Die schwarze Stunde

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Die schwarze Stunde
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Logan Kenison

DIE SCHWARZE STUNDE

Westernroman.

Das Buch

Sheriff Tom Cross ist sich sicher: Er hat den gefährlichen Outlaw Ben Kitchell in Mesilla erschossen. Doch der Kutscher Wade Worrell behauptet steif und fest, Kitchell bei einem Postkutschenüberfall erkannt zu haben. Tom Cross bleibt nichts anderes übrig, als erneut nach Mesilla zu reiten und den Fall zu untersuchen. Auf dem Boot Hill stößt er auf ein tödliches Geheimnis.

Der Autor

Logan Kenison (vormals Joe Tyler) ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spacegeschichten. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.

Inhalt

Impressum

Die schwarze Stunde

Weitere Titel von Logan Kenison

Ungekürzte Erstausgabe 08/2014

Copyright © 2020 by Logan Kenison

Lektorat: Carola Lee-Altrichter

E-Mail: logan.kenison@gmx.de

Abdruck auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Autors.

Das Cover wurde gestaltet nach Motiven der Episode »Dan Logan wird Weidesheriff« (Orig.: »To Stop A War«, USA, 1969) der Bonanza-Komplettbox. Im Handel auf DVD erhältlich. Mit freundlicher Genehmigung von www.filmjuwelen.de

Dieser Roman ist ein Produkt der Fantasie. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ist unbeabsichtigt und wäre reiner Zufall.

In diesem E-Book können sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter befinden. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich mir die Inhalte Dritter nicht zu eigen mache, für die Inhalte nicht verantwortlich bin und keine Haftung übernehme.

Logan Kenison

DIE SCHWARZE STUNDE

ER BETRAT den Saloon durch die Vordertür wie ein gewöhnlicher Gast. Kaum jemand beachtete ihn in dem Gedränge. Seine Regenhaut war nass, denn draußen schüttete es wie aus Kübeln. Er nahm den Hut ab und ließ das Wasser, das sich auf der Krempe gesammelt hatte, zu Boden tropfen. Dann trat er an die Theke.

Die Luft hier drin war stickig und verräuchert, und für einen Moment verspürte er das heftige Verlangen nach einer Zigarette. Er verdrängte es und bestellt ein Bier bei dem Barkeeper, der nickte, sich umwandte und davontrottete.

Ein paar Cowboys standen am Billardtisch, Queues in den Händen, Zigaretten im Mundwinkel. Am Tresen drängten sich Geschäftsleute und Arbeiter von Mesilla: Tischler, Sattler, der Storekeeper, einer der Stallhands – Tom Cross kannte sie vom Sehen von seinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt.

Auch die Tische waren alle belegt. An einem spielten ein paar Burschen Faro, an anderen unterhielt man sich.

Das miese Wetter hatte die Männer in den Empty Bucket Saloon getrieben; es war später Nachmittag, und draußen war es so dunkel, als wäre es schon Nacht. Bei dem Sauwetter hatten sie nichts zu tun; es kamen keine Kunden in die Werkstätten und Stores, und es war zu dunkel, um im Haus zu arbeiten.

Das Bier kam, und Cross nahm einen langen Schluck. Der lange Ritt hatte ihn durstig gemacht. Er leckte sich den Bierschaum von den Lippen und stellte das Glas halbleer zurück.

Dann schlug er die Regenhaut zurück, sodass sein Revolvergurt und die elfenbeinverzierten Griffschalen seines Colts sichtbar wurden. Das Deckenlicht spiegelte sich auf dem Metall des Revolverhahns – und auf dem Sheriffstern an seiner Hemdbrust. Cross wandte sich ruckartig von der Theke ab und machte ein paar Schritte an einen Tisch.

Im nächsten Moment hielt er den Colt in der Hand, und die Männer am Tisch hörten das Knacken des Hahns.

»Du bist verhaftet, Kitchell«, sagte er.

Die Mündung zeigte einem der Männer auf die Brust.

Dieser, zu Tode erschrocken, prallte auf dem Stuhl zurück, bis er an die Rückenlehne anstieß. Seine Hand fuhr unter die Jacke und kam mit einem 5-schüssigen 1849er Pocket Colt Kaliber .31, den er in einem Schulterholster getragen hatte, wieder zum Vorschein.

Cross wartete bis zum letzten Sekundenbruchteil, aber als die Mündung des Colts sich ihm gefährlich genähert hatte, hatte er keine Wahl mehr.

Er drückte ab.

