katze vorsichtig über das feuchte Steinpflaster. Außerdem hatte der Hof fünf nahe aneinanderliegende Lohgruben, zwei Kalkgruben und mehr nach der Mitte zu eine große Sumpfgrube. Meistens stand vor jeder Grube ein Gesell, der Leder herausfischte, mit Lederschurz und langen bis zu den Hüften reichenden Transtiefeln. Er prüfte den Werdegang zum fertigen und gebrauchsfähigen Leder; denn mein Vater war Gerbermeister und gehörte zu den »Reichen«, was ich von meinen Spielkameraden oft genug höhnen hörte, deshalb hielt ich es damals noch für schimpflich, reich zu sein. Zuletzt war er sogar Ratsherr geworden, und als ich diesen Titel, von der Mutter, vielleicht heimlich in stiller Stunde prahlerisch ausgesprochen, gehört und ihn wiederholt hatte, erhielt ich von ihr eine solche Tracht Prügel, daß mir die Lust, diesen Titel weiter zu nennen, für immer verging.

War ich entlang den Gruben gegangen, so schwenkte ich rechts von der Sumpfgrube ab, am Kuhstall und Schafstall vorbei, und ich traf auf die allergrößte Grube, welche mit trockener Lohe bis oben herauf ganz zugeschüttet war. Hier hatte man mich hineingehoben, als sie ganz leer war und dieselbe gefüllt wurde mit je einer Schicht Lohe und einer Schicht Leder. Daran reihte sich ein baufälliger, grünbemooster Bretterzaun, mit einem großen viereckigen Holzstoß aufgeschichtet, der zum Heizen für den Winter dienen sollte.

Die zweite Hälfte des Hofes war für die Landwirtschaft reserviert; mein Vater führte nämlich neben der Gerberei, wie dies oft in den kleinen Städten der Fall ist, einen größeren Ackerbetrieb. Deshalb standen hier eingeengt Wagen bei Wagen; zur Zeit der Ernte war kaum Platz für die vielen langen Erntewagen, oder wie sie dort genannt wurden: »Austwagen«. Das Haus, welches den Hof flankierte, enthielt den Pferdestall und Kuhstall und dazu in einer Ecke einen großen Misthaufen.

Durch den vorher erwähnten Bretterzaun führte das schief in den Angeln hängende Tor zu dem hochgelegenen Ufer des Flusses, welcher hier zum Kurischen Haff vorbeitrieb. Auf ihm verkehrten viele Reisekähne, auf denen die Kahnschiffer, mit langen Stangen längs dem Ufer entlang schiebend, mit Schimpfen und Schreien ihre Kameraden anfeuerten. Dieses Ufer war grün von spärlichem Unkraut: Löwenzahn und graues Bilsenkraut mit ekelhaft duftenden violetten Blüten wuchs dort. Das Ufer der anderen Seite erschien grüner und wir konnten leicht mit einem Stein hinüberwerfen. Auch lag an abschüssiger Stelle des Ufers ein Floß, auf dem meistens ein Gerbergeselle fleißig die Felle von der beizenden Lohe oder vom Kalk durch Hin- und Herschwenken im Wasser sauber schälte. Im Winter haute er eine Wuhne in das dicke Eis, und steckte zur Warnung für offenes Wasser eine Stange mit einem Strohwisch hinein.

Oft beobachtete ich von dem früher geschilderten Treppenabsatz das »Leben der Natur«, wie es ungeschminkt von den Tieren in dem Hofe gepflegt wurde. Lachen erschallte aus der Küche, die ganz nahe an dem Treppenabsatz war, wenn ich um Hilfe rief, sobald der Hahn ein Huhn trat.

Manchmal tobte ich auf dem Hofe herum und fing Sperlinge. Die Salzbüchse in der Hand, versuchte ich mit aller Geschicklichkeit und aller Mühe, Salz »auf den Zagel« der Sperlinge zu streuen.

