Entscheidung auf Ogruex

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Entscheidung auf Ogruex
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Entscheidung auf Ogruex

Ein Spacewestern

von Logan Kenison

Das Buch

Geiselnahme! Owen Richter befindet sich an Bord eines Passagierraumschiffs, als dieses im Ogruex-System von Söldnern geentert wird. Was haben die Kidnapper vor? Werden alle Passagiere sterben? Owen Richter gelingt um Haaresbreite die Flucht, und was er herausfindet, stellt das Schicksal des ganzen Planetensystems in Frage.

Der Autor

Logan Kenison ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spaceromanen. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.

Inhalt

Impressum

Entscheidung auf Ogruex

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Impressum

07/2018

Copyright dieser Ausgabe: 09/2021 by Logan Kenison

Lektorat: Carola Lee-Altrichter

Abdruck auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Autors.

Cover: »Hold back I got something« von Lia, 2010

Kontakt: logan.kenison@gmx.de

Entscheidung auf Ogruex

Ein Spacewestern

von Logan Kenison

»Liebe Reisende, wir haben das Flaak-System erreicht«, drang die Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern. »Wir sind jetzt nur noch achtzehn Sprünge von Artanoma entfernt. Die Crew wünscht Ihnen weiterhin einen schönen Aufenthalt an Bord.«

Owen Richter blickte aus dem Bullauge und sah draußen nichts als die unendliche Schwärze des Universums. Die Motoren, die den Warpsprung durchgeführt hatten, brüllten noch, doch der Lärm und das Vibrieren in Wänden und Boden ebbten ab, und langsam wurde es wieder möglich, sich mit seinem Sitznachbarn zu unterhalten – zumindest bis das Passagierschiff sich für den nächsten Sprung bereitmachte.

Eine Stewardess tauchte neben Richter auf und fragte ihn, ob er etwas zu trinken wünsche. Die Besatzung war angehalten, die Pausen zwischen den Hyperraumsprüngen intensiv zu nutzen, um die Passagiere rasch und nach ihren Bedürfnissen zu bedienen. Richter bestellte grinsend einen Starhopper – der Cocktail schien ihm eine passende Allegorie auf seine derzeitige Situation zu sein – und sah zu, wie die Stewardess ihn vor seinen Augen mixte.

Die orangefarbene Flüssigkeit glänzte im Licht der kleinen runden Oberlichter, die den ganzen Korridor entlang auf beiden Seiten angebracht waren. Richter nahm ihn entgegen und nippte sofort daran.

»Ausgezeichnet«, verkündete er, und die Augen der Stewardess leuchteten für einen kurzen Moment auf.

»Wie wär’s, wollen Sie mir Ihre Nummer geben?«, wagte er schamlos einen Vorstoß. »Wenn ich jemals eine Bar eröffnen sollte, können Sie sofort bei mir als Barmixerin anfangen.«

»Ich überlege es mir«, sagte sie lachend. Sie hatte langes schwarzes Haar, das in Locken auf ihren Rücken fiel, und kirschrot geschminkte Lippen – Lippen, auf die Richter am liebsten sofort einen Kuss gedrückt hätte. In ihrer dunkelblauen Dienstkleidung und mit der kleinen Kappe auf dem Kopf sah sie hinreißend aus.

»Petra«, sagte er dann, nachdem er ihr Namensschild gelesen hatte.

»Ja, Mr. Richter?«

Er stutzte. »Sie müssen ein gutes Gedächtnis haben, wenn Sie die Namen aller Fahrgäste auswendig kennen«, sagte er.

Sie winkte ab. »Ach, das gehört zu unserem Job.« Ihr Lächeln war ausdauernd und professionell und zeigte eine makellose Reihe weißer Zähne, und ohne weiteres Wort ging sie eine Reihe weiter. Als sie den Passagier vor Richter bediente, sah er ihre Kehrseite, die nicht weniger attraktiv war.

Sein Sitznachbar stupfte ihn an, und ein Schwall Whiskygeruch wallte zu Richter herüber. Seit sie nebeneinander saßen, hatte der Mann einen Whisky nach dem anderen gezwitschert, und inzwischen schienen sogar seine Haare einen entsprechenden Geruch abzusondern.