Die Detonation belferte so laut durch den Raum, dass eine ganze Reihe von Männern für Sekunden ertaubte. Alle schrien und stürzten wild durcheinander.

Qualm stieg auf und scharfer Geruch nach Schießpulver füllte den Raum. Durch den Nebelschleier sah Cross, wie der Mann, den er Kitchell genannt hatte, vom Stuhl kippte. Cross machte zwei rasche Schritte zur Seite, sodass er ihn wieder vor den Lauf bekam.

Kitchell hielt immer noch den Taschenrevolver in der Hand, und als er Cross kommen sah, schwang er ihn hoch. Er brachte es sogar noch fertig zu feuern, doch die Kugel fauchte an Cross’ Gesicht vorbei und schlug in die Decke.

Cross schoss ein zweites Mal, und auch diesmal traf er Kitchell. Dieser bäumte sich auf, stöhnte und erschlaffte. Die Hand mit dem Colt fiel zu Boden. Blut quoll aus zwei Öffnungen seiner Brust.

Cross war nun bei ihm, kickte die Waffe weg, dann steckte er seinen Peacemaker ins Holster zurück. In der nächsten Sekunde legte er dem Schwerverletzten Metallhandschellen an – kein Mensch hatte gesehen, woher er diese genommen hatte, so schnell war alles gegangen.

Die Saloongäste, die in Panik auseinandergestürzt waren, bildeten eine große Traube. In ihren Gesichtern spiegelten sich Entsetzen und Wut.

Cross richtete sich auf und schob die Regenhaut zurück, sodass sie den Stern sehen konnten.

»Er ist ein Räuber und Pferdedieb und wird drüben in Deming wegen Mordes gesucht. Ich wollte ihm keine Chance für Dummheiten lassen, deswegen richtete ich die Waffe auf ihn. Er war dumm genug, es dennoch zu versuchen. Nun, er hat den Kürzeren gezogen; ihr habt es ja gesehen. Er lebt noch. Jemand soll den Doc holen. Vorwärts!«

Ein Mann stolperte in den dunklen Regennachmittag hinaus.

Die anderen starrten Cross wütend an. Dieser Kitchell war anscheinend einer gewesen, den sie hier gut gekannt hatten.

»Sind Sie sicher, dass er es ist, den Sie suchen?«, fragte einer.

Cross nickte.

»Sind denn die Handschellen wirklich nötig? Der Mann ist schwerverletzt und wird sicher nicht …«

»Ich trage die Verantwortung für ihn«, schnitt Cross ihm das Wort ab, »also entscheide ich, was getan wird. Die Handschellen bleiben, bis er tot ist oder in einer Zelle sitzt. Übrigens wartet in Deming der Strick auf ihn. Wenn einer von euch Kitchell gut gekannt hat, kann er nachher zu mir ins Hotel rüberkommen und mir von ihm berichten. Wir werden alles bei der Gerichtsverhandlung vortragen.«

Die Augen der Männer funkelten böse. Sie waren nicht einverstanden mit dem, was der Sheriff eines fremden Bezirks hier bei ihnen abzog. Zudem schien Kitchell mit einigen von ihnen eng befreundet zu sein.

»Sie werden ihn nicht nach Deming mitnehmen!«, sagte einer.

»Wer will mich daran hindern?«, erwiderte Cross kalt. »Sie?«

Er starrte den Mann finster an, bis dieser dem Blick nicht mehr standzuhalten vermochte.

Doch er erhielt Schützenhilfe von einem anderen.

»Wir haben hier auch einen Sheriff. Der wird sich um die Sache kümmern. Sie sind außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs. Sie können hier nicht einfach auftauchen und Leute abknallen.«

»Ja, holt ihn nur, euren Sheriff«, sagte Cross. Er wandte der Menge demonstrativ den Rücken zu und wartete.

Es dauerte gar nicht lange, da hörte man Schritte auf dem Plankengehsteig. Die Tür flog auf, und ein bulliger Mann trat ein. Er war in einer Cordjacke durch den Regen gelaufen und hatte entsprechende Nässeflecken auf Schulter, Rücken und Brust. Auf seinem pflaumfarbenen Hemd prangte der Sheriffstern. Am Kragen trug er eine schwarze Schleife.

Die Winchester in seiner Hand fuhr herum zu Cross.

»Was ist hier los?«, rief er.