Der Hof war meine kleine Welt. Mit den arbeitenden Gesellen unterhielt ich mich. Ich war immer an der Sumpfgrube zu finden, wenn ein Tagelöhner von den rohen Fellen die Schwänze, Klauen und Hörner herausschnitt, als erstes Stadium für den Werdegang zum fertigen Leder. Oft schnitt der Arbeiter Stücke rohen Fleisches heraus und warf es den gierig wartenden Katzen zu. Dabei entstanden wohl zwischen dem Steinpflaster blutige Pfützen, aus denen die Hühner dann begierig tranken. In der Nähe war hier das Gebäude, in welchem der Pferde- und Kuhstall war. Im Pferdestall stampften unruhig vier Füchse und zwei Braune hin und her. Die Pferde kannten mich wohl und behandelten mich ohne den geringsten Respekt ebenso wie mein Lieblingsknecht, welcher alle Tiere mit Namen nannte. Ich war nicht wenig verwundert, als mein Lieblingsknecht mit meinem Vater einen bösartigen Streit hatte, und als sein gutmütiges Gesicht sich in ein böses widersetzliches Mienenspiel verwandelte. Er sollte betrunken gewesen sein und in diesem Zustande verstand eigentlich meine Mutter den Männern am besten den Kopf zurechtzusetzen.

Meine erste positive Erinnerung fand mich am frühen Morgen auf dem Rücken eines nervösen und beweglichen Pferdes. Mit beiden Kinderhänden hatte ich mich ohne Furcht in der gelben Mähne festgeklammert, auch hielt mich wohl einer meiner Halbbrüder desto sicherer oben fest. Dieses Tier war mit mir gleichalterig und war ein dreijähriger Hengst. Mein Vater hatte ihn eben neu auf dem Insterburger Pferdemarkt gekauft, und jetzt sollte er sich erst in seiner neuen Umgebung eingewöhnen. Von da ab hielt mich der Stall in seinem Bann. Sechs Füchse standen da und mit ihnen wurde ich bald intim bekannt. Alle Augenblicke bat ich, daß man mich aufsetzte. Den Weg vom Wagen nach dem Stall legte ich reitend zurück. Einstmals als das Tier unter mir gescheucht wurde, setzte es mich unsanft auf die Erde. Den nächsten Morgen sah ich mich, wie mein Vater meinen Kopf sorgsam an seine Brust gelegt in wiegendem Schritt auf und ab ging. Der Gefahren waren viele, die mich bedrohten.

Eine nächste Erinnerung taucht in mir auf, wie ich zwischen den Lohgruben mit einem Stöckchen spazieren ging. Ich maß nun eifrig die Tiefe der Gruben und neigte mich solange herab, bis ich – plumps – in eine hineinfiel. Ich zappelte aus Leibeskräften in dem braunen Wasser herum und schrie: »Au Otte, Au Otte!!« Ein Spielkamerad hockte an der Hintertür und sah meinem Treiben gespannt zu. Endlich lief er doch mit der Nachricht zur Küche. Nun stürzten die Mägde und alles, was kochte und kochen half, schnell herbei und zogen mich, vielleicht noch im letzten Augenblick, heraus. Ich lag im Bett und wurde durch einen heißen Tropfen aufgeweckt, der auf meinen nackten Körper fiel. Meine Mutter erzählte dem Vater, welcher wohl vom Felde gekommen war, von dem Unglück; ich sah meinen ausgestreckten Körper entlang, einige Stücke Borke waren noch kleben geblieben. Die Eltern liebkosten mich, und meine Mutter deckte mich stolz ganz auf und sagte: »Seh moal de lange Beene« und deckte mich vorsichtig darauf wieder zu, damit ich, weiter schlafend, mich von meinem Schreck erholen konnte.

