Mord in der Eisstation

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Mord in der Eisstation
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Mord in der Eisstation

Ein Spacewestern

von Logan Kenison

Das Buch

Eissturm auf Pluratania! Die Temperatur sinkt auf minus 100 Grad, und Owen Richter flüchtet in eine Bodenstation. Dort möchte er sich in eine warme Koje kuscheln und abwarten, bis der Sturm sich gelegt hat – doch er weiß nicht, dass eine furchtbare Bestie auf Vestige Terminal ihr Unwesen treibt, die alle Bewohner dem Tod geweiht hat.

Der Autor

Logan Kenison ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spaceromanen. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.

Inhalt

Impressum

Mord auf der Eisstation

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Impressum

08/2018

Copyright dieser Ausgabe: 10/2021 by Logan Kenison

Lektorat: Carola Lee-Altrichter

Abdruck auch auszugsweise

nur mit Genehmigung des Autors.

Cover: »Don’t Scream« by PJ3DART 2015

Kontakt: logan.kenison@gmx.de

Mord in der Eisstation

Ein Spacewestern

von Logan Kenison

In Finsternis erwachte das Grod.

Im ersten Moment wusste es nicht, wo es war. Es öffnete die Augen, und da war nichts als Schwärze – eine bodenlose Schwärze, die es umfing wie dichte Watte. Dann begann es, Gerüche wahrzunehmen. Multiple Gerüche, die sich zum Teil überlagerten, zum Teil aus verschiedenen Quellen und Richtungen kamen. Sie alle korrespondierten mit seinen Geruchssensoren, lieferten Informationen, lösten Schlussfolgerungen aus.

Da wusste das Grod, dass es am Leben war.

Da wusste das Grod, dass es leben würde.

Denn einer dieser Gerüche … bedeutete Nahrung. Bedeutete Beute. Bedeutete Leben.

Das Grod erhob sich.

Die Dunkelheit war so vollkommen, dass das Grod seinen eigenen Körper nicht sehen konnte. Es stieß gegen etwas, das scheppernd zu Boden fiel. Es lief gegen eine Wand, die es nicht gesehen hatte. Es tastete die Wand ab und suchte nach einem Ausgang, den es nicht fand.

Doch plötzlich, als es ein paar weitere Schritte gemacht hatte, schwangen zischend zwei Türflügel auseinander und gaben den Weg in einen Korridor frei. Minimaler Lichtschein wies ihm den Weg. Irgendwo weit entfernt gab es eine Lichtquelle, und dort, wo diese Lichtquelle ihren Ausgangspunkt hatte, befand sich auch die Nahrung, die das Grod am Leben erhalten würde.

Das Grod setzte sich in Bewegung.

Es fragte nicht, warum es hier war.

Es fragte nicht, wie es in den dunklen Raum gekommen war.

Es fragte nicht, wer oder was es war.

Es wusste nur, dass es einen mächtigen Hunger hatte, der es vorwärtstrieb, und dass dort, wo das schwache Licht herkam, auch die Nahrung war.

*

Eisige Winde schlugen Owen Richter ins Visier seines Exo-Anzugs, mit dem er über die Oberfläche von Pluratania 2PXR stapfte. Schritt für Schritt ging es vorwärts, durch Schnee- und über Eismassen in einer Menge, die Richter nie zuvor gesehen hatte. Soweit das Auge reichte, das bedeutete: von Horizont bis Horizont, sah er nichts als weißen Schnee, blaues Eis, bedeckte graue Berge, ab und zu ein herausragendes Stück braunen Fels. Kein Baum, kein Busch, kein Gesträuch schuf Abwechslung in diesem öden Einerlei; solche Dinge wuchsen auf Pluratania 2PXR nicht, dessen Durchschnittstemperatur bei minus 33 Grad lag.

Damit nicht genug: Auf der Oberfläche des Planeten wütete einer jener berüchtigten Eisstürme mit in alle Richtungen wirbelnden großen Schneeflocken, die die Sicht vernebelten und allzu häufig für Orientierungslosigkeit sorgten, und die bereits für zahllose Tote und so manche Legende im Universum gesorgt hatten.

Richter kämpfte sich auf der Eisdecke vorwärts, ständig in Gefahr, den Grip zu verlieren, auszugleiten, bestenfalls der Länge nach hinzuknallen, oder sich das Bein zu brechen, oder – im schlimmsten Fall – in einer Eisspalte für immer zu verschwinden.

