Liebe Familie - Teil 1

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Liebe Familie - Teil 1
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Liebe Familie - Teil 1

Linda Fischer

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Linda Fischer

ISBN 978-3-8442-3936-2

Es sah fast so aus, als wären ein paar Kaninchen nächtens über das Grab getobt. Leona Falkow holte die Harke aus der Hecke, lehnte sie an den Stein und sammelte erst mal einige welke Blätter auf.

Es lagen schwierige Jahre hinter ihr, seit sie im Juli 1997 Witwe geworden war. Und das galt nicht für sie allein, sondern auch für ihre drei Kinder und Samantha Reuenthal, die bei ihnen lebte.

Sie hatten Samantha vor dem Abitur einen weiteren Schulwechsel ersparen wollen. Das zumindest sagte ihr Adoptivvater Tom deutlich – und sie waren sich alle einig gewesen.Tom Reuenthal, ein Vetter von Dennis Falkow, Leonas Mann, hatte ebenso etliche Umzüge hinter sich wie Samantha. Angefangen hatte das Mädchen in San Francisco als Grundschülerin, war dann aber mit ihren Eltern nach Boston gezogen.

Nach dem Tod der Eltern hatte Samantha zum Freund ihrer Eltern umziehen müssen – nach Schweden, wo Tom gerade lebte. Die Adoption war dank des Testaments einigermaßen gut über die Bühne gegangen, und Sam hatte sich erstaunlich schnell in ihr neues Leben eingefunden. Doch nach der Scheidung hatte Tom Schweden verlassen und war in sein Geburtsland, nach Deutschland, gekommen. Damit sollte es für seine angenommene Tochter genug sein mit dem Schulwechsel – darin waren sich die Erwachsenen einig. Als Toms Vater Theo nach einem schweren Schlaganfall das Weingut im Napa Valley nicht mehr leiten konnte und Tom für ihn einsprang, war Sam in Deutschland geblieben.

Mit dem frühen Krebstod von Dennis hatte keiner gerechnet. Doch an der Situation selbst änderte es nichts. Sam blieb – auch sie trauerte mit den Falkows.

Leona rackelte mit der Harke zwischen den Pflanzen entlang und musste etwas lächeln, weil die Kaninchenspuren nun verschwanden. So viel Leben war hier an diesem ruhigen Ort der Toten. Nach jetzt fast zwei Jahren der Trauer sah sie das deutlich. Das erste Jahr war schrecklich gewesen – Weihnachten und Geburtstage ohne Dennis kaum erträglich. Inzwischen ging es ihr besser, auch wenn sie wusste, dass ihr Leben alles andere als perfekt war.

Mit den Kindern im Haus sprudelte zumindest um sie herum das Leben. Außerdem gab es viel zu tun: Sie arbeitete Tag für Tag in ihrem Hotel „Zum Sonnigen Garten“.

Zunächst hatte sie nicht erwartet, das Hotel ohne ihren geliebten Dennis führen zu können. Doch Freunde und Eltern halfen ihr, so ging es dann doch zu ihrer Freude. Auch ihre Kinder wuchsen mit den Aufgaben.

Felix, der Älteste, ihr Adoptivsohn, war inzwischen fast 19 und wollte nur zu gern die Nachfolge des Vaters antreten. Er liebte das Hotel und die Arbeit dort und tat, was immer er konnte – und was seine strenge Mutter erlaubte. Seit er als Pflegekind im Alter von acht Jahren das erste Mal zu ihnen gekommen war, interessierte ihn alles, was das Hotel anging. Dennis hatte das gern unterstützt. Doch jetzt ging erst mal die Schule vor – darauf bestand Leona energisch.

Felix und Samantha waren gleichaltrig und gingen in die selbe Schule, also konnten sie für etliche Fächer zusammen lernen und sich gemeinsam auf ihr Abitur vorbereiten. Das bot den beiden jungen Leuten durchaus Vorteile.

Schwieriger war es für Leonas Töchter. Serena – von allen nur Rena gerufen – ging seit Jahr und Tag auf eine Internatsschule in Hessen, wo ihr musikalisches Talent gefördert wurde. Sie hatte vor, Musik zu studieren und Lehrerin zu werden – das war der große Traum der 13jährigen. Dafür nahm sie die Trennung auf sich, denn im Dorf, wo das Hotel der größte Arbeitgeber war, konnte ihr eine derartige Ausbildung nicht geboten werden. Allerdings litt sie darunter, einen großen Teil des Jahres fern ihrer Familie sein zu müssen. Um so mehr kostete sie die Ferien aus.