»Geben Sie sich nur keinen Illusionen hin, Mister, Sie haben keine Chance. Petra ist verheiratet.«

»So?«, sagte Richter; er hatte Mühe, einen abweisenden Ton aus seiner Stimme herauszuhalten. Solche Flankeneinfälle liebte er gar nicht. Der Mann, der dies nicht merkte (und sich derartiges offensichtlich nicht vorstellen konnte), sprach ungerührt weiter.

»Als Stewardess ist sie es gewöhnt, von Passagieren schräg angesprochen zu werden. Manchmal werden sie regelrecht angemacht, die Armen, sogar angepöbelt. Von daher ist das für sie nichts Neues.«

»Sie scheinen einiges darüber zu wissen, Mister.«

»Burchnall. Walt Burchnall. Und ob. Ich fliege regelmäßig mit Starshippo, solche Reisen haben mich im Auftrag meiner Firma schon in die entlegensten Systeme geführt. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich schon alles gesehen und erlebt habe. Einmal war da ein Typ, der eine Stewardess vom Fleck weg heiraten wollte. Ein anderer hat sich unsterblich in eine verliebt und sie daraufhin zwei Jahre lang gestalkt.«

»Das ist krank.«

»Das können Sie laut sagen. Es gibt eine Menge kranker Typen da draußen.«

Wo immer dieses »da draußen« auch sein mochte, dachte Richter. Wahrscheinlich überall dort, wo sein weitgereister Nachbar sich nicht aufhielt.

»Wenn diese Typen doch einfach akzeptierten, dass die Ladys hier nur ihren Job machen; dass sie verheiratet und mit ihren Ehemännern glücklich sind. Aber nein, sie versuchen es immer wieder. Auf jeder Reise gibt es mindestens einen. Vielleicht sollte Starshippo nicht diese Ladys mit Modelmaßen einstellen, oder ihren Mitarbeiterinnen erlauben, ihr normales Alltagsgesicht aufzusetzen. Diese permanent geforderte Freundlichkeit lässt so manchen glauben, er hätte Chancen bei ihnen, was ganz und gar nicht der Fall ist.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Genau. Aber wenigstens gibt es Herb, den einzigen Stewart im Gästebereich, der bei allzu aufdringlichen Fahrgästen einschreiten darf, und der nicht nur einen Freibrief für Handgreiflichkeiten, sondern auch eine besondere Ausbildung im Nahkampf besitzt.«

»Dann droht ja keine Gefahr.«

»So ist es. Herb sorgt für Ruhe und Ordnung im Raumschiff. – Was haben Sie da eigentlich? Sieht gut aus. Ich sollte auch mal einen bestellen.«

»Einen Starhopper.«

»Sehr sinnig. Reicht die Zeit noch?«

»Ich fürchte, nein. Der nächste Sprung wird schon vorbereitet.«

Tatsächlich waren die Motoren wieder am Hochfahren. Ein Zittern ging durch das Schiff, und Richter stürzte den Rest seines Cocktails hastig hinunter. Das Glas warf er in den Müllschlucker am Boden, der bisher alle Gegenstände problemlos aufgenommen und der Wiederaufbereitung zugeführt hatte.

»Was führt Sie auf die Karthago, Mister Richter?«, fragte Burchnall. Da die Motoren immer lauter dröhnten, musste er bereits schreien.

»Ich will nach Artanoma. Habe ein Raumschiff gekauft und will es dort abholen.«

»Ein Raumschiff gekauft«, wiederholte der Mann. »Gut, gut. Sie sehen durchaus wie ein Mann aus, der mit einem Raumschiff umzugehen versteht.«

»Ich bin seit meinem zwölften Lebensjahr im Weltraum unterwegs«, sagte Richter.

»Prächtig. Dann haben Sie ja auch schon eine Menge gesehen. Waren Sie schon mal im Octagon-Nebel?«

»Nein.«

»Dem Favoriten-Kreuz?«

»Nein.«

»In der Impulsmesser-Traptan-Falle?«

»Nein. Zum Glück nicht! Gibt nicht viele, die von dort zurückgekehrt sind.«

»Sie sollten nicht alles glauben, was die Leute erzählen. Ich war auf Traptan. Keine Spur von einem Schwarzen Loch, das Raumschiffe ansaugt und verschwinden lässt.«

»Na, ich weiß nicht. Einen Ursprung müssen diese Geschichten doch haben.«

»Geschichten – genau das sind sie; nichts weiter als Geschichten.«

»Ich habe jedenfalls noch nie dort zu tun gehabt«, sagte Richter, »und habe auch kein Verlangen danach.«