Er fluchte, dass er den Auftrag angenommen hatte, der ihn nach Pluratania geführt hatte. Aber Geneva Madden hatte ihn mit so traurigen Augen angesehen, dass er nicht hatte Nein sagen können, ohne sich schäbig vorzukommen. Und Richter kam sich nicht gern schäbig vor; nicht, wenn eine harmlose kleine Frau ihn in einer Bar aufsuchte und ihn bat, ihren Mann ausfindig zu machen. Nicht, wenn zuhause vier Kinder auf den Vater warteten, der spurlos verschwunden war. Nicht, wenn diese Familie am Hungertuch nagte und den Ehemann und Vater dringend brauchte.

Richters erster Gedanke war gewesen, dass Wayne Madden seine Frau und die Kinder einfach verlassen hatte. Vielleicht hatte er eine andere kennengelernt und war mit ihr durchgebrannt; vielleicht hatte er einfach die Schnauze vollgehabt von plärrenden Bälgern und einer nörgelnden Ehefrau, und das Weite gesucht. Geneva Madden schien seine Gedanken lesen zu können, denn sogleich wehrte sie alle diese Vorstellungen vehement ab. Wayne Madden, so versicherte sie, sei ausgezogen, um für seine Familie das Glück zu suchen. Er wollte arbeiten, rackern, Gold schürfen, Uran abbauen, irgendwas, um für Geld zu sorgen, das sie dringend benötigten, um a) aus der Schuldenfalle herauszukommen und b) den Kindern eine lebenswerte Zukunft und ein gutes Leben zu ermöglichen. Denn so, wie sie jetzt hausten, sagte sie, war es allenfalls ein Dahinvegetieren, nicht aber Leben, und die Kinder hatten keine Chance auf eine solide Ausbildung, und ihre Zukunft war düster und grau, wenn nicht gar schwarz.

Richter machte sich darauf gefasst, sich mit diesem Auftrag keine goldene Nase zu verdienen, und schraubte seine Erwartungen in Bezug auf die Entlohnung auf das niedrigste Level zurück. Was sie ihm dann anbot, deckte noch nicht einmal die Spesen, die er haben würde, um den Flug und seinen Lebensunterhalt während der Suche zu bestreiten. Dennoch hatte er zugesagt. Geneva Madden hatte ihm einfach leidgetan, und vielleicht war Rührseligkeit schon immer seine schwache Seite gewesen.

Er war zunächst ihren Hinweisen gefolgt, hatte die Spur Wayne Maddens mehrmals verloren, dann wiedergefunden, und schließlich von einem Kerl namens Nu Antem, den er auf Guna-4 getroffen hatte (und dem er 1.000 Qubits hatte zahlen müssen – woher sollte er die je zurückbekommen?), den entscheidenden Tipp erhalten. Und nun stapfte er über Eisplatten und durch Schneeberge und versuchte, einfach nur am Leben zu bleiben.

Die Temperatur in seinem Exo-Anzug betrug 19 Grad Celsius, was recht angenehm war, wenn man sich permanent körperlich betätigte, doch draußen tobte der Sturm bei minus 62 Grad, was ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Wenn der Anzug ausfiel, wenn ihm die Energie ausging … Teufel, es gab so viele Faktoren, die schiefgehen konnten, und Eistiger und Schneeechsen soll es hier auch geben. Ihm wurde ganz mulmig zumute, wenn er nur daran dachte.

Diese verdammten Raubkreaturen lauerten unablässig auf Beute, und Richter passte trefflich in ihr Nahrungsschema. Gut, im Sturm war nicht unbedingt mit einem Angriff zu rechnen. Viele Kreaturen verzogen sich in Höhlen oder schufen sich selbst welche, indem sie sich eingruben. Doch Richter hatte schon in einiger Entfernung trotz Wind und Schnee ein paar Tiere herumspringen sehen. Er hatte nicht genau erkennen können, welcher Spezies sie angehörten, doch ihm war nur rechtgewesen, dass diese Viecher weit weg waren.

Die Automatik seines Anzugs piepste, und eine scheppernde Stimme verkündete:

»Lebenserhaltung niedrig, stabil auf 5 Prozent.«

Auf seinem Sichtdisplay erschien ein roter Balken mit weißer Schrift, die dieselbe Nachricht enthielt.