 

Als ich dann mit der Zeit meine Nase höher hob und ich infolgedessen einen weiteren Horizont bekam, wußte ich nun auch, daß der Fluß, welcher bei uns vorbeiströmte, und von Dampfern und Kähnen belebt war, die »Deime« hieß. Auf dem Ufer drüben nach links hin waren unsere Wiesen, wohin ich meinem Vater bei der Heuernte das Vesperbrot nachbringen durfte. Geradeüber an dem grüneren Ufer stand ein langes weiß getünchtes Gebäude im Empirestil mit spitzem roten Dach.

Schwarze, weiße und braune Gestalten gingen hier aus und ein, wie in einem Bienenkorb. »Ostpreußische Besserungsanstalt« stand über dem Hoftor in goldenen Buchstaben. Aus einem ehemaligen Ordensschloß war dieses Institut, im Volksmunde »Stidut«, zurechtgebaut worden. Im Zusammenfluß von Deime und Pregel auf mooriger Erde ehemals errichtet und die kurze Strecke zwischen beiden Flüssen noch künstlich durch einen Graben verbunden. So stand das Gebäude ganz von Wasser umgeben. Dieser künstliche Graben spielte für mich eine sehr ernste Rolle, denn ich sollte hier unsere Enten hüten und sollte sie abhalten, daß sie nicht von dem Graben aus in die Gemüsegärten des Instituts hineinstrolchten und die ganzen Anlagen zerstören. Hier sah ich auch den ersten Landschaftsmaler, welcher an einer Ecke der Anstalt, wo große Pappeln wuchsen, eine Studie malte. Es war der Maler Knorr, der Sohn des alten Kassenrendanten von dem Institut. Er ist bis heute nicht vollständig unbekannt geblieben. Dieses Institut hatte mit unserem Hause eine fortwährende Beziehung. Dadurch, daß es uns gerade gegenüber lag, wohnte in einer kleinen Dachwohnung in unserem Hause eine alte Aufseherin der Anstalt, denn weibliche Personen sollten dort auch gebessert werden. Die Aufseherin hatte eine Tochter Emilie, welche nur ein Auge hatte. Sie war die Freundin meiner Halbschwester Rike. Ich war ihr ebenfalls sehr zugetan und manche Zeit verbrachte ich oben in dem Dachstübchen, das mit uralten Möbeln und Nippsachen aus Porzellan angefüllt war. Die Kommoden hatten Löwenfüße und goldene verzierte Ringe zum Ausziehen der Schubläden. Sie zeigte mir auch ein wunderschönes Bild, welches immer vorsichtig aufgerollt war. Es stellte den König Friedrich Wilhelm III. dar, wie er auf einem herrlichen Pferde ritt. Ich konnte mich nicht genug daran satt sehen. Namentlich das Pferd mit den vortretenden Adern an den sehnigen Beinen. Sie erzählte mir dann auch von dem Reiterdenkmal desselben Königs in Königsberg und machte mich ganz sehnsüchtig darnach. Von ihr wurde mir die Kunstliebe in mein Kinderherz eingeimpft. Dann erzählte sie Sagen von dem alten Institut, das stets in meinem Gedächtnis ein unheimliches Gespenst blieb und durch die vielen Gefangenen auch stets eine geheimnisvolle Verbindung mit unserem Hause unterhielt.

Nicht allein brachten die braungekleideten Waisenkinder das Brennholz für die Aufseherin, sondern manches Mal verirrte sich ein armer entfliehender Gefangener auf unseren Hof und hielt von hier aus Umschau, ob die da drüben seine Flucht gemerkt hätten. Ganz unbemerkt blieb er von uns freilich nicht, denn es waren stets Arbeiter auf dem Hofe; doch kniff man wohl gern die Augen zu und ließ ihn laufen.

Anders wurde es freilich, wenn ein fremder Strolch sich an Hab und Gut eines Bürgers vergriff, dann lief wohl der Ruf durch die Gassen: »En Deew! – En Deew! und der Nagelschmied Schöntaub packte ihn und soll ihn zuguterletzt mit seiner Kneifzange ordentlich gezwickt haben!