»Sie können dort wunderbare, bunte, in allen Pastellfarben schillernde Wolken im Weltraum sehen, so etwas gibt es sonst nirgendwo im Universum.«

»Als freier Unternehmer denkt man da anders, Mr. Burchnall. Da geht’s oft nicht um die Aussicht, sondern darum, die nächste Raumstation lebend zu erreichen. Piraten lauern überall, und wenn man auf eine Weltraumanomalie trifft, kann das leicht bedeuten, dass man sein letztes Gebet spricht. Es ist ein täglicher Kampf ums Überleben.«

»Warum werden Sie nicht irgendwo sesshaft, wenn Ihnen das zu beschwerlich ist?«

»Ist es nicht. Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, dass man sich der Gefahren bewusst sein und sich auf sie einstellen muss.«

»Na, darauf sollten wir einen trinken. Ich gebe einen aus. Leider müssen wir bis nach dem Sprung warten.«

Das Getöse war immer lauter geworden, und das gigantische Passagierschiff jagte mit großer Geschwindigkeit durchs All. Alle Flächen erzitterten und vibrierten, und eine Unterhaltung war jetzt unmöglich geworden.

Wie immer kurz vor einem Sprung fühlte Richter sich mit unglaublicher Gewalt in den Sitz gedrückt. Dann blitzte es auf und für einen Moment sah er nichts mehr. Die Geräuschkulisse war ohrenbetäubend, hinzu kam jetzt noch ein schrilles Zischen, das ihn beinahe taub machte, und wirbelnde Farben in den verschiedenen Gelb- und Grautönen vor dem Bullauge. Schließlich ruckelte und rüttelte es ihn komplett durch, mehrere Sekunden lang, dann klangen die Geräusche, das Dröhnen und das Rauschen ab. Die Farbwirbel blichen aus und machten wieder der Schwärze des Alls Platz, nur in der Ferne funkelten Sterne wie Diamantsplitter.

 

»Liebe Reisende, wir haben das System Ogruex erreicht«, drang die Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern. »Wir sind jetzt nur noch siebzehn Sprünge von Artanoma entfernt. Die Crew wünscht Ihnen weiterhin einen schönen Aufenthalt an Bord.«

Ein Schatten fiel von der Seite auf Richter.

»Möchten Sie etwas zu trinken?«, fragte die Stewardess. Diesmal war es nicht Petra, die immer noch einige Sitzreihen vor Richter die Passagiere bediente. Diese Stewardess war eine Hinduine von Aldiyell mit langen Schlappohren, schwarzer Nase und sandfarbenem Fell, und der Name auf ihrem Schildchen lautete Anabcec Bloustic.

»Zwei Starhopper«, sagte Walt Burchnall und hob zwei Finger in die Höhe. »Einen für meinen Freund, und einen für mich.«

Richter lachte amüsiert in sich hinein. Wenn das so weiterging, würde er ziemlich lustig in Artanoma ankommen.

*

Sie kamen aus dem Nichts.

Wenigstens schien es so auf den ersten Blick, und die Menschen, die ihr Auftauchen miterleben mussten, verspürten es so. Auf den Bildschirmen und Radars waren sie nicht zu sehen gewesen, und einen Annäherungsalarm hatte es nicht gegeben. Später stellte jemand fest, dass die Anlage sabotiert und der Alarm umgelenkt worden war, aber da war es natürlich zu spät … viel zu spät.

Es gab einen plötzlichen Knall, der die Karthago erschütterte und die Passagiere in Panik laut aufschreien ließ, da nicht wenige glaubten, das Schiff hätte eine Kollision mit einem Meteoriten oder einem anderen Raumschiff gehabt, und sie würden ihr Ende in einem tiefgekühlten Weltraumgrab finden. Doch es war nur eine Außentür, die weggesprengt worden war, wobei eine der Stewardessen, Denise Hecke, die sich zufällig an der betreffenden Stelle aufhielt, getötet wurde.

