Litersum

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From the series: Litersum #2
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»Danke.«

»Die Mädchen«, fuhr Lauren fort und knibbelte an ihrem Pullover. »Du weißt wirklich nicht, wie sie wieder im Litersum gelandet sind? Hast du vielleicht doch weitere Termine vereinbart, ohne es mir zu sagen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn sie noch einmal in das Litersum gegangen sind, dann nicht mit mir.«

»Du solltest dich kurz hinlegen. Du siehst ganz blass aus.«

Mir blieb noch gut eine Stunde bis zu meiner Schicht im Diner. Eigentlich hatte ich sie für ein paar Auftragsarbeiten nutzen wollen. In diesem Zustand würde aber ohnehin nur Mist dabei herauskommen. Ich trank den Tee leer und umarmte Lauren zum Abschied, was sie fast so sehr überraschte wie mich, denn sie versteifte sich kurz, bevor sie auch mich an sich drückte. Als ich mich noch mal umdrehte, ertappte ich sie dabei, wie sie mir mit gerunzelter Stirn hinterhersah. Als müsste sie darüber nachdenken, ob sie mir glauben sollte oder nicht.


In der Wohnung führte mein erster Weg zum Kühlschrank. Eine eiskalte Cola würde mich munter machen. Mit den Fingern auf die Dose tippend stand ich in der Küche. Der Kühlschrank brummte und blubberte.

Was jetzt?

Die Idee mit den Pop-up-Buchwelten war gestorben. Wie sollte ich diesen Ausfall ausgleichen? Noch ein Nebenjob? Einen so flexiblen, wie ich ihn brauchte, würde ich so schnell nicht finden. Mehr Auftragsarbeiten? Möglich, aber dazu müssten erst mal mehr Anfragen reinkommen. Erst vor Kurzem hatte ich etwas Geld in die Hand genommen und ein paar Werbeanzeigen geschaltet, deren Effekt aber noch auf sich warten ließ. Ich hatte mir das mit dem Grafikdesign in den letzten Monaten, nachdem ich Thor gekauft hatte, selbst anhand von Tutorials beigebracht und hoffte, dass es in Zukunft für einen guten Zuverdienst reichte. Ich fand mich recht gut und meine Kunden waren bisher auch zufrieden. Die Chancen standen nicht schlecht. Hoffte ich.

Ich überschlug kurz mein Erspartes und das Gehalt, das ich diesen Monat noch erhielt. Es würde mich zwei Monate über Wasser halten, bevor ich in Schwierigkeiten kam. Besser als nichts. Ich trank die Cola leer und erweckte Thor zum Leben. Mein erster Impuls wollte mich dazu antreiben, nach Stellenausschreibungen zu suchen. Doch die beiden Mädchen spukten mir im Kopf herum. Traf letzten Endes doch mich die Schuld daran, dass sie im Litersum gestrandet waren? Immerhin war ich es, die sie damit in Berührung gebracht hatte. Und möglicherweise auch mit etwas, was ihnen eine Rückkehr auf eigene Faust ermöglichte? Oder waren sie anderen Bureal-Kindern begegnet und zusammen mit ihnen ins Litersum zurückgekehrt?

Ich rief das Forum Literabookish auf, das ich als Werbeplattform für die Ausflüge ins Litersum und meine Auftragsarbeiten nutzte, und durchforstete dort die Kommentare unter meinen Beiträgen. Ich ging mehrere Wochen zurück und las mir die zahlreichen Einträge der Leser und Blogger durch, durchwühlte alles. Es gab viele Kommentare dazu, wie schön die Erfahrung in der Welt von River gewesen sei, einige lobende Stimmen über die Charaktere und so weiter. Ich fand sogar einen Eintrag einer der beiden Bloggerinnen, die man ein paar Tage später verwirrt aufgefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt, einen Tag nach dem Besuch in der angeblichen Pop-up-Welt, schien sie noch bei allen Sinnen gewesen zu sein, zumindest las sich die Schilderung ihrer Perspektive so.

Ich scrollte weiter. Meine Augen schmerzten, ich musste das Bedürfnis unterdrücken, mir ständig mit den Fingern über das Gesicht zu fahren. Vielleicht sollte ich wirklich etwas schlafen. Träge blinzelnd las ich mich durch alle Beiträge, bis ich bei jenen ankam, die nach dem Ausflug gestern gepostet worden waren.