»Ich bin’s, Tom Cross aus Deming. Dieser Mann hat sich der Verhaftung widersetzt und mich angegriffen. Ich habe in Notwehr zwei Mal auf ihn geschossen.«

»Könnt ihr das bestätigen, Leute?«, fragte der Sheriff.

»Ja, verdammt!«, platzte es aus einem heraus. »Der Scheißkerl hat Ben Kitchell die Mündung unter die Nase gehalten und gebrüllt, er wäre verhaftet. Ben zuckte vor Schreck zurück und zog im Reflex seine Kanone. Wer kann es ihm verübeln? Er hat nun mal schnelle Reflexe. Da hat dieser Fremde, der angeblich Sheriff ist, abgedrückt und Ben kaltblütig über den Haufen geschossen.«

Der Sheriff sah den Fremden nun eingehender an.

»Ah, jetzt erkenne ich dich. Ja, du bist Cross aus Deming. Erkannte dich nicht gleich wegen des Dreitagebarts.«

Cross nickte. »Bin schon eine Weile unterwegs, Tabor. Hier ist der Haftbefehl für Kitchell, ausgestellt von Richter John Wachsnicht aus Deming.«

Sheriff Tabor senkte die Winch und griff nach dem Papier. Nachdem er ihn mehrere Sekunden lang studiert hatte, reichte er ihn zurück.

»Seit wann erledigt man das so, Cross? Warum bist du nicht zu mir ins Office rübergekommen, um die Sache erst mal zu besprechen?«

»Als ich einritt, sah ich Kitchells Pferd vor dem Saloon und dachte, ich greife ihn mir gleich. Wollte ihn ins Office rüberbringen, aber er machte Schwierigkeiten. Ein Doc sollte ihn sich jetzt wirklich mal ansehen.«

 

Sheriff Tabor übernahm nun das Kommando. Er benannte vier Männer, die den Schwerverletzten zur Praxis des Docs hinübertragen sollten. Ein Mann hängte einen Türflügel aus, und man legte Kitchell darauf. Die vier Männer wollten ihn gerade durch die Schwingtür nach draußen tragen, als der Doc mit seiner Tasche hereingestürmt kam, einen anderen Mann im Schlepptau.

Der Doc machte einen schnellen Schritt zur Seite.

»Ja, bringt ihn in die Praxis rüber«, sagte er. »Dort kann ich mehr für ihn tun.«

Er wandte sich auf dem Absatz um und folgte dem Verwundeten. Sheriff Tabor wartete, bis Cross sich in Bewegung gesetzt hatte, dann schloss er sich dem Zug an.

»Haben Sie noch mehr solche Überraschungen für mich parat?«, fragte er, als sie durch den Schlamm die Main Street überquerten und der Regen ihnen ins Gesicht schlug.

»Nope«, sagte Cross. »Ich bin gekommen, um Kitchell zu verhaften. Sonst nichts.«

»Was hat er ausgefressen?«

»Postkutschenüberfall. Der Begleiter kam dabei zu Tode, als er sich zur Wehr setzte. Kitchell hat ihn ohne zu Zögern vom Bock geschossen.«

»Woher weißt du, dass es Kitchell war?«

»Die Aussagen der Fahrgäste und des Fahrers waren eindeutig.«

»War er nicht maskiert?«

»Bei seiner Größe und dem Pferd nützt eine Maskerade nichts«, sagte Cross.

Er hatte Recht. Ben Kitchell war sechs Fuß vier Zoll groß, das waren 196 Zentimeter. Und sein Pferd war ein Appaloosa-Schabracktiger mit der wohl außergewöhnlichsten Zeichnung des ganzen Westens: Kopf, Hals, Schultern und Vorderläufe waren pechschwarz, Rücken und Hüfte hingegen weiß mit großen Flecken, als hätte jemand schwarze Tinte auf ihn gekleckst.

Es war ein Vierhundert-Dollar-Pferd, das als Deckhengst sehr gefragt gewesen wäre, hätte Kitchell es für solche Zwecke zur Verfügung gestellt. Doch er hatte das Tier nur dazu benutzt, Postkutschen zu überfallen und vor dem Gesetz zu fliehen.

Seine Faulheit war ihm nun zum Verhängnis geworden. Hätte er sich um das Tier gekümmert, wie es sich gehört hätte, es in den Mietstall gebracht und versorgen lassen, dann wäre Cross nicht beim Einreiten darauf aufmerksam geworden.

Doch das, und dass Kitchell im Saloon mit ein paar Burschen Karten gespielt hatte, zeugten davon, wie sorglos und auf Amüsement ausgerichtet dieser große Kerl sein Leben geführt hatte. Als könne ihm nichts und niemand etwas anhaben.