Kehren wir nun zu meinem Hof zurück. Wir sind noch lange nicht mit seiner Beschreibung zu Ende, denn wir haben zuerst den einen Hauptbestandteil erwähnt: den Pferdestall, aber nicht den zweiten Hauptteil, das ist der Speicher.

Dieser war ein rotes Gebäude und schloß den Hof quer ab. Rotes Fachwerk fiel in die Augen, und durch die ebenfalls roten Luken konnte man die Felle stückweise sehen, wie sie an Stangen zum Trocknen gehängt waren. An den Ecken hatte man die Felle durch dünne Hölzer gespreizt, damit sie desto gleichmäßiger auftrocknen konnten.

Der Speicher hatte auch ein großes Tor. Von hier ging ein Schauer hinein, wo die Schwalben ihre Nester angebaut hatten. Ging man durch dieses Schauer durch, so kam man in den Garten.

In diesem Garten waren aber weder Ziersträuche noch Zierbäume darin, sondern meine Mutter hatte aus ihm einen Gemüsegarten gemacht. So rationell wirtschaftete sie in allem, daß nichts umkommen durfte; sie hielt sich nicht einmal einen Hofhund, bemerkend, daß man dafür lieber ein Schwein fett füttern könnte. Da wuchsen, an dünnen langen Stangen gerankt, rotblühende Schabbelbohnen, ferner Kopfsalat, Zwiebeln, Petersilie etc. In einem verlassenen Winkel wuchsen bescheiden, auf eigene Veranlassung, gelbe und violette Schwertlilien. In einer Ecke war eine alte Kalkgrube, auf dem schmutzigen Wasser schwamm eine tote Kröte. Aber den größten Raum in diesem Garten nahm ein großer, fast haushoher Lohhaufen ein, von gebrauchter Lohe allmählich zusammengekarrt. Dieser Lohhaufen verleiht jeder Gerberei ihren eigentümlichen, säuerlichen, charakteristischen Geruch. Zum Herbst wurde dieser Haufen zu Lohkuchen (eine Art Torf) verwertet. Es war eine heitere Art, dieses Heizmaterial zu verfertigen.

Die jüngeren Mägde standen hochgeschürzt mit nackten Waden und Füßen auf einem erhöhten, mit Brettern belegten Gerüst. Unten zu ihren Füßen, lag ein viereckiger Rahmen. In diese Form schüttete ein Knecht die nasse Lohe mit dem Spaten und die Mägde traten dann mit ihren Füßen, hüpfend den Kuchen zurecht. Es war nicht anders, als die Kelter zu Vater Noah's Zeiten. Mancher derbe Witz wurde auf Rechnung der Waden gemacht, die durch das Springen zum Vorschein kamen. Dann gab es noch eine Art, aus den Überbleibseln des Leders Gewinn zu ziehen, nämlich das Leimkochen. Aus den Füßen, welche an den rohen Kalbs- und Schaffellen geblieben waren, auch aus Schwänzen und Ohren wurde ein Brei zerkocht, der dann zu gallertartigen Massen erkaltete. Diese in einem Gefäße erkaltete Masse wurde in großen Würfeln herausgehoben; durch ein Pferdehaar zerschnitt man den Würfel in dünne Scheiben, legte sie auf Rahmen mit Netzen und trocknete dann die flachen Leimstücke an der gleichmäßigen Wärme des Sonnenschattens. So gab es fast nichts, das nicht von einem tüchtigen Geschäftsmann, was auch mein Vater war, zu irgendeinem Wert ausgenutzt werden konnte.

Kehren wir aber nun wieder aus dem Garten in den Speicher zurück. Eine Treppe hoch waren die Arbeitsräume der Gesellen. Hier, über große Tische die Leder gespreizt, krischpelten sie alle Sorten Leder weich und geschmeidig. Mit einem mondartigen Falzeisen wurden von dem Leder die ungleichen Stellen abgeschabt. Kein Laut wurde vernehmbar, nie hörte man Lachen oder Pfeifen. Aber von unten aus dem Erdgeschoß tönte ein stampfartiges knatterndes Geräusch herauf. Das war die Lohmühle. Diese nahm den ganzen unteren Raum auf der linken Seite des Schauers ein. Man mußte sich zuerst an die tiefe Dunkelheit des Raumes gewöhnen, denn die paar Fensterlöcher waren mit geborstenen Läden vernagelt, so daß durch die Spalten dieser Läden blaue Sonnenstrahlen auf die Striche der auf-und niederschwebenden Staubkörperchen heraufschienen.