Über die Trümmer, die sich in dem Korridor verstreut hatten, und die blutigen Leichenteile der blonden Stewardess stiegen zum Entsetzen der Fahrgäste, die es beobachteten, schwarzgekleidete Gestalten. Sie waren in Kunststoff-Suits gehüllt, die sie vor allen möglichen Arten von Angriffen und sogar einigen Strahlenstößen schützten, und hatten schwarze Helme auf dem Kopf. Das Schlimmste jedoch waren die Waffen, die sie in ihren Händen hielten – Waffen, die sie sofort auf die Passagiere und die Besatzungsmitglieder zu richten begannen, wobei sie ein lautes Geschrei anstimmten.

»Hände hoch!«

»Keine Bewegung!«

»Bleibt auf euren Plätzen!«

»Befolgt unsere Befehle, wenn euch das Leben lieb ist!«

»Keine Gegenwehr – sie wäre ohnehin vergebens!«

Während in diesem Passagierraum die Fahrgäste bereits aufschrien, fragten sich im angrenzenden Saal die Menschen, was los sei. Auch Richter, der im vierten der fünf Säle seinen Platz hatte, bekam mit, dass etwas vor sich ging, und spähte die Flucht entlang, doch da ein Vorhang zwischen den einzelnen Fahrgastsälen und den Personalzwischenräumen vorgezogen war, konnte er nicht erkennen, was weiter vorne passierte.

Er hatte keine Waffe bei sich, seine ZAP-9 und die neue Okia Zand v3.15, die er auf Hellennessis gekauft hatte, ruhten mit seinem Gepäck und dem der anderen Passagiere im Laderaum – für ihn im Moment unerreichbar.

»Zum Teufel, was ist da los?«, fragte Walt Burchnall und kippte schnell den Rest seines Starhoppers hinab. Wenn es schon eine Kollision gegeben hatte, und er in wenigen Sekunden sterben musste, dann wollte er wenigstens den Alkohol nicht verschwendet wissen.

Auf den Korridoren war das Trampeln schwerer Schritte und Schreie zu hören.

»Keine Ahnung«, sagte Richter, »ich sehe nach.«

Mit nichts als seinen Fäusten bewaffnet, sprang er auf und lief den Gang entlang, und als er den Vorhang erreichte, zog er ihn nicht auf, sondern spähte durch einen schmalen Schlitz, wo der Vorhang in Augenhöhe nicht ganz geschlossen war.

Was er sah, raubte ihm für einen Moment den Atem.

Schwarze Männer – oder waren auch Frauen darunter? –, die mit Waffen in den Händen die Passagiere bedrohten. Einige von ihnen stürmten bereits den Gang entlang auf Richters Saal zu, sodass er nur noch etwa eine Sekunde hatte, um zu reagieren.

Eine schwarzbehandschuhte Hand riss den Vorhang zur Seite, und die schwarzen Gestalten tauchten auch hier auf.

Richter war im letzten Sekundenbruchteil hinter den dunklen Stoff des Vorhangs geschlüpft, und dieser verbarg ihn vor den Blicken, sodass er von den Eindringlingen für den Moment nicht bemerkt wurde.

»Keine Bewegung! Jeder bleibt auf seinem Platz!«

Es war eine Männerstimme, und sie klang bestimmend und brutal – so brutal, dass Richter keinen Zweifel daran hegte, dass der Mann jeden sofort niederknallen würde, der nicht umgehend tat, was befohlen wurde. Alle möglichen Szenarien von terroristischen Aktionen gingen ihm durch den Sinn … alles, was er in den Nachrichten über Kidnapping, Entführungen und feindliche Übernahmen gehört hatte.

Im Joam-System hatte eine terroristische Gruppierung ein Raumschiff okkupiert, einen gewaltigen Sprengsatz angebracht und damit eine Raumstation über dem Planeten angeflogen. Im Moment des Andockens hatten die Terroristen den Sprengsatz gezündet und die gesamte Station vernichtet – 600 Tote, Sachschaden 27 Milliarden Qubits.

Auf Zroilt-30 gab es einen Zwischenfall im Quantium-Reaktor, der von Terroristen eingenommen wurde. Sie brachten eine Bombe an, die sie nach dem Stellen eines Ultimatums und zwei Tagen zähen Verhandelns seitens eines erfahrenen Unterhändlers schließlich doch zündeten – 110.000 Opfer, der Sachschaden ist noch immer nicht beziffert.