Bis dahin hatte er dem Gesetz eins ums andere Mal ein Schnippchen geschlagen. Er wurde schon seit vier Jahren gesucht, aber immer wieder war es ihm gelungen, den Aufgeboten zu entwischen und durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen.

Bis er sich vor drei Wochen zu weit nach Westen vorgewagt hatte – in das Gebiet von Sheriff Tom Cross aus Deming. Cross hatten die 58 Meilen nach Mesilla herüber nichts ausgemacht. Im Gegenteil – je länger der Ritt dauerte, je weiter er ihn von Zuhause weg führte, desto zäher und verbissener folgte er der Fährte, auf die er sich gesetzt hatte.

Sie erreichten die Praxis des Doktors. Ein großes Schild stand in dem kleinen Vorgarten: DR. PETER BINDIG, G. P. (general practitioner, praktischer Arzt).

Cross folgte den Männern.

Sie hatten Schwierigkeiten, den Patienten durch die Tür zu bringen, da das Türblatt zu breit war. Sie hielten es leicht schrägt, und Kitchell, der inzwischen ohne Bewusstsein war, drohte herab zu rutschen.

Nach vielem Schimpfen und Zerren und Ächzen und Schieben schafften sie es schließlich, und hievten den Outlaw auf den Behandlungstisch.

Doc Bindig, ein Mann in den Fünfzigern, hatte inzwischen die regenbefleckte Jacke ausgezogen und die weißen Hemdsärmel hochgekrempelt. Er scheuchte die Männer aus dem Raum; nur Sheriff Tabor blieb, und auch Cross ließ sich nicht verscheuchen.

»Sie sollten ihm wirklich die Handschellen abnehmen«, sagte der Doc. »Sonst komme ich nicht an die Verletzungen ran.«

Cross betrachtete Kitchell einige Sekunden lang. Der Outlaw lag wie tot auf dem Behandlungstisch.

Cross brummte etwas, trat hinzu und löste die Handschellen.

Die Hände sanken kraftlos seitlich herab.

»Es hat ihn verdammt schwer erwischt«, sagte der Doc. »Glaube nicht, dass er es schafft.«

»Wie lange werden Sie brauchen?«, fragte Tabor.

»Keine Ahnung. Eine Stunde? Zwei? Fragen Sie mich danach nochmal.«

Tabor wandte sich an Cross.

»Kommst du mit ins Office? Ich habe dort einen Brandy. Könnte jetzt einen vertragen.«

Cross schüttelte den Kopf.

»Ich möchte lieber auf meinen Gefangenen aufpassen.«

»Hier gibt es nichts aufzupassen, Sheriff«, sagte der Doc. »Der Mann ist ohne Bewusstsein. Ob er es je wiedererlangt, ist fraglich. Mit Verletzungen dieser Art wird er kaum vom Tisch hüpfen und fortspringen. Sie können ruhig mit Sheriff Tabor ins Office gehen. Ich brauche Sie hier nicht.«

»Ich bleibe!«, versetzte Cross halsstarrig.

»Na gut«, meinte der Doc. Und zu Tabor gewandt: »Schicken Sie mir Cindy. Sie soll mir assistieren.«

Tabor zögerte. Sein fragender Blick ruhte auf dem Doc.

»Nun machen Sie schon!«, sagte Bindig.

*

Drei Stunden später sank Cross müde auf den Besucherstuhl im Sheriff’s Office.

»Er ist tot«, sagte er.

Tabor starrte ihn an.

»Verdammt. Das wird einigen hier gar nicht gefallen.«

»Er hatte wohl viele Freunde?«

Tabor nickte.

»Du machst besser, dass du aus der Gegend kommst, Cross.«

Cross schüttelte den Kopf.

»Ich bleibe, bis ihr ihn unter die Erde gebracht habt.«

»Bist ein verdammter Sturschädel. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«

Cross grinste. »Meine Frau sagt mir das andauernd.«

»Na, dann weißt du ja Bescheid. Steigst du drüben im La Quinta ab?«

»Yeah.« Cross erhob sich und trat zur Tür. Sekundenlang starrte er durch die Glasscheibe in das Regentreiben hinaus. »Danke für die Warnung. Vielleicht solltest du deinen Einfluss geltend machen, um die Gemüter zu beruhigen. Sonst gibt es nur noch mehr Tote.«

Im Licht der Petroleumlampe wirkte Sheriff Tabors verbissenes Gesicht – halb angestrahlt, halb im Schatten – wie eine Dämonenfratze.