Mitten in diesem Helldunkel stand ein großes, mächtiges, horizontal gelegenes Zahnrad, in der oberen Peripherie mit dicken Holzstacheln versehen, welche in die Löcher eines anderen Vertikalrades einpaßten, die dann mittels einfachster Konstruktion vier schwere eichene Balken, an den unteren Enden mit schweren eisernen Messern versehen, in Bewegung setzten. Während nun der Gaul im Kreise das große horizontal gelegene Triebrad drehte, griffen die einzelnen Teile ineinander, hoben abwechselnd die vier Stampfbalken und ließen sie dann von oben auf die zusammengeschichtete, in einem Trog gesammelte Rinde hineinschmettern, bis allmählich die Rinde zu ganz kleinen Stücken, beinahe pulverisiert, zerstampft wurde. Alsdann durfte der Gaul eine Pause machen, was er nickend und die krummen Beine ruhend, gerne tat. Die Lohe wurde aus dem Troge herausgeschaufelt und wieder neue Borke zerschlagen aufeinander gehäuft. Dann ging es von Neuem los im alten Takt, im Kreise herum. Der Gaul für das Drehen dieser Mühle war immer der älteste und phlegmatischste. Schon seit langem hatte dieses Privilegium »Der Jud«. Ein Knecht hatte ihn so benannt, weil er vor undenklichen Zeiten von einem polnischen Juden an meinen Vater verschachert wurde. Die Augen durch eine lederne Maske verbunden, trottete er das ewige Einerlei des im Kreiseherumgehens. Wenn er einschlief, bekam er eine Rinde an den Kopf geworfen und durch ein lautes »Hü Jud« wurde er wieder zu schnellerer Gangart angefeuert. So wechselte der Takt des Stampfens, je nachdem der Gaul sein Tempo beschleunigte oder nachließ.

Man konnte das Geräusch mit dem Klopfen des Herzens vergleichen, welches anzeigte, in welchem Grade der Arbeitskörper im Gange gehalten wurde.

Zur Zeit des Mittagessens wurde im Speicher und Hof die Arbeit niedergelegt und Stille herrschte ringsumher. Manchmal sollte ich die Gesellen zum Mittag zusammenrufen. Als ich aber einen Vers instinktmäßig hersang, wie ihn wohl aus Schadenfreude die Knechte mich gelehrt hatten, nach dem Rhythmus des Klapperns der Mittagsglocken auf den Gutshöfen:

»Koamt eete – koamt eete, ju fule Beeskreete!«

da bekam ich wieder eins von meiner Mutter mit dem Sielenstrang derb über den Buckel übergerissen als handgreifliche Lehre, daß mein Tun nicht für richtig gehalten wurde. Durch Prügel wurde ich deutlich und klar belehrt, was ich zu tun und was ich zu unterlassen hatte.

Diese Unterrichtsart, das Prügeln, wurde nur von der Mutter, als der höchsten Instanz im Innern des Hauses, an mir ausgeübt. Deshalb kam es vielleicht, daß ich meinen Vater, welcher sich um solche häuslichen Angelegenheiten nicht kümmerte, nach Kinderart viel lieber hatte als die Mutter. Heute kann ich verstehen, daß dieses furchtsame Gefühl vor Schlägen meine Mutter sehr geschmerzt haben wird. Uns allen war eine große Sehnsucht nach Liebe im Innersten der Seele eingeprägt. Diese Liebe aber durfte nie geäußert werden. Eher wurde sie versteckt, aus Scheu, zu viel Weichheit gerade gegen die zu üben, welche man lieb hat. Meine Mutter konnte ihren Charakter nicht verleugnen, welcher für Arbeit und für Herrschaft im Hause war, deshalb verlangte sie unbedingten Gehorsam von jedermann.