Lobende Stimmen, Diskussionen über River, Fragen nach dem nächsten Termin. Alle dreizehn Teilnehmer hatten etwas geschrieben. Also waren auch gestern alle wieder mit in die echte Welt gekommen. Wie immer. Seufzend lehnte ich mich zurück in die Sofakissen und schloss kurz die Augen.


Mit einem Zucken fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Meine Augen brannten noch schlimmer, in meinem Hals steckte ein dicker Kloß. Ich befeuchtete meine Lippen, die sich ganz trocken anfühlten. Verdammt, wie spät war es? Ich strich mit den Fingern über das Touchpad des Laptops und er leuchtete auf. Es blieben mir zwanzig Minuten, um mich für die Arbeit im Diner fertig zu machen. Gerade noch genug Zeit.

Rechts unten am Bildschirm blinkte eine Benachrichtigung. Jemand hatte einen neuen Kommentar unter meinem Beitrag im Forum gepostet. Ich klickte darauf und das Browserfenster öffnete sich. Der Eintrag stammte von einer der Teilnehmerinnen gestern und bezog sich auf ihre Freundin, die ebenfalls mit in Rivers Welt gewesen war.

Mir stockte der Atem.

Bookish Wednesday: Hat jemand seit heute Morgen was von Anna von Your & My Books gehört? Wir waren zum Frühstück verabredet, aber sie ist nicht aufgetaucht. Sie ist nicht zu Hause, geht nicht an ihr Handy und reagiert nicht auf Nachrichten. Mache mir Sorgen, denn das ist nicht ihre Art.

Nein.

Das musste ein schlechter Scherz sein.

Mein Herz drohte mir aus der Brust zu springen. Konnte es sein … war noch eine der Bloggerinnen verschwunden? Ich klappte den Laptop zu. Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Wenn die Mädchen nach dem Ausflug in das Litersum verschwanden, war das nicht meine Sorge. Sie alle waren erwachsen und für sich selbst verantwortlich. Ich hatte nichts damit zu tun. Es war nicht meine Aufgabe, mich darum zu kümmern.

Ich erhob mich, schnappte mir eine Cola und trank sie auf dem Weg ins Bad leer. Eine schnelle Dusche würde meine schmerzenden Muskeln lockern und mich auf andere Gedanken bringen.

Falsch gedacht. Der Kommentar ging mir noch immer nicht aus dem Kopf, als ich umgezogen und für die Arbeit fertig in meiner Wohnung stand. Das würde sicher eine total entspannte Schicht im Diner werden.

Ich band meine Schuhe zu, schnappte mir den Hausschlüssel und öffnete die Tür.

Im Zurücklassen war deine Familie schon immer gut, flüsterte mir eine innere Stimme zu. Meine Stimme. Die einer jüngeren Version von mir. Ich hielt inne. Wenn ich jetzt einfach weitermachte, mich nicht für das Schicksal der jungen Frau interessierte, war ich nicht besser als meine Schwester Jamie. Auch sie war gegangen, ohne sich umzudrehen. Hatte die Verantwortung für mich abgestreift und mich allein bei unserer Rabenmutter gelassen. Das würde ich ihr nie verzeihen. Und mir? Würde ich mir vergeben, wenn ich mich nun genauso verhielt wie sie?

Und wenn es die Taskforce herausfand, würden sie früher oder später wieder vor meiner Tür stehen, und wie ich mich dann guten Gewissens rausreden sollte … Georges Warnung klingelte mir in den Ohren. Besser, ich kam ihnen zuvor.

Ich schloss die Tür und setzte mich an den Laptop zurück. Erneut scrollte ich mich durch die Kommentare. Niemand hatte etwas von der Bloggerin gehört, sie war nach wie vor verschwunden. Würde sie wie die anderen im Litersum auftauchen? Aber wie war das möglich? Egal warum, es war Eile angesagt. Denn wenn es ihr erging wie den anderen, würde man sie ohne Gedächtnis wiederfinden. Vielleicht konnte man das verhindern, wenn man sie früher in die echte Welt zurückholte.