Danke, dachte Richter. Eine solche aufmunternde Nachricht habe ich jetzt wirklich noch gebraucht.

Wenigstens war er auf der Tagseite von Pluratania unterwegs. Die Frage war nur: Wie lange noch? Wenn die Sonne vom Himmel verschwand, fiel die Temperatur wahrscheinlich auf unter minus 100 Grad, dann würden die Energiebänke seines Exo-Anzugs noch schneller leergesogen. Allein der Gedanke daran trieb Richter an, noch größer auszuschreiten, noch strammer zu marschieren. Er hatte keine Ahnung, wie lange es noch bis zum Einbruch der Nacht dauerte; die Sonne verbarg sich hinter einer dichten grauen Wolkendecke, und es konnte in dreißig Minuten oder in drei Stunden soweit sein, dass sie verschwand.

Verdammt, es war wirklich an der Zeit, dass er eine Station oder einen Handelsposten oder etwas in der Art fand!

*

Ein Sensor piepste auf, verstummte aber sogleich wieder.

Richter blieb sofort stehen.

Er hatte das Signal einer Sendeantenne eingefangen, und diese musste in der Nähe sein. Richter drehte sich langsam im Halbkreis, und schließlich fand er die Stelle, von der er das Signal empfing. Mit einer Abweichung von siebenundzwanzig Grad nach links setzte er seinen Marsch fort.

Das Signal ertönte nun in Intervallen und wurde beinahe mit jedem Schritt lauter. Richter atmete auf. In dem dichten Schneesturm konnte er keine zehn Schritte weit sehen, aber durch das Leitsignal konnte er sicher sein, dass er auf dem richtigen Weg war.

Er fragte sich, ob es sich um Vestige Terminal handelte, und er Wayne Madden dort antreffen würde. Der Tipp des Otaraners, der sich Nu Antem genannt hatte, konnte sich genauso gut als Ente herausstellen. Der Typ hatte nicht sehr vertrauenswürdig ausgesehen, doch da Richter zu der Zeit keine anderen Hinweise zu Wayne Maddens Aufenthaltshort mehr gehabt hatte, und er den Auftrag unbedingt abschließen wollte (schließlich warteten andere, lukrativere Aufgaben auf ihn), hatte er beschlossen, die Station aufzusuchen.

 

Natürlich konnte er nach all den Anstrengungen, die er unternommen hatte, zu Geneva Madden zurückkehren (oder ihr eine Funkmail senden) und ihr mitteilen, dass er ihren Mann nicht gefunden hatte, doch wiederum würde er sich schäbig vorkommen, wenn er nicht allen Hinweisen genau nachgegangen wäre, und Richter fühlte sich nicht gern schä…

Er stutzte und hielt inne.

Vor ihm schälten sich in ganz leichten blaugrauen Umrissen die Gebäude einer Station heraus. Es war eine große Station mit vielen Räumen, in der vielleicht auch ein hydroponischer Garten stand, ein Sender, und andere wichtige Dinge.

Er jubelte innerlich, denn er hatte es so gut wie geschafft.

Wärme wartete auf ihn, eine behagliche Koje, die man ihm gewiss nicht verwehren würde, ein paar Stunden Schlaf, natürlich eine heiße Mahlzeit … und vielleicht das Ende seiner Suche in Form von Wayne Madden.

Er war schon gespannt, welche Geschichte der Mann ihm auftischen würde.

Er legte einen Zahn zu, sodass der Schweiß ihm noch mehr ausbrach, und er durch den brodelnden Schneesturm sein Keuchen hörte.

Als er die letzten Meter zurücklegte, fiel ihm plötzlich etwas ein, das er die ganze Zeit über ausgeblendet hatte. (Warum? Weil er ein zu guter Mensch war, der von anderen nicht schlecht genug dachte? Oder, weil er einfach nur dämlich war?) Was, wenn Wayne Madden tatsächlich vor seiner Frau und den Kindern weggelaufen war? Was, wenn er sich eine Geliebte zugelegt hatte und mit ihr durchgebrannt war? Was sollte er Geneva Madden dann sagen? Tut mir leid, Madam, aber Ihr Mann, der Liebesschuft, hat Sie und Ihre Kinder sitzenlassen und liegt jetzt in den Armen einer Anderen/Jüngeren/Hübscheren (Nichtzutreffendes streichen). Ihr Schicksal kümmert ihn einen feuchten Kehricht, und Sie müssen selbst sehen, wie Sie von jetzt an zurande kommen. Hier haben Sie die Qubits zurück, die Sie mir gegeben haben, mehr kann ich nicht für Sie tun. Good bye, Madam, und noch ein schönes Leben.