Vor einem Jahr wurde ein getarntes Raumschiff auf dem Weg ins Enualt-System geentert. Die Okkupanten verbrachten zwanzig Stunden damit, in jedem Winkel und unter jeder Abdeckung nach einem handgroßen Koffer zu suchen, mit dem sie schließlich freudestrahlend das Raumschiff verließen, nicht ohne einen Zeitzünder zurückgelassen zu haben, der fünf Minuten später detonierte. 24 Tote, Sachschaden 30 Million Qubits – und Verlust des einzigen Rothaglon-Diamanten, den das Universum kannte.

Ein weiterer Fall, an den Richter sich erinnerte, war das Entern des zu trauriger Berühmtheit gelangten Raumschiffs Kwadrana. Die Eindringlinge hielten die Besatzung und alle Passagiere mit Waffengewalt ruhig bis nach dem Eintritt in das Warrien-System. Sie wurden von den Behörden gescannt, als wären sie gewöhnliche Touristen, doch die Verbrecher hatten Akavan im Wert von 290 Million Qubits an Bord gebracht, das sie auf Warrien zu einem geheimen Treffpunkt schleusten. Anschließend wurde die Kwadrana im Bergland auf ein verschneites Felsmassiv gesetzt und die Reisenden sich selbst überlassen. In den eisigen Temperaturen, ohne Funkverbindung, Versorgung und die Möglichkeit, wegzukommen, waren sie alle dem Tode geweiht.

In all diesen Fällen war den Verbrechern das Leben von Passagieren und Besatzung keinen Pfifferling wert gewesen, und Richter hatte keinen Grund zu der Annahme, dass es hier anders sein sollte. Von seinem Platz hinter dem Vorhang aus konnte er die Rücken einiger Terroristen sehen, die durch den Gang stürmten, um in den nächsten Fahrgastraum vorzudringen. Viele der Passagiere blickten den Eindringlinge mit aufgerissenen Augen entgegen, in denen Todesangst geschrieben stand. Frauen stießen spitze Schreie aus, Männer keuchten in ohnmächtiger Wut und Hilflosigkeit. Die Mündungen der Gewehre ließen sie alle erstarren.

»Wir tun niemandem etwas, wenn ihr tut, was wir sagen«, verkündete der Sprecher. »Niemand hat etwas zu befürchten. Verhalten Sie sich ruhig, und nichts Schlimmes wird geschehen.«

Richter kannte solche Sprüche zur Genüge; sie waren nur dazu da, die Masse ruhig zu halten, damit diese Typen ihr Ding durchziehen und ihr Ziel erreichen konnten. Dass den Menschen nichts geschah, war ihnen in Wirklichkeit völlig egal. Es hatte eine Sprengung gegeben, und allein das hätte schon das Ende des ganzen Passagierschiffes bedeuten können – es war den Eindringlingen egal gewesen. Keiner der Anwesenden brauchte sich der Illusion hingeben, dass diese Eindringlinge es gut mit ihnen meinten, und Richter tat es schon zweimal nicht.

Er hatte eine gute – oder besser gesagt: äußerst ungünstige – Position hinter dem Vorhang. Es war reiner Reflex gewesen, als er die schwarzen und behelmten Gestalten gesehen hatte. Warum er sich versteckt hatte, wusste er jetzt auch nicht mehr genau zu sagen. Nur eins war ihm klar: Wenn er sich zu erkennen gab oder sie ihn hier fanden, würden sie ganz gewiss nicht zimperlich mit ihm umspringen. Sie würden ihn wahrscheinlich für einen Angreifer halten, vielleicht würden sie ihn gleich niederschießen.

Richter musste zusehen, dass er von hier wegkam.

In seinen Gedanken kramte er fieberhaft nach dem Bauplan des Passagierraumschiffs, den er während des Flugs ein oder zwei Mal auf einem der Monitore gesehen hatte. Doch selbst als er versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, half ihm das nicht weiter.

Die Eindringlinge waren im Moment noch damit beschäftigt, das gesamte Schiff zu besetzen, und wahrscheinlich waren sie auch schon in die Mannschaftsräume und das Cockpit vorgedrungen. Doch sobald sich die Situation beruhigt hatte, das heißt sobald sie das Raumschiff völlig unter Kontrolle hatten, war es ungleich schwerer, von der Position hinter dem Vorhang wegzukommen. Ein einziges Rascheln von Stoff konnte dann schon so laut sein, dass sie es hörten. Also musste er gleich handeln. Jetzt. Sofort.