Stöhnend dachte ich an den nächsten notwendigen Schritt. Der Gang zu Noah Carver und George Farley war unausweichlich. Blieb nur zu hoffen, dass sie mich nicht direkt vor Ort verhaften würden … sofern sie die Befugnis dazu hatten. Ich würde ohnehin zu spät zu meiner Schicht im Diner kommen, aber lieber so als gar nicht. Oder sollte ich erst danach zu ihnen gehen? Nein, dann konnte es für das Mädchen schon zu spät sein.

Ich wählte die Nummer des Diners. Nach zweimaligem Klingeln nahm jemand ab.

»Heartbreak Hotel Diner, Sophia am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hey, hier ist Riley. Ich verspäte mich etwas. Kannst du mich bei Clint entschuldigen? Ich komme nach, so schnell ich kann.« Stille am anderen Ende. Dann ein Rascheln und endlich wieder Sophias Stimme.

»Geht es dir nicht gut, Riley? Du bist nie zu spät.«

»Es ist alles in Ordnung. Ich muss nur noch schnell etwas wirklich Wichtiges erledigen.«

»Okay. Aber beeil dich. Clint ist heute nicht gut drauf. Und es sind viele Gäste da.«

»Geht klar. Danke!«

Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Aber ich wusste, ich würde keine Ruhe finden, wenn ich jetzt zur Arbeit ging. Eins nach dem anderen. Mit einer frischen Dose Cola bewaffnet machte ich mich auf den Weg zum Knotenpunkt.

Kapitel Drei


Die Schönheit des Knotenpunkts war wie immer atemberaubend. Das Kommen und Gehen der Charaktere, das Auf- und Zuschlagen der Türen, gepaart mit dem Geruch von Papier und den schillernden Farben der unzähligen Buchläden, kreierten eine Atmosphäre des Aufbruchs, aber auch des Heimkehrens. Alles hier war stets im Wandel wie das Litersum selbst und doch beständig. Im letzten halben Jahr hatte sich einiges verändert. Mnemosyne hatte als Reaktion auf die Vorkommnisse in der Buchwelt Stage of Death Magie angewandt und dem Litersum eine Art Upgrade verpasst sowie das Gebäude der Taskforce erschaffen und die Akademie ausgebaut. Aber nicht nur das: Jede Magie, die außerhalb ihrer Heimat-Buchwelt ausgeübt wurde, verschob das Gleichgewicht im Litersum ein wenig und sorgte für Veränderungen, wenn es sich wieder einpendelte. Zu viel, und es würde unwiderruflich kippen. Deswegen war das Wirken von Zaubern abseits ihrer Geschichten allen Charakteren verboten oder nur unter Auflagen möglich. Mnemosyne selbst hatte bewusst dagegen verstoßen und es blieb abzuwarten, welche Folgen ihr Handeln haben würde. Von alldem bekam ich abseits der Erzählungen beim Stammtisch nichts mit, weil es mein restliches Leben kaum tangierte.

 

Doch jedes Mal, wenn ich mich in den riesigen Hallen wiederfand, erhaschte ich einen Eindruck davon, wie groß und unbegreiflich diese magische Welt, dieses Universum war. Im Vergleich dazu war ich nur ein unbedeutender Wimpernschlag. Ich lockerte die Schultern und suchte das Gebäude der Taskforce. Wie angekündigt, befand sich der Hauptsitz direkt neben der Agentur. Der gotische Bau, dessen Fassade an eine Kirche erinnerte, wirkte alt und so, als hätte er schon immer an genau dieser Stelle gestanden. Aber er war ganz neu, eine Kreation von Mnemosyne und ihren Töchtern, den Musen, die innerhalb der Grenzen des Litersums Neues zu erschaffen vermochten.

Sogar den Geruch nach altem, nassem Stein hatten sie imitiert. Er zog mir in die Nase, als ich die scheinbar in die Jahre gekommene Holztür öffnete und das Foyer betrat. Das Innere mutete auf den ersten Blick ebenfalls wie eine Kirche an. Unter den gebogenen hohen Decken beherbergte das Gebäude allerdings ein modernes Großraumbüro, das vom vorderen Teil lediglich durch einen Wartebereich und eine Theke getrennt wurde. Sanft leuchtende Lampen hingen an endlos scheinenden Kabeln von der Decke herunter und erhellten die Tische aus dunklem Holz und den Boden aus poliertem Marmor. Ein paar Umzugskartons standen hier und da herum, Zeugen des jungen Alters der Einrichtung. In der Luft lag der Duft von Kaffee, altem Gemäuer und Leder. Im Gegensatz zur Haupthalle herrschte hier eine angenehme Ruhe. Nur vereinzelt saßen Frauen und Männer an den Tischen oder räumten Kisten aus.