Das wäre der Supergau für einen Personensucher, und es wäre ein guter Grund für Richter, Vestige Terminal gar nicht erst aufzusuchen – denn in einem solchen Fall wollte er über den Verbleib Maddens lieber gar nichts Genaues wissen. Aber da der Wind und die Kälte und der Schnee und das Eis, die fast leeren Energiebänke seines Exo-Anzugs und nicht zuletzt die Raubkreaturen hier draußen ihm keine Wahl ließen, stapfte er durch die dicke Schneeschicht die kurze Rampe hinauf, die zu einer der Eingangstüren der Station führten.

Richter glitt aus und wäre beinahe seitlich hingeschlagen. Im allerletzten Moment konnte er sich noch Abfangen und einen Sturz vermeiden. Er fluchte.

Die Rampe war mit einem Antirutschbelag behaftet, doch Eis und Schnee hatten sich daraufgelegt und bildeten eine unheilvolle Verbindung.

Er stieg noch ein paar Schritte weiter hoch, und als er nahe genug war, ortete ihn die Sensorik, und die Türflügel fuhren zischend auseinander. Das heißt, sie versuchten es, blieben jedoch auf halbem Weg zwischen Schnee und Eis stecken.

Richter half nach, indem er die Türen mit seinen Händen und Ellbogen auseinanderdrückte, und als der Spalt breit genug für ihn und den Exo-Anzug geworden war, zwängte er sich hindurch. Er machte ein paar Schritte in den Raum hinein, der ungewöhnlich dunkel war, und gab der Automatik Gelegenheit, die Türblätter wieder zusammenfahren zu lassen. Auch diesmal erledigte die Automatik ihren Job nicht vollständig, da die Türblätter am Boden Schnee und Eis zusammenschoben und verdichteten, sodass ein Spalt offenblieb, zu dem unablässig Schneeflocken hereinwirbelten, die sich auf den Boden im Innern der Station legten.

Teufel, so ein Mist!

Richter fluchte. Er schaltete die Scheinwerfer an der Vorderseite seines Exo-Anzugs an, damit er besser sah, und hatte gute fünf Minuten damit zu tun, den Schnee aus allen Türritzen zu entfernen, sodass die Türblätter richtig zusammenfahren konnten.

Endlich hatte er es geschafft. Er stand auf, reckte sich und wandte sich dem Raum zu, leuchtete ihn mit den Scheinwerfern aus. Ein paar Möbel und Gerätschaften standen herum: Eine Stehlampe, Drehstühle, eine Regalablage, ein Tischchen – Dinge, die eben in einem Empfangsraum, denn nichts anderes war dies hier, herumstanden. Doch es stand nicht wohlgeordnet und aneinandergereiht herum, sondern kreuz und quer, ein paar der Stühle waren umgekippt, und eine der Stehlampen lehnte schräg gegen eine Wand, als ob jemand dagegen gestoßen wäre (oder dagegen geschlagen hätte), und sie umgekippt wäre.

Vielleicht hatte die Putzfrau Ausgang, oder die Station war verlassen, ging es Richter als erstes durch den Kopf. Er ließ die Instrumente in seinem Anzug eine Messung durchführen und stellte fest, dass die Raumtemperatur bei 12 Grad lag, sich jedoch nach dem Schließen der Außentür weiter erhöhte. Gut. Anscheinend funktionierten die Maschinen, die die Station am Laufen hielten. Wenn dem so war, konnte er es eine Weile hier aushalten. Bis nach dem Sturm, und dann würde er einen Piloten, der mit seinem Raumschiff hier landete oder mit einem Schneemobil unterwegs war, bitten, ihn zum Raumhafen zu bringen, wo er sein eigenes Schiff abgestellt hatte.

Das heißt, falls hier überhaupt irgendwelche Raumschiffe landeten oder Schneemobile herumkurvten. Sonst würde er denselben Weg zu Fuß zurückmarschieren müssen. Aber das würde er dann nur mit ein paar Extrapowerbänken machen, damit er nicht wieder so in die Bredouille käme. Er hatte keine Lust, auf diesem Eisplaneten und für diesen bescheidenen Auftrag nochmals irgendetwas zu riskieren.