Eine Erinnerung taucht in mir auf: Wie ich eines Tages meiner Mutter in die Speisekammer nachschlich in der Hoffnung, etwas Gutes zum Essen zu ergattern, hing zufällig am Türpfosten ein steifer, verschimmelter Sielenstrang. Meine Mutter nahm ihn vom Nagel und hielt ihn in der Hand: »Da hau ek die Lue, wenn Du onartig best«. Nur zu bald sollte ich seine Bekanntschaft machen und erfahren, wie ernst es ihr damit war, dann verschwand er bis auf weiteres auf dem Himmelbett.

Aber wenn es auch bei uns streng zuging, so fand doch eine gut angebrachte Tat ein wohlgeneigtes Gehör bei der Mutter, da sie auch nicht ohne Humor war. Den verhaßten Sielenstrang nahm ich einstmals listig vom Himmelbett hinweg und schlich mich vom Hofe zur Deime und warf ihn dort weit weg in den Fluß, so daß er lustig stromabwärts schwamm. Mit keiner Silbe erwähnte sie mir gegenüber dieses Raubes, vielmehr werden sich alle eins gelacht haben und stolz gewesen sein über meinen Streich, den ich so schlau ausgeführt hatte. Meine Mutter hatte das absolute Kommando in der inneren Wirtschaft des Hauses. Mein Vater hatte genug zu tun, über die Landwirtschaft zu wachen und die Dispositionen über die Gerberei zu treffen. Es war eine Musterwirtschaft und dazu gehörte es, daß beide, Mann und Frau, ihr Teil Arbeit in festen Händen hatten. So wurde denn oft meine Mutter herausgerufen zum Schlichten eines Streites, der sich zwischen einer Tagelöhnersfrau und ihrem betrunkenen Ehemann entsponnen hatte. Ihrem Ausspruch wagte da niemand entgegenzutreten.

Zum einfachen Almosengeben wurde ich von ihr stets angehalten ohne jegliche Sentimentalität. Den ganzen Vormittag kamen alte Männlein und Weiblein angehumpelt, hustend und bettelnd. Meine Mutter spann fortwährend an ihrem Wocken. Jedem mußte ich dann einen Pfennig und ein Stück Brot aus dem Mauerschrank geben. Jeder trollte sich dann weiter mit dem Dankeswort: »Help de leewe Gotke«.

Wenn meine Mutter spann, stand ich am Fenster und schnitt aus Papier Pferde und Menschen aus. Vorgezogen wurde von mir steifes Papier – ich nannte es »fett«. Zufrieden war ich schon, wenn mein Vater von seinen Reisen nichts als »fettes« Papier mitbrachte. Dann wurde sofort probiert, ein Pferd auszuschneiden und bald hatte ich einen Marstall zusammen. Die Fleischer und Bauern, welche bei uns ihre Geschäfte machten, bewunderten meine Kunst sehr und stets war auf ihre Frage, was ich wohl werden sollte, die Antwort meiner Mutter: »Tepper! dann kann he Bloome op de Schiewe moale«.

 