Ich trat an den Empfang und nur wenige Augenblicke später kam eine junge Frau zu mir herüber. Sie fasste sich die blonden Haare im Gehen zu einem Zopf zusammen und zupfte ihr Shirt zurecht.

»Hallo. Wie kann ich Ihnen helfen?« Ihren Augen nach zu urteilen, war sie ein Buchcharakter. Sie lehnte die Arme locker auf den Tisch, das Leder ihrer schwarzen Jacke knarzte.

»Hi. Ich bin auf der Suche nach Noah Carver und George Farley. Sie meinten, ich solle mich melden, wenn ich noch Hinweise zu einem Fall habe.«

»Kleinen Moment.« Die Frau stieß sich vom Tresen ab und ging zum hinteren Ende des Raumes. An einem der Arbeitsplätze verharrte sie. Ihre Worte waren nicht zu verstehen, doch wenig später tauchte ein Kopf unter dem Schreibtisch hervor. Dem dunkelbraunen Haarschopf nach zu urteilen, handelte es sich dabei um Noah. Er richtete sich auf und folgte der jungen Frau nach vorne, die ihn in meine Richtung wies. Zwei Tischreihen vorher bog sie ab. Noah musterte mich erst skeptisch, dann aufmerksam, als er auf mich zukam. Heute trug er nur ein dunkles Langarmshirt, die Lederjacke war nirgends zu sehen. So gefiel er mir besser, irgendwie nahbarer.

»Was machst du hier?« Er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich glaube, dass eine weitere Bloggerin verschwunden ist«, murmelte ich.

Noahs Gesichtszüge entglitten ihm. »Wieso das?«

»Ich habe einen Kommentar im Forum gefunden, der mir nicht geheuer ist.«

»Komm mit«, befahl er mir.

Ich ging um die Theke herum und folgte ihm durch das Büro. Unterwegs schnappte er sich einen Schreibtischstuhl von einem anderen Tisch und rollte ihn neben seinen eigenen. Mit der Hand wies er mich an, Platz zu nehmen.

»Was genau ist passiert?« Er tippte ein Passwort auf die Tastatur und der Computer erwachte aus dem Ruhezustand. Nur teure Technik stand hier herum, das Neueste vom Neuesten. Oder eben das Beste, was man mit mächtiger, alter Musen- und Göttermagie zu zaubern vermochte. Wenn ich doch nur auch Dinge auf diese Weise erschaffen könnte … Fast all meine Probleme würden sich in Sekundenbruchteilen in Luft auflösen.

»Riley?« Noah wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum und schreckte mich auf.

»Sorry. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ruf mal das Forum Literabookish auf. Und such nach Einträgen von meinem Pseudonym.«

Noah machte sich ans Werk. Er ließ die Finger über die Tastatur fliegen und vertippte sich nicht ein Mal. Seine Hände gefielen mir …

»Hier?« Auf dem Bildschirm prangte die braun-graue Benutzeroberfläche des Forums.

»Ja.« Ich beugte mich ein Stück nach vorne und zeigte auf den entsprechenden Eintrag. Dabei stieg mir der Geruch von Zitrone und einem Männerdeo in die Nase. Noah roch wirklich gut. Ich räusperte mich und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Ein paar Klicks und etwas Scrollen später war der Beitrag von Bookish Wednesday zu sehen, den ich heute Morgen entdeckt hatte. Mittlerweile waren danach noch ein paar Kommentare dazugekommen. Alle hatten denselben Inhalt. Niemand hatte etwas von Anna gehört, seit sich die Wege der Bloggerinnen nach dem Termin getrennt hatten. Aber ihren Berichten zufolge war sie wieder mit in die echte Welt zurückgekehrt. Ihre Freundinnen hatten sich noch von ihr verabschiedet, sie also mit eigenen Augen gesehen.

»Und du hast keine Ahnung, was danach passiert sein könnte?«, wollte Noah von mir wissen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und musterte mich aufmerksam.