Er legte den Waffengurt mit der ZAP-9 ab, die er außen an seinem Exo-Anzug getragen hatte, und öffnete dann das Visier seines Helms. Die Luft, die er einatmete, war kühl und irgendwie abgestanden. Eine Form von Gestank war festzustellen, als ob irgendwo verwesendes Fleisch herumläge. Richter begann sich sofort unwohl zu fühlen, aber wiederum hatte er keine Wahl. Er musste hierbleiben, hier war er vor dem Sturm geschützt, also musste er diese Luft einatmen – was immer sie auch enthalten mochte.

Er schlüpfte aus dem Exo-Anzug und suchte einen Platz, an dem er ihn aufhängen konnte. In einem mannshohen Schrank fand er eine Vorrichtung dafür. Er steckte den Exo-Anzug an einen der vorhandenen Anschlüsse, sodass der aufgeladen wurde, und platzierte den Helm auf der darüberliegenden Ablage.

Er schnallte sich den Waffengurt wieder um, aber als er die ZAP zur Hand nahm, stellte er fest, dass sie völlig zugefroren war. Auch der Abzug war eingeeist, in Notfall hätte er damit nicht schießen können – und konnte es auch im Moment nicht. Verdammt! Das hätte ins Auge gehen können. Wenn ihn eine dieser Raubkreaturen angesprungen hätte, wäre er eine leichte Beute gewesen.

Jammern machte keinen Sinn, er musste einfach warten, bis die ZAP wieder aufgetaut war und Zimmertemperatur angenommen hatte. Er steckte sie ins Holster und vertraute darauf, dass die Wärme ihre Arbeit tat.

Ein letzter Blick auf die Messanzeige, die Temperatur war inzwischen auf 14 Grad gestiegen. Richter nickte zufrieden. Jetzt konnte er in der Station herumstreifen und sich ein wenig umsehen. Und sobald er irgendwo eine Koje gefunden hatte, würde er sich aufs Ohr legen. Und mit etwas Glück würde der Sturm vorüber sein, wenn er wieder aufwachte. Prächtig.

Er betrat einen der dunklen Korridore und schaltete die Taschenlampe ein, die er dem Exo-Anzug entnommen und an seinen Gurt geheftet hatte. In dieser Station fehlte es eindeutig an Licht! Gab es irgendwelche Schalter, die er umlegen konnte? Er suchte die Wände ab, fand aber nichts. Vielleicht wurde die Beleuchtung automatisch oder von einem zentralen Punkt aus gesteuert. Im ersten Fall war die Automatik vielleicht kaputt, im zweiten Fall die Zentrale nicht besetzt.

Eigentlich müssten Lichtbahnen aktiviert werden, wenn die Sensoren eine Bewegung registrierten.

Wie auch immer … Richter nahm sich vor, die Zentrale zu suchen und aller Lichter der Station einzuschalten.

Der Lichtkegel tanzte über den Korridorboden, während Richter ihm folgte. Er war müde von dem langen Marsch und wollte sich gerne ein wenig aufs Ohr hauen, doch dazu müsste er erst mal eine Unterkunft finden.

Im nächsten Moment schwirrte der Lichtkegel über zwei Beine.

Richter zuckte vor Schreck zusammen.

Da … lag jemand am Boden!

Er leuchtete die Person aus und stellte voller Entsetzen fest, dass es ein Mann war, der normale Kleidung trug, Hemd, Hose, Schuhe … doch er war völlig blutüberströmt, gestorben an einer unnatürlichen Ursache. Dieser Bursche war ermordet worden. Und der Mörder hatte ihm große Stücke Fleisch aus dem Leib gerissen. Blutlachen, Spritzer und lange Rinnsale verliefen über den Boden, aber noch schlimmer war, dass jemand in das Blut getreten war und deutliche Fußspuren hinterlassen hatte.

Ein eisiger Schauder jagte Richter über den Rücken; so eisig, dass die Kälte des Eisplaneten nichts dagegen war.

Der Mörder hatte sich an seinem Opfer zu schaffen gemacht und war dann seelenruhig fortgegangen. Wenn Richter diesen Spuren folgte, würden sie ihn zum Mörder des Mannes führen.

Und ausgerechnet jetzt war die ZAP nicht einsatzfähig.