»Das wäre schlimm. Verdammt, warum musst du hierbleiben? Kitchell ist tot, dein Fall ist abgeschlossen.«

»Ich weiß auch nicht. Irgend so ein Gefühl.«

»Hast du etwa plötzlich Zweifel an Kitchells Schuld?«

»Das nicht. Es ist etwas anderes. Ich spüre, dass hier etwas in der Luft liegt.«

»Das ist der Regen, die Dunkelheit, die Müdigkeit. Schlaf dich erst mal aus. Verdammt, ich mache dir nichts vor, Cross, ich möchte dich hier weghaben. Einige Leute könnten sonst ziemlich ungemütlich werden.«

Cross starrte Tabor an. Doch mit seinem unrasierten Gesicht und dem halb müden, halb unbeugsamen Blick wirkte er selbst wie ein Mann, der ziemlich ungemütlich werden konnte.

*

Am nächsten Morgen verließ Cross das La Quinta durch die große zweiflügelige Eingangstür und trat an den Rand des Plankengehsteigs. Er trug den schwarzen Regenumhang. Obwohl es bereits nach neun war, war es so dunkel wie in der Abenddämmerung. Schwarze Wolken, die keine Helligkeit durchließen, bedeckten den gesamten Himmel von Ost nach West.

Noch schützte das Vordach Cross vor dem Regen, doch in wenigen Sekunden würde er in den Schlamm der Main Street hinaustreten müssen.

Jemand hatte ein Brett über die Straße gelegt, um das Überqueren zu erleichtern, doch das Brett lag schief, war halb eingesunken und zudem mit Schlamm überspült. Es gab keine Möglichkeit, einigermaßen sauber die andere Straßenseite zu erreichen.

Cross setzte sich in Bewegung.

Als der Regen auf ihn niederprasselte, fühlte er sich immer noch müde und ausgelaugt. In der Nacht hatte er auf den weichen übelriechenden Matratzen und Kissen, in die er eingesunken war wie in Treibsand, geschlafen wie ein Toter. Dennoch war er nicht sehr erholt aufgewacht.

Er hatte nicht gefrühstückt, nur die Zähne mit Asche geputzt und danach etwas Wasser getrunken, um den Geschmack aus dem Mund zu bekommen.

Er erreichte die Tür des Sheriff’s Office, als diese aufschwang. Eine schlanke schwarzhaarige Frau in einem bordeauxroten Flanellmantel trat heraus und schoss einen Schwall mexikanischer Schimpfwörter in das Rauminnere ab, bevor sie sich umwandte und direkt in Cross hineinrannte.

Als sie ihn anstieß, prallte sie erschrocken zurück, und Cross sah die Tränen in ihrem verzerrten Gesicht. Obwohl er nichts falsch gemacht hatte, entschuldigte er sich.

Die Frau sah sekundenlang zu ihm hoch, zu dem großen Americano im schwarzen Ölzeug, an dem das Wasser herablief. Dann murmelte sie etwas Unverständliches, ruckte herum und lief in den Regen hinaus.

Cross sah ihrem Rücken nach. Ein weinroter Fleck vor dem Braun der Gebäude und des Schlamms.

Er trat ins Office.

»Was hat die denn gewollt?«, fragte er Tabor, der gerade im Begriff war, seinen Blechbecher mit Kaffee zu füllen. Tabor trug dieselbe Kleidung wie gestern; er wirkte müde und unausgeschlafen.

»Ach, ihr Mann ist mit ’ner andern durchgebrannt. Jetzt macht sie mir die Hölle heiß, dass ich ihn suchen und zu ihr und den vier Kindern zurückbringen soll. Aber ich denke ja gar nicht dran. Familienkram! Sowas geht mich nichts an.«

Cross empfand Mitleid mit der Frau, die keineswegs hässlich gewesen war. Er schätzte sie auf Ende Zwanzig. Warum verließ ein Bursche so eine hübsche Frau? Cross konnte das nicht nachvollziehen. Er kannte sie natürlich nicht näher. Vielleicht war sie herrschsüchtig und nörgelte an Kleinigkeiten herum. Temperamentvoll nannte man das wohl, und die Mexikanerinnen waren ja bekannt dafür. Sicher, sowas konnte einen Mann, der nach einem harten Arbeitstag nur seinen Frieden haben wollte, aus dem Haus treiben.

»Auch ’n Kaffee?«, fragte Tabor, und Cross nickte.