Er glitt seitlich hinter dem Vorhang hervor und verschwand in der kleinen, zwischen den Fahrgastsälen befindlichen Kabine, in der sich das Personal hin und wieder aufhielt, ihre Speise- und Getränkewagen neu bestückte und kleine Besprechungen (aka Plaudereien) abhielt. Diese Zwischenkabine besaß Wände, in die Kühlschränke und Vorratslager eingelassen waren, und bot nur solange ein gutes Versteck, wie keiner der Eindringlinge auf die Idee kam, von einem Saal zum nächsten zu wechseln. Sobald ein Mann den Vorhang passiert hatte, würde er Richter gnadenlos entdecken, daran führte kein Weg vorbei.

Richter suchte fieberhaft die Wände ab, und als er nur Schubladen, Vorratstüren und Kühlschränke vorfand, widmete er seine Aufmerksamkeit der Decke … doch auch hier gab es keine Möglichkeit für einen erwachsenen Mann, sich zu verbergen oder zu verschwinden. Im Boden fand er endlich eine eingelassene Klappe, und sie war schulterbreit, also gerade breit genug, um sich hindurch zu zwängen – wenn er sie denn öffnen konnte.

Er durchsuchte hastig aber geräuschlos einige Schubladen nach einem Messer, fand keins, suchte weiter, bis er eine Schere gefunden hatte, und ging in die Knie. Mit der Klinge versuchte er, in den schmalen Spalt zu stechen, um die Klappe aufzuhebeln, brauchte dafür jedoch mehrere Anläufe, weil das Scherenblatt dicker war als der schmale Spalt. Richter brach der Schweiß aus – nicht wegen der Anstrengung, die sich kräftemäßig in kleinem Rahmen hielt, auch nicht wegen des Kniens in einer unangenehmen Position, sondern weil er jede Sekunde damit rechnete, dass einer der Verbrecher um die Ecke kam, und was dann geschah, konnte er sich bildlich vorstellen.

Tatsächlich machte sich im Fahrgastraum 4 einer der schwarzgekleideten Männer gerade daran, in Raum 3 hinüberzuwechseln. Mit schussbereiter Waffe im Anschlag hatte er sich über Funk mit seinen Kumpanen ausgetauscht und marschierte los.

Walt Burchnall hatte die ganze Zeit über Richter im Blick behalten. Er hatte gesehen, wie sein Sitznachbar hinter den Vorhang geglitten war, und wie danach die schwarzgekleideten Gestalten in den Saal gestürmt waren. Burchnall hatte den Schreck seines Lebens bekommen, denn auch er hatte von Gräueltaten und den schlimmen Dingen gehört, die Raumschiffen und anderen Einrichtungen widerfahren waren, die von feindlichen Truppen oder Terroristen überfallen worden waren.

Er war Mitte Fünfzig und füllig, mit kurzgeschorenem Haar, das sich schon seit einigen Jahren zu lichten begonnen hatte, und hatte einiges in seinem Leben gesehen. Aber er war noch nie in so etwas wie eine Geiselnahme geraten. Allerdings sagte ihm sein Instinkt, dass Richter in einer verteufelten Lage war. Er hatte es – wahrscheinlich aus reinem Zufall – geschafft, sich vor den Geiselnehmern zu verbergen, und dann war er in die kleine Personalkabine hinübergeglitten. Doch jetzt sah es so aus, als würde der Kerl mit der Kanone, der den Raum gerade verlassen wollte, ihn jeden Moment entdecken.

Burchnall sah seinen Sitznachbarn schon durchlöchert am Boden liegen, Blut aus den Einschusslöchern sickernd. Das war zu viel für ihn. Er griff sich ans Herz, stieß einen ächzenden Laut aus und sackte vom Sitz. Als sein Oberkörper der Länge nach in den Korridor schlug, gab es ein lautes Geräusch, und alle Schwarzkittel fuhren auf einmal herum.

 

Alle Mündungen zeigten schlagartig auf Burchnall, und es hätte nicht viel gefehlt, und einer hätte den Finger krumm gemacht. Doch Burchnall hatte Glück: So leblos am Boden liegend gab er ein Bild des Jammers und nicht der Gefahr ab, und bei dem, was sie trieben, mussten die Schwarzkittel damit rechnen, dass dem einen oder anderen die Nerven versagten (oder noch ganz andere Dinge), und so hielten sie sich mit allzu übereifrigem Feuern zurück.