»Nein.«

»Du siehst aber ein, dass das kein gutes Licht auf dich wirft, oder? Drei illegale Abstecher ins Litersum, drei Mal verschwindet kurz darauf eine junge Frau.«

»Ich mag eine Regelbrecherin sein, aber dumm oder ignorant bin ich nicht«, erwiderte ich. Ich war mir der prekären Lage durchaus bewusst, das ungute Gefühl im Magen war ein eindeutiges Indiz dafür.

Noahs Blick ruhte auf mir, er fuhr jeden Zentimeter meines Gesichtes nach, als wollte er sich jeden Zug, jede Sommersprosse merken und alle meine Reaktionen genauestens unter die Lupe nehmen. Ich richtete mich auf, da mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit unangenehm war. Er räusperte sich.

»Ist dir während eures Aufenthaltes dort etwas Verdächtiges aufgefallen? Hat dieses Mädchen mit einem der Charaktere geredet? Hat sie etwas mitgehen lassen?«

»Soweit ich das beurteilen kann, hat sie sich nicht anders verhalten als der Rest der Gruppe. Ich kann mich nicht an sie direkt erinnern, aber mir ist niemand negativ aufgefallen. Keiner hat nervös gewirkt oder wollte besonders schnell wieder gehen.«

»Und da bist du dir zu einhundert Prozent sicher?« Noah legte den Kopf schief. In seiner Frage schwang ein Hauch Skepsis mit, über den auch sein einfühlsamer Blick nicht hinwegtäuschen konnte.

Noch nie hatte ich an meinen Beobachtungen gezweifelt. Ich hatte mich immer für einen aufmerksamen Menschen gehalten. Zumindest bisher. Aber was, wenn die langen Tage und Nächte nun ihren Tribut forderten und mich nachlässig machten? Bröckelte meine Zuverlässigkeit?

Ich schwieg und das war Antwort genug. Noah presste die Lippen aufeinander und seine Kiefermuskeln zuckten. Ich schluckte schwer. »Es tut mir leid. Ich kann mir das wirklich nicht erklären«, schob ich hinterher.

Er drehte den Kopf zu mir, ich wich seinem Blick aus. Dass er mir nicht glaubte, wusste ich auch so. Ein paar Sekunden war es still zwischen uns und ich traute mich nicht, noch etwas zu sagen. Als ich gerade aufstehen und gehen wollte, meldete sich Noah zu Wort.

»Wieso bringst du überhaupt Menschen in das Litersum, wo es doch verboten ist?«, fragte er und wandte sich wieder dem Forum zu.

»Weil ich das Geld brauche.«

»Kannst du dir nicht einen richtigen Job suchen?«

»Mensch, dass ich da nicht von selbst draufgekommen bin«, pampte ich zurück. »Ich gebe meine anderen drei Jobs einfach ganz schnell auf und lüge mir eine Ausbildung zusammen, dann ist das bestimmt ein Klacks.«

Noah hielt im Scrollen inne und musterte mich von der Seite. Als ich seinen Blick erneut auf mir spürte, stieg mir vor Scham Hitze in die Wangen. Er wusste es ja nicht besser, ich hätte ihn nicht so anfahren dürfen.

»Tu…«

»Tut mir leid«, sagte er, bevor ich es konnte. »Ich … Das geht mich nichts an.«

Ich senkte den Kopf, noch immer unfähig, ihm in die Augen zu sehen.

Noah rief den Blog des verschwundenen Mädchens Anna auf. »Ich möchte mich auch für mein Verhalten in der Buchhandlung entschuldigen, als ich meine schlechte Laune an dir ausgelassen habe. Das war falsch.«

Ich nickte langsam. Das hätte ich nicht erwartet. Noah tippte etwas ein und rief eine Seite auf der Homepage auf. Er notierte sich ihre Adresse aus dem Impressum und fand ein aktuelles Selfie von ihr. »Ist sie das?«

»Ja.« Strahlend blaue Augen blickten uns entgegen. Ihr Lächeln war ansteckend. Mein Magen zog sich zusammen und ich packte die Armlehnen des Schreibtischstuhls fester. Warum nur war sie verschwunden? Und hatte ich etwas damit zu tun? Brummend spuckte der Drucker das Foto des Mädchens ein paar Mal aus und Noah überreichte mir eine Kopie.