Sie tranken und unterhielten sich, und in der folgenden halben Stunde trafen nach und nach drei weitere Männer im Office ein: Der Arzt Peter Bindig, der Bürgermeister Jim Kaberline und der Sargmacher und Bestatter Glen Hoshaw. Gegen zehn verließen sie das Office und stapften fluchend durch Pfützen und Schlamm zum Boot Hill.

Dort hatten zwei Männer am frühen Morgen bereits ein Grab ausgehoben. Unter einer zwanzig Yard hohen Arizona-Zypresse, deren Laub- und Astwerk dicht genug war, um wenigstens etwas von dem strömenden Regen abzuhalten, traten sie von einem Bein aufs andere, während sich in der Grube das Regenwasser sammelte.

Zwei weitere Angestellte von Glen Hoshaw hatten im Leichenwagen den Sarg herbeigefahren. Die Pferde standen mit gesenkten Köpfen dabei und schnaubten missvergnügt.

»Das ist die trostloseste Beerdigung, die ich je erlebt habe«, sagte Kaberline. »Das hat Ben Kitchell nicht verdient.«

Cross dachte an den Mann, den Kitchell erschossen hatte, und an dessen Familie, die nun keinen Ernährer mehr hatte. Dieser Mann hatte es genauso wenig verdient. Er fragte sich, warum die Menschen hier so taten, als ob Kitchell ein Heiliger gewesen war. Ein Verbrecher war er gewesen, ein Mörder, Räuber und Dieb. Nichts anderes.

Aber Cross sagte nichts.

»Hast du die Bibel dabei?«, fragte Tabor.

»Mir steht der Kopf nicht nach Bibeltexten«, maulte der Bürgermeister. »Lass uns den Toten unter die Erde bringen, damit wir von hier fortkommen.«

Die Angestellten Hoshaws und die zwei Totengräber brachten den Sarg herbei. Mit Seilen ließen sie ihn die Grube hinab.

Außer dem prasselnden Regen, ihrem Ächzen und dem Schmatzen der Stiefel war nichts zu hören.

Schließlich zogen die Männer die Seile herauf und traten zurück.

Tabor versuchte, Psalm 23 zu rezitieren, verhaspelte sich dabei jedoch und brach ab.

»Verdammt, ich verschwinde«, blaffte Kaberline. »Wir können nichts mehr für ihn tun, also belassen wir’s dabei. Amen.«

Er stapfte davon, und Doc Bindig folgte ihm mit hochgeschlagenem Kragen.

Cross wartete, bis die zwei Totengräber begannen, Erde auf den Sarg zu schaufeln. Dann wandte auch er sich um und folgte dem Bürgermeister und dem Arzt. Tabor hielt sich an seiner Seite, während Glen Hoshaw bei seinen Angestellten zurückblieb.

»Bist du nun zufrieden?«, fragte Tabor. In seiner Stimme schwang ein leiser Vorwurf.

Cross antwortete nichts.

 

»Zum Teufel, Kaberline hatte Recht. Das hat Ben Kitchell nicht verdient.«

»Und deswegen fluchst du? Weil nicht genügend Bibelverse an seinem Grab verlesen wurden?« Cross sah Tabor von der Seite an, ein seltsames Lächeln auf den Lippen.

»Ja, zum Teufel, und jetzt möchte ich von dir wissen, wann du reitest.«

»Noch vor Mittag. Es hat keinen Sinn, dir und dieser Stadt noch länger auf die Nerven zu fallen.«

»Gut.« Tabor atmete auf. Er schien erleichtert. Seine folgenden Worte klangen bemüht ungezwungen: »Dann richte deinem Deputy, dem alten Mordechai Oates, einen schönen Gruß von mir aus.«

»Das werde ich.«

»Ich hab’ ihn schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s ihm denn?«

»Er ist jetzt Mitte Siebzig. Hat sich vor zwei Jahren ins Bein geschossen, seither humpelt er. Steifes Knie. Aber er kann den Job noch verrichten. Seit er mit seiner Schrotflinte den ganzen Tag im Jail hockt und aufpasst, ist kein Häftling mehr ausgebüxt.«

»Na, da kann Deming auf euch beide ja mächtig stolz sein.« In Tabors Stimme schwang ein Hauch Ironie mit.