Burchnall zuckte konvulsivisch und gab lallende Geräusche von sich.

»Ich glaube, der springt über die Klinge«, sagte einer der Schwarzkittel, und ein anderer rief in den Raum:

»Ist ein Arzt an Bord? Der sollte sich um den da kümmern, oder wir werfen ihn ins All hinaus.«

Eine Frau erhob sich, etwa im selben Alter wie Burchnall, mit kurzgeschnittenem grauem lockigem Haar, sehr schlank, fast schon dürr und einer ungesunden, grauen Hautfarbe. Sie trug eine Bluse und ein Jackett und dazu passende Stoffhosen.

»Ich bin Ärztin«, sagte sie, die Hände knetend. »Mein Name ist Sophia Zorell.«

»Dann geh rüber zu dem da, Ärztin«, kam die Anweisung. »Er braucht deine Hilfe.«

Sophia Zorell setzte sich nur zögernd in Bewegung, doch dann sah sie den am Boden liegenden Mann. Plötzlich erkannte sie, was sie zu tun hatte, und es kam Fahrt in sie. Mit wendigen Bewegungen lavierte sie zwischen einigen Sitzreihen hindurch und ging neben Burchnall auf die Knie, tastete mit ihren schlanken und sehr sauberen Fingern nach seinem Puls, dann nach seiner Schlagader.

Eine Weile verharrte sie reglos neben ihm, und es war, als lauschte sie in sich hinein. Dann sagte sie:

»Kann mir bitte jemand helfen, ihn auf den Sitz zurückzusetzen?«

Es war klar, dass ein so leichtes Persönchen wie Sophia Zorell einen so massigen Mann wie Walt Burchnall nicht von der Stelle bewegen konnte, daher erlaubten die Geiselnehmer, dass sich zwei, drei Männer von ihren Sitzplätzen erhoben und Burchnall hochhievten. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie ihn wieder an seinem Platz hatten. Als er endlich wieder saß, und die Lehne etwas nach hinten gelassen worden war, hatte er die Augen geschlossen und atmete laut und rasselnd. Ansonsten war er schlaff wie ein nasser Sack.

»Ich brauche kaltes Wasser und ein Handtuch«, sagte Dr. Zorell in Richtung der Geiselnehmer, und setzte dann hinzu: »Bitte.«

Einer, der der Anführer zu sein schien, nickte, und ein anderer wandte sich an einen der Passagiere:

»Du da! Geh, und hole ihr, was sie verlangt.«

Es dauerte eine gute Minute, bis Dr. Zorell das Gewünschte erhielt. Sie tauchte das Handtuch in das Wasser, faltete es zusammen und legte es dem Patienten auf die Stirn.

»Mehr kann ich mit meinen beschränkten Mitteln nicht tun«, erklärte sie. »Er braucht etwas Ruhe, dann kommt er wieder in Ordnung.«

Der Anführer nickte.

»Bleib dort sitzen«, befahl er, »und behalte ihn im Auge. Ich will nicht, dass er nochmals von Sitz fällt. Gib rechtzeitig Bescheid, wenn du etwas brauchst.«

Die Ärztin nahm gehorsam auf Richters Sitz Platz und behielt Burchnall aufmerksam im Auge, bis sich die Schwarzkittel anderen Dingen zuwandten. Der Anführer – denn er war es, der den Fahrgastsaal hatte verlassen wollen – betrat nun tatsächlich die Personalkabine …

Richter hatte die Zeit, die Burchnall ihm durch seinen Herzanfall gewonnen hatte, genutzt und die Schneide der Schere mit Gewalt in den Schlitz der Bodenplatte gedrückt. Vielleicht war die Klappe längere Zeit nicht mehr geöffnet worden; vielleicht war sie von unten verriegelt – Richter wusste es nicht; er wusste nur, dass diese Klappe sein einziger Ausweg war, und dass er noch ein paar wenige Sekunden bekommen hatte, um sie aufzustemmen. Er drückte und presste mit den Handflächen gegen die Schere und versuchte, sie wie einen Hebel einzusetzen, und hatte schließlich Erfolg.

Der Klappe sprang mit einem leisen Plopp auf.