Leonas Jüngste, Cynthia, deren selbstgewählten Babynamen Zini alle übernommen hatten, wurde im August 12 und war noch ganz Kind. Ein bildschönes Kind allerdings, das gut behütet werden musste, wie Leona fand. Zini war das klügste ihrer Kinder, und das tat ihr nicht immer gut: bildhübsch und intelligent – das spielte sie oft genug geschickt aus.

Nachdenklich schaute Leona auf das Grab. Sie hatte inzwischen auch gegossen und den Grabstein gesäubert. Alles war in Ordnung, obwohl sie nicht besonders häufig herkam. Meistens überließ sie die Pflege der beauftragten Gärtnerei. Sie saß nicht gern hier, und sie hasste den Gedanken, ihre Kinder zu oft hierher zu bringen. Ihr Vater kam nicht wieder, und ihre Kinder waren unglücklich genug, ohne den Namen und die Daten auf diesem schönen Granitstein lesen zu müssen, dachte sie. In den ersten Monaten nach dem Tod ihres Mannes waren sie alle sehr oft hier gewesen – und hatten bitterlich geweint. Sie musste tapfer sein – für ihre Kinder, befahl sie sich selbst.

„Dennis Falkow – 15. Mai 1951 bis 15. Juli 1997“ stand auf dem schlichten Stein.

Ihr Dennis war nur 46 geworden. Sie hatten schon einige Wochen vor seinem Tod gewusst, dass der Krebs zu weit fortgeschritten war, um noch geheilt zu werden. Mit einem leisen Lächeln erinnerte sie sich daran, was er ihr alles noch erzählt hatte über das Hotel, wie er versucht hatte, sie als Chefin einzuarbeiten. Besonders groß war ihr Hotel nicht, aber sie hatte 35 Zimmer, ein Restaurant mit 75 Plätzen und – falls nötig – einen Saal für bis zu 100 Personen für Hochzeiten oder andere große Feiern. Da allerdings kam die Küche schon kaum noch nach. Chefköchin Helgard Hermans tat, was sie konnte, und sie alle waren immer stolz, wenn alles klappte.

Zum Glück musste Leona wenigstens nicht mehr im Hotel wohnen. Sie hatten ein altes, großes Haus mitten im Wald, das Dennis stets spöttisch mit „Waldvilla“ bezeichnet hatte. Vom Hotel aus war es ein kurzer Spaziergang bis zu ihrem Heim. Leona ging gern abends zu Fuß nach Hause. So konnte sie den Tag überdenken, die Vögel zwitschern hören und sich dabei entspannen. Auf diese Art verkraftete sie ihren anstrengenden Alltag besser und konnte sich zu Hause ihren Kindern mit größerer Ruhe widmen.

Felix schätzte ihre nächtlichen Spaziergänge gar nicht. „Mama allein im Wald“, murrte er und versuchte immer mal wieder, sie zu überreden, per Auto die kurze Strecke zurückzulegen. Leona warf ihm bei solchen Gelegenheiten einen strengen Blick zu, der ihn meistens zum Schweigen brachte.

In dieser letzten Juni-Woche waren Samantha und Felix auf einem Schulausflug. Für heute war die Rückreise angesetzt. Vermutlich saßen sie schon im Bus. Leona zupfte noch ein paar Grashälmchen neben dem Grabstein weg und dachte mehr an ihre Kinder als an das Grab.

In einer Woche begannen die Ferien in Niedersachsen. Bereits Morgen starteten die Sommerferien in Hessen, da kam Rena mit dem Zug nach Hause. Heute war nur Cynthia da, die saß allerdings im Moment noch in der Schule. So konnte Leona sich um ihre eigenen Dinge kümmern.

Heute war er da. Der „große Tag“ – mit großen Buchstaben, wie ihre Kinder behaupteten. Tom kam endlich nach Deutschland zurück. Immerhin war er in der Nähe von Frankfurt auf dem amerikanischen Stützpunkt aufgewachsen und hatte seine Wurzeln doch irgendwie auch in Deutschland. Nur wegen der Krankheit seines Vaters hatte er nach Kalifornien umziehen müssen. Für seinen Beruf war der Ort völlig unwesentlich – als Sänger und Komponist konnte er überall arbeiten.

Sein Sohn Jason war erst drei, den zog Tom in Kalifornien auf. Da er mit vier Geschwistern aufgewachsen war als Ältester, war es kein Problem, Alleinerziehender zu sein. Samantha fuhr in ihren Ferien immer nach Kalifornien, und so bekamen sie es irgendwie hin.