»Damit werden wir rumgehen und uns erkundigen, ob jemand sie gesehen hat«, erklärte Noah.

»Okay.« Das war es dann wohl. Mehr konnte ich nicht tun. Oder? Ein Blick auf die Uhr und mein schlechtes Gewissen verdreifachte sich. Ich würde so verdammt viel zu spät kommen. Seufzend sackte ich im Stuhl zusammen, wollte nur noch einen Moment durchatmen, bevor ich mich wieder der echten Welt stellte. Hoffentlich vergaß Clint nicht, dass ich sonst … Moment. Das Gedächtnis. Ich richtete mich auf. »Wieso bitten wir Mnemosyne nicht um Hilfe? Sie könnte in den Erinnerungen der verschwundenen und dann wieder aufgetauchten Mädchen lesen und rausfinden, was ihnen passiert ist, oder?«

Noahs Augen blitzten auf. Eine Hand ans Kinn gelegt, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Keine schlechte Idee. Im Fall von Malou hat sie auch die Erinnerungen der Londoner Polizei manipuliert. Vielleicht kann sie …«

»Nein«, schaltete sich eine weitere Stimme ein. George trat an den Tisch. Er lächelte mir freundlich zu, als wäre es total normal, dass ich hier war. »Eine schöne Idee, aber nicht umsetzbar. Mnemosyne ist aktuell nicht in der Lage, das zu tun. Außerdem ist diese Taskforce gegründet worden, um ihr Arbeit abzunehmen, nicht, um ihr noch mehr zu beschaffen.«

»Was hindert sie daran?«, hakte ich nach.

George lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Jede Magie hat ihren Preis, auch die einer fiktiven Göttin. Sie hat sich mit dem Bau der Taskforce, dem Ausbau des Knotenpunktes sowie der Zwischenweltsbibliotheken und der Akademie verausgabt und muss in ihrer Welt erst wieder zu Kräften kommen. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie Magie wirken kann. Solange sind wir dran.« Er lächelte stolz. »Was machst du eigentlich hier, Riley?«

Ich wiederholte, was ich zuvor schon Noah erzählt hatte. George hörte aufmerksam zu und stellte ab und an ein paar Zwischenfragen. »Es ist nett, dass du gleich vorbeigekommen bist.«

»Ich würde wirklich gern mehr tun, wenn ich könnte.«

Er zuckte mit den Schultern. »Solange du nicht weißt, wo das Mädchen ist, sehe ich da aktuell keine Möglichkeit.«

»Können wir denn nichts anderes tun, um festzustellen, wo sie sich aufhält, als herumzufragen und zu warten? Wer weiß, was in der Zwischenzeit mit ihr passiert.«

»Nicht dass ich wüsste.«

Der kleine Funken Hoffnung, der bei der Idee mit Mnemosyne in mir erwacht war, erlosch. Zähneknirschend stemmte ich mich aus dem Stuhl und wandte mich an Noah, um mich zu verabschieden. Doch der Erfinder beachtete mich gar nicht. Seine Augen waren zusammengekniffen, der Mund stand leicht offen. Seine Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Schmunzelnd betrachtete ich ihn. Das sah irgendwie süß aus. George räusperte sich und ich schrak zusammen.

»Spuck es aus, Carver.«

Noah nickte abwesend. Er zog die Tastatur zu sich und tippte etwas ein. Ich sank zurück auf den Stuhl und rutschte näher an ihn heran.

»Was tust du?«, fragte ich. Seine Augen richteten sich auf mich. Sie wurden eine Sekunde groß, als wäre er überrascht darüber, dass ich noch da war.

»Was weißt du über die Auren?«, wollte er wissen.

»Was für Auren? Ah, meinst du die, die im Knotenpunkt gescannt werden? Wenn ja, dann war das auch schon alles.«

 

»Fangen wir also bei null an«, sagte er, diesmal ohne tadelnden Unterton.