»Wir sind zu dritt. Ich habe noch einen weiteren Deputy.«

»Ach ja?«

»Sein Name ist Timmy Ochs. Fähiger junger Bursche, dreiundzwanzig und recht fix mit dem Schießeisen.«

»Verdammt, solche Hilfe könnte ich hier auch brauchen.«

»Wozu? Um durchgebrannte Ehemänner einzufangen?«, frotzelte Cross. »Oder um Typen wie Ben Kitchell zu verhaften? – Hör zu, Tabor. Ich weiß Bescheid. Du hast den Steckbrief ebenfalls bekommen. Jede Stadt im Umkreis von fünfhundert Meilen hat ihn erhalten. Ich habe ihn überall hingeschickt. Ich nehme an, du wirst deine Gründe gehabt haben, warum du Kitchell nicht verhaftet hast.«

Tabor blieb ruckartig stehen.

Cross verhielt ebenfalls und fixierte seinen Kollegen mit festem Blick.

»Ich kann dir das erklären«, erwiderte Tabor lahm. Seine Worte vermittelten Cross den Eindruck, als ob er im Moment erst dabei war, sich eine Ausrede zusammenzureimen.

Cross winkte ab.

»Das kannst du dir sparen. Wie ich schon sagte, du wirst deine Gründe gehabt haben. Ich möchte sie gar nicht wissen. Aber eines verspreche ich dir: Wenn wieder ein Bursche zu uns rüberkommt und Dummheiten anstellt, stehe ich wieder bei dir auf der Matte. Wie ihr eure Probleme löst, ist mir egal, aber in meinem Bezirk lasse ich solche Eskapaden nicht zu.«

Auf Tabors Wangen tanzten rote Flecke. Er wusste nicht, ob er wütend werden oder froh sein sollte.

»Ach, geh doch zum Teufel«, stieß er dann hervor.

Cross wandte sich ab und ging ohne weiteres Wort davon.

An der Hausecke, unter dem Verandadach, standen zwei Männer und blickten ihm entgegen, als erwarteten sie ihn. Ihre Augen umgab ein finsterer Zug. Die Hände befanden sich in der Nähe ihrer Coltgriffe.

Cross hatte keine Wahl: Wenn er nicht noch etliche Yards mehr durch Schlamm und Regen waten wollte, musste er die zwei Stufen hinaufsteigen und zwischen den Männern hindurch.

Doch ihm war klar, dass sie ihn erwarteten. Und ihre Blicke verhießen nichts Gutes.

Ungeachtet des prasselnden Regens blieb er unten am Treppenabsatz stehen und sah zu ihnen hinauf.

»Na?«, fragte er. Sonst sagte er nichts. Er wartete.

Zwei Augenpaare funkelten zu ihm herab.

»Du hast unseren Freund und Partner erschossen, Mister«, sagte der eine dann.

»Und was habt ihr nun vor? Versuchen, mich auf offener Straße niederzuknallen?«

Die Hand des einen zuckte, während die des andere sich öffnete und schloss, öffnete und schloss …

»Überlegt’s euch in Ruhe, Jungs. Sowas kann auch ins Auge gehen.«

»Ben Kitchell hast du überrascht, du verdammter Lawman. Bei uns wird dir das nicht gelingen.«

»Dann will ich euch mal was über euren Freund Ben Kitchell erzählen. Er hat in meinem Distrikt eine Postkutsche überfallen und einen Mann ermordet. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.«

»Das behauptest du!«, blaffte der eine.

»Eine verdammte Lüge!«, schrie der andere.

»Tja, wenn ihr es besser wisst, könnt ihr euch drüben in Deming für den Sheriffposten bewerben.«

Cross bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Tabor, der ihm schließlich doch gefolgt war, neben ihn trat.

»Lasst uns durch, Jungs«, sagte Tabor. »Die Sache ist gelaufen. Lasst uns durch. Nichts kann Ben wieder lebendig machen. Lasst nicht noch mehr Blut fließen. Tom Cross hat nur seinen Job gemacht. Es ist zwar miserabel gelaufen, aber er hatte das Recht, Ben zu verhaften. Ben war unvernünftig genug, es gegen einen Mann aufnehmen zu wollen, der den Colt bereits in der Hand hielt. Es war nicht allein Tom Cross’ Schuld, dass es so gekommen ist. Gebt den Weg frei, Jungs. Macht keinen Unsinn.«

Die Männer knirschten mit den Zähnen, doch schließlich machten sie Platz. Tabor stieg die Stufen hinauf. Dann, als er zwischen den Männern stand, wandte er sich um.