Er umfasste die Taschenlampe einen Augenblick fester. Sie war kompakt und stoßgedämpft und würde sich als Schlagwaffe eignen, wenn es zum Äußersten käme. Doch sollte er wirklich den Spuren eines Mörders folgen?

Er überlegte.

Er war allein. Niemand auf der Station … niemand außer ihm, dem Toten und dessen Mörder. Zumindest niemand, den er gesehen hätte.

Der Tote … wer war er?

Es würde ihm nicht helfen, eine Entscheidung zu treffen, wenn er es wüsste.

Dennoch beugte er sich über ihn, wobei er sorgsam darauf achtete, nicht in das Blut zu treten, und suchte seine Taschen nach Gegenständen ab, die er bei sich führte. Er fand ein paar Qubits, ein paar Speisen- und Getränkekarten, die man an jedem Automaten einlösen konnte, und einen Schlüssel mit der Nummer 791. Nichts, was ihm einen Hinweis auf seine Identität lieferte oder ihm im Moment weiterhelfen konnte.

Sein Blick fiel wieder auf die blutigen Fußspuren … und er fasste einen Entschluss. Er würde keine Ruhe finden, bevor der diesen Kerl nicht ausgeschaltet hätte. Richter sah sich schon als nächstes Opfer des Mörders irgendwo in einem dunklen Korridor liegen. Die Alternative wäre, wieder in den Anzug zu steigen und die Station sofort zu verlassen. Aber das war natürlich ausgeschlossen. Draußen tobte der Eissturm, und er musste erst die Energiebänke aufladen.

Also musste er den Mörder zur Strecke bringen.

Er beschloss, zumindest den Spuren zu folgen, und zu schauen, wohin sie ihn führten. Mochte sein, dass sie sich irgendwo verloren, mochte sein, dass sie ihn direkt zu dem Mörder führten – jedenfalls würde er ihnen nachgehen müssen, wenn er überhaupt so etwas wie Ruhe hier finden wollte.

Er packte die Stablampe noch fester und nahm sie in Schulterhöhe, um im Notfall damit zuschlagen zu können.

Gerade wollte er sich in Bewegung setzen, als ein Geräusch ertönte.

Es klang wie das Schlurfen von Schritten.

Richter war sofort auf 180. Sein Puls jagte wie verrückt.

Wer – oder was – kam da aus einem der dunklen Korridore auf ihn zu?

Unwillkürlich fuhr seine Hand wieder zur ZAP, der vertrauten und stets zuverlässigen ZAP, die ihm schon so oft das Leben gerettet hatte – er spürte jedoch nur ihren eiskalten Griff. Verdammter Mist! Die Waffe war immer noch nicht einsatzbereit.

Richter fühlte sich plötzlich wie ein gerupftes Huhn auf dem Präsentierteller.

*

Das Grod schnaufte wild durch seine Nüstern und schüttelte sich. Es fühlte sich wohl in der Dunkelheit, in die es sich wieder zurückgezogen hatte, gleichwohl erinnerte es sich an Zeiten, die es in Helligkeit zugebracht hatte. Es waren schlimme Zeiten gewesen, in denen ihm die Augen geschmerzt hatten. Dennoch waren sie notwendig gewesen, weil sie ihm sein Überleben gesichert hatten.

Das Grod würde alles tun, was nötig war, um sein Überleben zu sichern.

Deshalb hatte es den Mann getötet.

Deshalb hatte es große Stücke Fleisch aus dem Toten gerissen

Es hatte Hunger gehabt; jetzt ist der Hunger vergangen, und das Grod war zufrieden.

Und es hatte einen Raum aufgesucht, in dem es viele Schalter und Hebel und Monitore und Kabel vorgefunden hatte. Dort hatte es dafür gesorgt, dass in den Räumen und Gängen nicht so viel Licht war. Es hatte auf den Armaturen herumgehämmert, bis die meisten Lichter ausgegangen oder die Knöpfe kaputtgegangen waren.

 

Dann war das Grod wieder in den Korridor zurückgegangen.

Nun war es in der Station unterwegs.

Es bemühte sich, die Station gut kennenzulernen. Es würde hier einige Zeit verbringen müssen, denn es hörte draußen den Sturm heulen, und solange Wind und Eis und Schnee tobten, konnte es nicht hinaus. Es würde hierbleiben müssen. Eine Zeitlang.

Dann erst, wenn sich das Tosen gelegt hatte, konnte es wieder hinausgehen.