George kam um den Tisch herum und blieb hinter uns stehen. »Du meinst, du kannst sie darüber lokalisieren?«

»Vielleicht«, antwortete Noah. Er drehte sich zu mir. »Jeder Buchcharakter besitzt eine individuelle Aura. Man kann sie nicht sehen, aber sie ist da. Im Litersum dient sie als Ausweis. Damit kann ein Charakter Genehmigungen und Tickets für einen Besuch in einer anderen Welt, echt oder fiktiv, beantragen. Scanner an den Türen zentraler Stellen wie dem Knotenpunkt, den ZwiBis, einigen wichtigen Buchwelten und Orten in der realen Welt lesen diese Aura außerdem aus. Nach dem Vorfall vor einem halben Jahr hat sich Mnemosyne dazu entschlossen, diese Scanner an jeder Tür in jeder Welt anzubringen, von der aus man Zugang in andere Bereiche des Litersums und unseres Universums hat, also alle Buchläden und Bibliotheken, beispielsweise auch an der von Books by Bea. So lässt sich der Weg eines jeden Einzelnen genau nachverfolgen. Bureal-Kinder sind davon ausgenommen, denn unsere Aura entspringt beiden Welten und kann nach wie vor nicht ausgelesen werden. Das schafft selbst Mnemosyne nicht. Warum auch immer, aber etwas an uns entzieht sich sogar ihrer Kontrolle.«

»Und wie ist das bei Menschen?«

»Genau das ist der Knackpunkt. Ich weiß es nicht. In den Vorlesungen an der Akademie hat man uns beigebracht, dass Menschen entweder keine haben, weil es in ihrer Welt nichts Magisches gibt, oder aber sie nicht messbar sind. Nach allem, was in der letzten Zeit passiert ist, weiß ich jedoch nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht hat sich durch die Eingriffe von Mnemosyne auch hier etwas geändert.« Noah gab ein paar Dinge in ein kryptisch aussehendes Programm ein, das als Antwort eine kurze Liste ausspuckte. »Das sind die Aurenscanner-Daten der Tür von Books by Bea. Wie man sieht, wurde Georges Besuch gestern aufgezeichnet, meiner nicht, weil der Scanner mich nicht erfassen kann. Außerdem wurden einige Übertritte anderer Buchcharaktere registriert, sonst aber nichts. Du tauchst nicht auf und auch deine Blogger nicht. Offensichtlich sind die Scanner noch nicht in der Lage, menschliche Auren zu scannen, sofern diese überhaupt eine haben. Das Mädchen über diesen Weg zu finden, können wir also vergessen.«

Noah schob die Tastatur von sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Arme vor der Brust verschränkt.

George legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid. War aber eine gute Idee.«

»Ich hatte schon bessere.«

»Wie habt ihr denn die anderen Mädchen aufgespürt?«, fragte ich.

George war es, der mir antwortete. »Wir gar nicht. Man hat uns gerufen, nachdem ein paar Buchcharaktere sie fanden. Auch wir wissen um die Besonderheit der Augen und dass sich unsere von denen der Menschen unterscheiden. Spiegel der Seele und so … Und bei diesen Mädchen war ganz klar zu erkennen, dass sie nicht hierhergehörten. Vom Äußeren her, dafür steckte zu viel Leben in ihren Augen, und aufgrund der Tatsache, dass sie keine Ahnung hatten, was das Litersum ist. Bureal-Kinder konnten es also auch nicht sein.«

Unwillkürlich huschte mein Blick zu Noah. Zu seinen Augen. Verdammt, ich war wie besessen von ihnen. Ich brauchte dringend Zucker, der würde mich sicherlich wieder auf die richtige Bahn lenken.

»Hättet ihr was zu trinken für mich? Eine Cola vielleicht?«

»Kommt sofort.« George drehte sich um und entfernte sich von uns.

»Danke!« Ich tippte mit den Fingern auf der Stuhllehne. »Mal angenommen, es wäre möglich, eine menschliche Aura im Litersum aufzuspüren. Dann könnten wir doch aktiv nach dem Mädchen suchen gehen, oder?«

»Wir?«, fragte Noah und richtete sich auf.