Meine Kunst bekam aber eines schönen Tages einen merkwürdigen, namentlich für das weibliche Geschlecht fast verletzenden Anstrich. Ich hatte nämlich in dem Pferdestall meinen Freund, den neu gekauften Hengst allzugenau angesehen und studiert. Das Pferd spielte noch eine andere Rolle und wurde zu diesem Zwecke manchesmal im Stall zurückbehalten. Mein Ohm kam aus Moterau auf einer Stute, denn diese Unterschiede kannte ich ganz genau, angeritten. Alsdann wurden die Tore des Hofes fest zugesperrt. Das Übrige wurde mir aber auf das Strengste vorenthalten. Meine Halbschwester, die Rike, schleppte mich manchesmal fast mit roher Gewalt in das Haus und verhinderte mich hier auf das Energischste wieder hinauszuflüchten. Ich hörte dann den Hengst wiehernde Laute heraustrompeten, und es war mir so rätselhaft, daß ich das Schauspiel auf alle Fälle sehen mußte. Deshalb war ich so schlau, in einem ähnlichen Fall, als wieder mein Ohm angeritten kam, daß ich mich auf dem Hofe hinter dem Holzhaufen versteckte und mich sachte heranschlich, als der Hengst aus dem Stalle geführt wurde. Was ich nun zu sehen bekam, konnte ich mir erst recht nicht deuten. Nun eilte ich, nachdem die Szene beendet war und das Pferd wieder in den Stall zurückgeführt wurde und die Stute an einen Wagen gebunden, in das Haus und konnte nicht schnell genug dasselbe Schauspiel mit allem, was ich gesehen hatte, mit meinen papierenen Pferden vor sich gehen lassen. Den Hengst mußte ich doch nun verändern und einzelne Gegenstände hinzufügen, welche ich vorher noch nicht genügend beobachtet hatte. Die Männer grifflachten und machten zotige Bemerkungen, welche der jungen Weiblichkeit, meiner Schwester und ihrer Freundin, der einäugigen Emilie das Blut in die Wangen trieb und sie am liebsten Reißaus genommen hätten. Vergebens wollten sie mich später überreden, die Kennzeichen des Hengstes wegzuschneiden, aber da kamen sie an den Unrechten. Was ich mit meinen Augen gesehen hatte, war nicht abzustreiten: der Hengst und der Bull, welch letzteren ich immer noch nicht zu meiner Zufriedenheit herausbekam, hatten eine »Wurzel«, wie mir die Knechte und mein Freund, der Zimmermann Bekmann, diese Unterscheidung vor den anderen Tieren genannt hatten und diese wollte ich absolut nicht missen.

Mein Freund, der Zimmermann Bekmann, welcher mir immer so schöne Zeichnungen machte, die ich so sehr bewunderte, wurde doch sehr energisch von mir anbefohlen, diese Merkzeichen der Männlichkeit nicht zu vergessen. Das passierte ihm namentlich dann, wenn meine Mutter unseren Zeichenübungen persönlich beiwohnte.

So war mein Leben in den schönen Tag hinein. Bald aber sollte der »Ernst des Lebens« herantreten, als ich in die Schule mußte. Lesen und Schreiben lernte ich spielend – aber das Rechnen wollte nicht in meinen Kopf hinein. Wenn ich mit den beiden ersten Teilen für ein Wunderkind ästimiert wurde, so verdarb der zweite Teil meine Schätzung vollständig, und ich mußte recht niedrig als Schüler eingeschätzt werden. Dennoch verleitete meine leichte Auffassung im Lesen und Schreiben meinen Vater zu der falschen Einbildung, ich hätte Kopp und sollte ein Studierter werden.