Er hob sie ganz ab und sah ein dunkles, fast schwarzes Loch vor sich erscheinen. Dort musste er hinab, wenn er noch länger als ein paar Sekunden am Leben bleiben wollte. Er benötigte nur einen Sekundenbruchteil, die Entscheidung zu treffen. Mit den Füßen voran schwang er sich hinein, fand einen Halt, auf dem er seine Sohlen aufsetzen konnte, prüfte, ob sie sein Gewicht trugen – sie taten es –, dann langte er nach der Klappe, setzte sie an zwei Ecken an und bugsierte so lange mit ihr herum, bis sie wieder genau auf der Öffnung saß.

Sie fügte sich durch ihr Eigengewicht lautlos in den Falz, gerade als der Anführer den Zwischenraum betrat und ihn durchquerte.

Richter atmete auf. Er war schweißgebadet, aber in Sicherheit. Vorläufig.

Oben hatten die Geiselnehmer ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zugewandt, Walt Burchnall war von keinem weiteren Interesse für sie.

Dr. Zorell beugte sich langsam in seine Richtung und flüsterte ihm ins Ohr.

»Ihnen fehlt nichts, Mister, das ist mir gleich klargeworden. Darf ich erfahren, warum Sie diese Show abziehen? Das hätte ins Auge gehen können.«

Burchnall rührte sich nicht, öffnete auch nicht seine Augen, nur in seinen Mundwinkeln erschien ein winziges Lächeln.

»Später«, flüsterte er. »Sobald ich wieder offiziell wach bin.«

Dr. Zorell sah ihn eine Weile lang stumm an. Dann sagte sie, genauso leise:

»Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Die hätten sie ins All rauswerfen können.«

Das Lächeln auf Burchnalls Lippen verschwand.

*

Richter saß in der Dunkelheit und tastete um sich. Er erfühlte ebene Flächen, längliche und runde Gegenstände sowie kantige Umrisse – Wände, Rohre, Leitungen und wahrscheinlich Schaltkästen. Er versuchte, sich eine Vorstellung davon zu machen, wo er sich befand. Und er hatte endlich etwas Zeit, um in Ruhe nachzudenken und sich über ein paar Dinge klarzuwerden.

Die Geiselnehmer waren durch eine Explosion ins Schiff gelangt – das bedeutete, sie mussten eine Art Saugglocke angesetzt haben, denn es war kein Druckabfall eingetreten. Nach dem Aufsprengen der Außenhaut oder einer Tür waren sie von ihrem Schiff, das längsseits gegangen sein musste, in die Karthago übergewechselt.

Die Frage war jetzt, was sie mit dem Loch in der Außenhülle machten. Würden sie es versiegeln? Oder ließen sie die zwei Schiffe längsseits fliegen, bis sie ihr Ding gedreht hatten, um danach auf ihr eigenes Schiff zurückzukehren und zu verschwinden? Wenn sie die Saugglocke abtrennten, würde alle Reisenden auf der Karthago innerhalb weniger Sekunden der Tod ereilen. Die Geiselnehmer hätten dann keine Zeugen zu befürchten, und je länger Richter darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihm dieses Szenario. Keine Verbrecherbande überfällt ein mehrere Milliarden teures Passagierraumschiff und lässt danach so viele mögliche Zeugen am Leben. Er musste also damit rechnen, dass sie alle getötet werden sollten.

Das machte ihm die Entscheidung über sein weiteres Vorgehen leichter. Es war keine Option, still sitzenzubleiben und das Ende der Geiselnahme abzuwarten – zumal er nicht einmal wusste, was die Eindringlinge wollten. Er musste etwas tun – damit er und 800 andere Passagiere, dazu die Besatzung, überleben konnten.

Er tippte etwas auf seinem Handgelenkscomputer ein, damit das Subkutandisplay ansprang, und mit dem Licht, das erstrahlte, leuchtete er den Raum aus. Zwischen engstehenden Schaltkästen und Leitungen verlief ein langer Gang die gesamte Unterseite des Raumschiffs entlang und verlor sich in der Dunkelheit. Hier waren all die Dinge verbaut, die den Trip auf einem so riesigen Raumschiff zu einer angenehmen Reise machten: Die Schaltungen, die eine Bestellung auslösten oder Frischluft und Temperatur regelten, die Rohre der Müllschlucker, die Kontrolle der Antriebsdüsen … und es war ein an den Fahrgastraum angeschlossener Bereich, denn auch hier war die Temperatur auszuhalten und genügend atembare Atmosphäre vorhanden.

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