Es schnaufte befreit durch die Nase.

Es roch deutlich, dass es hier genügend Nahrung finden würde.

Erst vor kurzem war etwas Neues hinzugekommen, etwas von draußen, das ihm auch wieder als Nahrung dienen konnte.

Das Grod hatte es nicht eilig. Es wandelte durch die Gänge und sah sich alles an, und wenn es an der Zeit war, würde es sich um das nächste Beutestück kümmern.

Doch wenn es zufällig einem dieser Wesen über den Weg lief, würde es zuschlagen.

Sein Vorteil war: Es brauchte kein frisches Fleisch. Das Fleisch konnte schon alt und verdorben sein, es würde das Grod trotzdem nähren.

Zufrieden setzte es seinen Weg durch die Station fort.

*

Richter wartete voller Anspannung, während die schlurfenden Schritte immer lauter wurden. Er leuchtete mit der Taschenlampe ins Dunkel und wusste nicht, ob das eine gute oder schlechte Idee war; vielleicht machte er damit den Mörder erst recht auf sich aufmerksam.

Langsam schälte sich eine Silhouette heraus: Ein Mann mit schmalen Schultern, einem verlotterten Caesura-Arbeiterhemd, ausgebeulten braunen Arbeitshosen und abgewetzten Stiefeln. Er war hager, unrasiert, schon über siebzig und brachte den Geruch von geschmorten Zwiebeln mit. Sein Haar war grau, ebenso die Bartstoppeln. Er besaß einen langgezogenen Gang und ließ alles schleifen und hängen: die Sohlen, die Hände, die Arme, den Kopf, das Kinn, das lange und ungeschnittene Haar. Viele Falten in seinem Gesicht, welches eine ungesunde Farbe aufwies, zeigten an, dass er in seinem Leben karge Zeiten mit Mangelernährung durchgemacht hatte.

»Howdy, Stranger!«, sagte er.

Auch seine Stimme klang schleppend, und als er die Hand zum Gruß hob, wirkte sie kraftlos, und auch als Richter ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, schien ihn das nicht zu stören.

Richter blieb angespannt. Es konnte eine Masche des Mörders sein, sich als harmlosen alten Kauz auszugeben, und dann, wenn sein Gegenüber unachtsam war, unvermittelt zuzuschlagen.

»Das haben Sie richtig erkannt«, sagte er, »ich bin ein Fremder auf der Station. Dies ist doch Vestige Terminal, oder?«

Der alte Arbeiter nickte. »Vestige. So heißt der Ort hier.«

»Sind Sie von hier? Arbeiten Sie hier?«

»Äh, ja. Klar. Warum wäre ich sonst hier?«

»Wie heißen Sie?«

»Jetzt reicht’s aber, Jungchen!« Der Alte wurde plötzlich wild. »Warum fragst du mich so unverschämt aus? Du bist hier der Fremde. Stell dich lieber selbst erst mal vor.«

Richter ließ den Lichtkegel weiterwandern, bis er auf die Beine des Toten traf.

»Deswegen frage ich.«

»Hölle und Verdammnis! Was ist das?«

»Ein Toter. Der Mann wurde Opfer eines Mordes.«

Der Alte prallte zurück. Seine blutunterlaufenen Augen waren plötzlich groß wie 5-Qubit-Stücke, und er hob die Hände in einer Abwehrbewegung.

»Bleib mir bloß vom Leib, Jungchen!«, sagte er mit Nachdruck.

Richter schluckte.

»Sie glauben … ich bin sein Mörder?«

»Ich sagte, bleib mir vom Leib!«

Der Alte wich noch einen Schritt zurück.

Richter versuchte, so ungefährlich wie möglich zu wirken.

»Ich war’s nicht«, sagte er. Plötzlich klang seine Stimme krächzend. Ihm war der Gedanke bisher noch gar nicht gekommen, dass man ihn auch für den Mörder halten könnte.

»Nein, schauen Sie sich das an, Mister.« Er ließ den Kegel der Taschenlampe über den Fußboden gleiten. »Hier sehen Sie, dass der Mörder ins Blut getreten ist, und dort führen die Fußspuren den Gang entlang. Er ist dort hinab gelaufen.«

Dann glitt der Kegel auf Richters Schuhe.