»Nun komm schon, Cross. Worauf wartest du? Das Wetter wird nicht besser.«

Cross folgte ihm und ging zwischen den Männern hindurch. Dann erst folgte ihm Tabor und deckte ihm mit seinem Körper den Rücken.

»Die Jungs sind ein bisschen aufgebracht«, sagte er. »Das musst du verstehen. Sie haben manche Pokerrunde mit Ben gezockt und einige Flaschen Whisky mit ihm geleert.«

Cross sagte nichts. Unter dem Regenponcho steckte er den Colt, den er unbemerkt gezogen und schussbereit gehalten hatte, ins Holster zurück.

*

Drei Tage später hatten die monsunartigen Regenfälle, die typisch für den August in New Mexico waren, aufgehört. Zwar zogen immer noch finstere Wolkenbänke über das Land, doch behielten sie jetzt ihre Last bei sich, bis sie die Wüste überquert und die Cook Mountains erreicht hatten. Dort regneten sie ab und füllten die Wildbäche, Seen und Tümpel, und versorgten das Umland für einige Zeit mit dem lebensnotwendigen Nass.

Durch den ausgiebigen tagelangen Regen waren zahlreiche Wildblumen mit neuem Saft versorgt worden. Nun begann alles bunt zu blühen und zu sprießen. Kreosotgebüsch, Honigmesquite und Yuccas wucherten wild. Ein feuchter und warmer Dampf hing in der Luft, und Kaktusfliegen, Töpferwespen, Rotringhummeln, Buschgrashüpfer, Haarskorpione und Samtameisen, die sich tagelang irgendwo hatten verborgen halten müssen, tummelten sich mit unverhohlener Lebensfreude in der sich neu erwärmenden Prärie.

Cross verhielt sein Pferd. Vom Hügel sah er auf Deming hinab, und da kam es beinahe über ihn. Die Stadt lag friedlich im Abendrot, und in ihm stieg die Sehnsucht nach seiner Frau auf.

So war es jedes Mal, wenn eine Jagd zu Ende war. Da besann er sich auf das, was ihm mindestens genauso wichtig, ja, was ihm zu einem Heim geworden war: Das kleine Häuschen in der Birch Street; die Frau, die dort auf ihn wartete, und ihre waltende und dekorierende Hand, die alles eingerichtet hatte und instand hielt.

Er war froh, dass es diesen Platz gab, den er sein Zuhause nennen durfte. Wie viele Männer konnten in diesen Zeiten so einen Platz vorweisen? Auch für ihn war es lange anders gewesen. Damals, kurz nach dem Krieg, war er ein Ruheloser gewesen; einer, der ohne Ziel durch den Westen gezogen war, stets auf der Suche nach etwas, das er selbst nicht hatte benennen können.

Bis er in Alamogordo Allison Pappan getroffen hatte. Sie hatten sich innerhalb weniger Stunden ineinander verliebt, und wenige Wochen später geheiratet. Er hatte keines der zehn Jahre bereut, die sie nun schon verheiratet waren. Obwohl es am Anfang hart für Allison gewesen war, all die Ecken und Kanten an ihm zu ertragen, bis diese sich mit der Zeit abzuschleifen und zu glätten begonnen hatten. Sie hatte sich nie etwas anmerken lassen und immer zu ihm gehalten, auch dann, wenn er sich stur und uneinsichtig gezeigt hatte.

Vor zwei Jahren hatte man in Deming einen Sheriff gesucht. Die Crosses waren hergezogen, und Tom hatte sich zur Wahl gestellt. Da er zuvor sechs Jahre als Deputy in Fort Selden gearbeitet hatte, und der dortige Sheriff ihm gute Referenzen ausgestellt hatte, wählte man ihn mit großer Mehrheit.

Er trabte die Anhöhe hinab und dann die Main Street entlang. Auf das Sheriff’s Office warf er nur im Vorbereiten einen Blick, ob es noch stand. Durchs Fenster erkannte er Timmy Ochs, der am Schreibtisch saß, und die Silhouette von Mordechai Oates. Morgen würde er ihnen berichten, was vorgefallen war, und ein Protokoll schreiben. Aber heute hatte er keinen Nerv für diese beiden Jungs, denn es trieb ihn nach Hause.

Er bog in die Birch Street ab. Hinter dem kleinen Häuschen hatte seine Frau einen Gemüsegarten angelegt und er eine Bank aufgestellt. An diesem Abend wollte er wieder mit Allison dort sitzen, ein Bier trinken und den Sonnenuntergang betrachten, der den Westhimmel in leuchtendes Feuerrot tauchte.

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