»Wir im Sinne von ihr. Angehörige des Litersums.«

Er runzelte die Stirn. Seine Nase zog sich kraus, während er über meine Worte nachdachte. »Ja. Ja, es wäre möglich, das Mädchen so zu finden. Je nachdem, wie sensitiv und reichweitenstark das System ist, mit dem man die Spur der Aura verfolgt. Allerdings wäre Mnemosyne die Einzige, die das einrichten könnte, und sie steht nicht zur Verfügung.«

»Mhm.«

In dem Moment kam George mit einer Cola zurück. Mein Magen grummelte, kurz bevor ich sie ihm abnahm, der Deckel zischend nachgab und ich sie beim ersten Ansetzen halb leer trank. Oh ja, das hatte ich gebraucht. Zufrieden und laut seufzend stellte ich die Dose auf dem Schreibtisch ab. Die Gesichtsausdrücke von George und Noah schwankten zwischen Unglauben, Belustigung und peinlicher Berührtheit.

»Ein Laster muss der Mensch haben«, erwiderte ich.

»Je ungesünder, desto besser?«, wollte Noah wissen.

Sein Kollege stieß ihm gegen den Arm. »Lass sie. Sie ist alt genug. Außerdem hast du mit deinen …«

»Danke, George, das reicht.« Noah wedelte mit den Händen, und George verstummte, ein Schmunzeln auf den Lippen. Nein, ich war jetzt gar nicht neugierig geworden.

Schnell trank ich auch noch die andere Hälfte der Cola aus, bevor mir die beiden den Spaß daran verderben konnten. Dabei kreisten meine Gedanken um Auren, Scanner und verlorene Menschen …

»Sagt mal, wie findet ihr einen Buchcharakter, wenn er in der echten Welt verloren geht? Ich weiß, dass sie nach einiger Zeit von selbst in das Litersum zurückgezogen werden. Aber angenommen, jemand müsste frühzeitig zurückgeholt werden. Wie spürt ihr ihn auf?«

»Noch gar nicht«, antwortete Noah. »Dafür gibt es aktuell keine Lösung, diese ist aber in Arbeit und …«

George beugte sich zu mir herunter und deutete mit dem Finger auf Noah. »Schau genau hin. So wird eine Idee geboren.« Hinter vorgehaltener Hand lachte ich, als Noah mit den Augen rollte und George naserümpfend ansah.

»Nicht mal im Entferntesten«, erwiderte er. »Das war ein Einfall, mehr nicht. Eine Idee, eine echte Idee, macht sich ganz anders bemerkbar.« Für einen Moment glaubte ich, dass er noch mehr dazu sagen wollte, doch dann verstummte er. Seine Schultern sackten herab und die Lippen waren nicht mehr als ein dünner Strich. Er wandte den Blick ab. »Wie dem auch sei. Danke, dass du Bescheid gegeben hast, Riley, den Rest übernehmen wir. Sollten wir noch mal deine Hilfe benötigen, melden wir uns.«

Es war, als würde mir alle Luft aus der Lunge gepresst. Nein, er musste mir nicht verraten, was er nun tat, eigentlich sollte es mir auch egal sein. Er würde seine Sache sicher gut machen und das Mädchen finden. Aber … ich war enttäuscht darüber, nicht mehr zu erfahren. Und überrascht, dass ich enttäuscht war. Das Ziel, mir die beiden vom Leib zu halten, hatte ich erreicht. Nun konnte ich ganz entspannt wieder zurückgehen, aber … Oh. Oh, verdammt.

Ich sprang auf und der Schreibtischstuhl rollte schwungvoll ein paar Meter weit. George zuckte kurz zusammen, Noah verzog keine Miene.

»Der Diner. Die Schicht. Verdammt. Ich komme viel zu spät.« Schnell schnappte ich meine Tasche und war schon um den Schreibtisch gesprintet, als ich mich noch einmal zu den beiden umdrehte. George winkte mir hinterher. Noah sah mich missmutig an. Beim ersten Anzeichen dafür, dass ich nichts mehr tun musste, nahm ich Reißaus. Das passte ihm und seinen Vorurteilen sicher wunderbar in den Kram. Sollte es doch. Es kümmerte mich nicht, was er über mich dachte, solange er mich in Zukunft in Ruhe ließ und mir das Verschwinden der Mädchen nicht in die Schuhe schob. Trotzdem blieben mir die Worte des Abschieds im Halse stecken. Ich musste einmal schwer schlucken, bevor ich doch noch etwas herauspressen konnte.

»Danke für die Cola.« Ohne einen Blick zurück machte ich mich auf den Weg zum Diner. Dumm nur, dass meine Gedanken hartnäckig waren und mit mir kamen.