»Und wie Sie hier sehen, habe ich kein Blut an meinen Stiefeln.«

»Kein Blut? Lass mal sehen.«

Der Alte beugte sich vor, um die Sohlen und das Leder genau in Augenschein zu nehmen. Dazu kam er ziemlich nahe heran – wahrscheinlich war sein Augenlicht nicht mehr das beste –; so nahe, dass Richter ihn leicht hätte überraschen und überwältigen können – wenn er denn der Mörder gewesen wäre.

»Hmm«, sagte der Mann und wich wieder zurück. »Hast recht. Kein Blut an den Schuhen. Warst wohl doch nicht der Killer.«

»Ich war’s ganz bestimmt nicht, Mister. Bin erst vor ein paar Minuten auf die Station gekommen. Mein Anzug hängt draußen in einem Schrank, und meine Kanone ist immer noch eingefroren. Aber um ganz sicher zu sein, Mister: Darf ich einen Blick auf Ihre Schuhe werfen?«

Der Alte dachte kurz nach und sagte dann:

»Klar. Wirf einen Blick. Aber das kannst du von dort drüben tun, okay?«

»Okay.«

Richter leuchtete die Schuhe des Mannes ab, und besah sich auch die Sohlen. Auch hier kein Blut.

»Bin ich unschuldig?«, sagte der Alte.

»Unschuldig«, attestierte Richter. »Also, ich bin Owen Richter, bin hier im Auftrag unterwegs. Wenn ich den Mann gefunden habe, den ich suche, bin ich auch schon wieder weg. Habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. Und Sie, Mister?«

»Weil du so brav warst, will ich dir auch meinen Namen nennen, Jungchen. Holzbauer, Oscar Holzbauer und lebe sozusagen auf Vestige. Seit inzwischen elf Jahren bin ich hier zuständig für allerlei Verrichtungen. Zum Beispiel, dass die Abluftrohre immer frei sind, oder wir nicht total eingeschneit werden. Dafür bekomme ich ’ne Koje, was zu Fressen und ’n Ort zum Kacken. Was will ich mehr? Ist ’n Knochenjob, also genau das Richtige für mich; ich besteh’ ja nur noch aus Haut und Knochen, hahaha. Also, Jungchen, wen suchst du denn?«

»Einen Burschen namens Wayne Madden.«

»Was ist mit dem?«

»Seine Frau hat ihn als vermisst gemeldet, aber es könnte auch sein, dass er mit einer anderen abgehauen ist. Man weiß es nicht genau, aber ich soll es herausfinden.«

»Und du meinst, dieser Typ ist hier auf der Station?«

»Kann sein. Hoffe ich jedenfalls. Ich bin einem Hinweis gefolgt. Wenn er nicht hier ist, weiß ich nicht, wo er noch sein könnte. Sie haben hier nicht zufällig einen getroffen, der so heißt?«

»Leute kommen und gehen. Hier bleibt keiner gerne länger. Aber ich weiß was. Wir können in der Datenbank der Station nachsehen, ob er hier angemeldet ist. Jeder, der hier eincheckt, wird dort registriert. Wenn er nur geschissen und was gefressen hat, dann nicht, aber wenn er ein Zimmer genommen und hier übernachtet hat, stehen die Chancen gut, dass du ihn in der Datenbank findest.«

»Das wäre prächtig. Können Sie mich zu der Datenbank führen?«

»Klaro. Ist keine fünf Minuten von hier.« Er deutete auf die Leiche. »Aber was machen wir mit dem da?«

»Keine Ahnung. Ich denke, wir lassen ihn erst mal liegen.«

»Der wird nicht besser, je länger er da liegt.«

»Ja, aber wo sollen wir ihn hinbringen?«

»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder schmeißen wir ihn raus ins Eis, dort ist er gut aufgehoben. Oder … wir haben noch den großen Verbrennungsofen.«

Richter erschauderte. Was auch immer mit dem Toten geschehen würde, er wollte es eigentlich gar nicht wissen.

»Vielleicht sollten wir ihn wirklich noch ein bisschen liegenlassen. Auf eine halbe Stunde kommt es nicht an. Und ich denke, über kurz oder lang sollten wir den blutigen Fußabdrücken folgen. Wir können den Mörder nicht einfach so auf der Station herumlaufen lassen. Sind eigentlich viele Leute hier?«

»Ein paar sind schon noch da. Weiß nicht genau. Können wir in der Datenbank checken. Außer denen, die nur zum Scheißen und…«

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