Oft sagte er und mit ihm die anderen Handwerker, Kopfarbeit sei das Schwerste, mache sich aber am besten bezahlt. So wurde ich mit allerlei wertlosen Kenntnissen vollgepfropft, und ich konnte nie genug lernen. Deshalb wurden auch sogar noch die wenigen freien Stunden genommen, und mein Vater ließ mir durch den Lehrer Böhm für einen Thaler im Monat Nachhilfestunden geben. Jeden Tag, selbst mittags von 12–1 und abends von 5–7, hätte ich nach dem Willen meines Vaters mich bei dem Lehrer einfinden sollen. Aber vielleicht war es so besser, wenn ich durch die anderen Jungens, mit denen ich spielte, überredet wurde, mich davon zu drücken. Der Lehrer lobte mich und stellte mich als Vorbild hin, so lange nicht gerechnet wurde. Aber dann wurde es umgekehrt, wenn das Rechnen aufs Tapet kam. Keine Zahlen gingen in meinen Schädel hinein, und schließlich lief immer der Lehrer Böhm händeringend in das Nebenzimmer und versuchte es dann an den Haaren und mit Prügeln, die Rechenaufgaben in mich hineinzukeilen. So war immer der Verlauf meiner »Privatstunden«. Am späten Abend war ich dann erlöst und durfte nach Hause gehen. Wenn es Winter war, steckte man mir eine kleine Laterne an, gab mir die Richtung in die stockfinstere Dunkelheit und mit Hilfe dieser Lichtquelle fand ich mich einigermaßen zurecht und ich war froh, wenn ich unser Haus erreicht hatte. Meine Eltern saßen friedlich am Ofen um eine neumodsche Petroleumlampe auf dem Tisch, welche die Wohnung verhältnismäßig hell erleuchtete. Die Mutter spann, der Vater las aus der Gerberzeitung, oder erzählte eine gruselige Geschichte, daß ein Gefangener aus dem Insterburger Zuchthaus ausgebrochen sei und in unserer Gegend herumstrolchen sollte. Dabei ahnte niemand, welchen Kampf ich mit Lehrer und Zahlen bestanden hatte. Aus dem Nebenzimmer tönte Messergeklapper und Stuhlrücken und man hörte auch Teller auf den Tisch setzen. Bald kamen die Gesellen zum Essen herein, mein Vater legte die Zeitung fort, um seinen Platz am Abendtisch einzunehmen. Man saß meistens schweigsam und arbeitete mit den Kiefern. Nur wenn der Meister das Wort an jemand richtete, wurde es beantwortet. Ich selbst betrachtete oft den alten rotbärtigen Zauleck, wenn er ein Stück Hering mit einem Löffel grauer Erbsen im Munde nachschob: immer dieselbe Backe wurde rund und dick. Wenn er es heruntergeschluckt hatte, glätteten sich die Backen, um bald wieder anzufangen. Neben diesem alten Gesell, der eine Art Faktotum des Hauses war, saß ein magerer und andächtig aussehender Mann, welchen wir »Der fromme Gesell« nannten. Dieser »Fromme« war eine Gattung, welche des öfteren im Norden gefunden wird. Er hatte den Zauleck vom Schnapstrinken bekehrt. Dieses Wunder hatte er vollführt. Niemals sah man diesen jetzt betrunken, wenigstens nicht unter Leuten und sorgfältig mied er den »Krug«.

Meistens hatte der »Fromme« ihn bei den Rockschößen, Sonntag Vormittag und Nachmittag wanderten beide, ein Gesangbuch unter dem Arm, zur Kirche. Die Geistlichkeit war zu jener Zeit, als der »Fromme« bei uns angestellt war, öfters bei uns zu finden, als früher, wo sie nur von Amts wegen erschien. Aber jetzt ging der Herr Superintendent in den Arbeitsräumen aus und ein. Der Herr im Zylinder und weißer Binde nahm sich recht merkwürdig aus unter unseren Gesellen mit dicken Lederschürzen, aufgekrempelten Hemdsärmeln und langen wasserdichten Kürassierstiefeln. So sah ich den Pfarrer, wie er salbungsvoll mit unserm »Frommen« sprach, worauf dieser ihm demütig die Hand küßte. Der Zauleck aber konnte sich zum Handkuß niemals bewegen, und unwirsch und schüchtern beugte er sich vor seinem Gestell weit herunter, schnitt mit seinem langen Schabeisen ein Stückchen Fell ab und fing mit allem Eifer an, als wenn ihn der Besuch nichts anginge, das ganze Fell abzuschaben, als wenn seine Seligkeit an dieser Arbeit hing. Meine Stiefbrüder hatten anfangs an dem neuen Arbeiter die Frömmigkeit entdeckt, denn sie schliefen in einem Raume zusammen und hatten ihn beobachtet, wie er vor seinem Bett das Abendgebet knieend verrichtete.