Während Tom in Amerika war, hatten sie mindestens drei Mal pro Woche telefoniert. Samantha - die Schule – die Freunde der Kinder … Es gab viele Fragen zu klären und die Erziehung abzustimmen zwischen den Erwachsenen. Ihre Kinder machten sich einen Jux daraus, diese Telefonate „Erziehungskonferenz“ zu taufen. Selbst Leonas Angestellte und Freunde übernahmen diese Bezeichnung. Im Laufe der Jahre hatten sie sich angewöhnt, über alles zu reden in ihrem Leben – Leona schätzte das sehr. Es half gegen die innere Einsamkeit.

Manchmal dachte sie, es sei gar nicht gut für sie, dass er nun nach Hause kam und Samantha in sein Haus im Dorf zog. Sie würden viel weniger und seltener miteinander reden. Es würde nicht mehr so nötig sein.

Sie würde Toms Ruhe und Vernunft vermissen. Er kannte sich so gut aus mit allem, vor allem wie Kinder reagierten und im unterschiedlichen Alter tickten. Ja, sie würde das alles wirklich sehr vermissen. Im Laufe der vergangenen Monate war es ihr manchmal schon so vorgekommen, als seien sie gemeinsame Eltern der fünf Kinder von 5 bis 19 … - echte Eltern. Ein Paar. Mehr als einmal hatten ihre Kinder diesen „Eltern“ versichert, wie witzig sie die Erziehungskonferenz fanden. Auch ihre Freunde hatten sich häufig darüber lustig gemacht, wie dramatisch solche Gespräche zu siebt sich anhören konnten.

Natürlich kam es auch vor, dass ihre Kinder mit Themen kamen, die Leona weniger hören wollte – schon gar nicht im Gespräch mit einem Mann. Aber auch das bewältigte Tom mit seiner Gelassenheit, und einige eher peinliche Themen kamen ihr dann schon viel normaler vor. Die Erinnerung brachte sie zum Schmunzeln.

Vor etwa einem Jahr hatte ein Gast versucht, die Wirtin zu küssen – und damit ihre Kinder sehr empört. Sofort hatten sie noch am selben Abend Tom davon erzählt. Er erkundigte sich, ob der Gast geglaubt habe, Leona brauche einen Mann an ihrer Seite. Leona – wütend über die vermeintliche Unterstellung – antwortete ärgerlich, sie brauche keine guten Ratschläge für ihr Sexleben, sie sei inzwischen 38 und könne selbst entscheiden. „Aber Mama wollte den gar nicht“, versicherte Cynthia sofort: „Und wir auch nicht!“ Darüber hatten sie alle schon wieder kichern müssen. „Viel Lärm um nichts“, seufzte Leona und löste damit noch mehr Lachen aus.

 

Toms Mutter Allison, ebenfalls Zuhörerin bei diesem Telefonat, dachte etwas anders. Sie hatte es ihren Kindern schon angedeutet – außerhalb der Hörweite ihres Ältesten: „Manchmal denke ich, er ist verliebt in diese deutsche Kusine – und sie ist ja auch nur angeheiratet …“ Aber darüber lachten Toms Geschwister. „Mama, du bist furchtbar romantisch. Sie sind verwandt, das ist alles. Vetter Dennis war mit Leo verheiratet, sie teilen sich die Verantwortung für die Kinder über Ländergrenzen. Quer übern Atlantik. Die sind doch schon ein ganzes Jahrzehnt beste Freunde.“

Keiner jedoch sprach Tom direkt darauf an. Sie ahnten, was er zu dieser Art „Dummheit“ sagen würde. Er mochte es gar nicht, wenn sich jemand zu sehr bei ihm einmischte, so sehr er für sie alle da war.

Im Moment saß er neben Jason im Flugzeug nach Hannover. Sie freuten sich beide sehr darauf. Jason hatte sich schon mindestens ein Dutzend Mal vergewissert, dass „Mama Leo“ ihn auch erkennen würde. Er war ja viel größer geworden in den zwei Jahren. Und er war ja auch fast sechs.

„Ob sie am Flughafen ist, Papa?“ „Ja, sicher. Oder sie wird sehr schnell ankommen.“

„Bringt sie alle mit?“ „Nein, Jace. Wir haben zu viel Gepäck. So viel Platz hat sie im Auto nicht. Da müsste sie ja mit dem Hotelbus kommen. Und den fährt sie nicht so gern. Außerdem sind Sam und Felix noch mit der Schule weg. Und Rena ist in Hessen, die kommt erst Morgen. Das weißt du doch.“ „Aber Zini?“ „Wir werden es ja sehen.“ Es nützte nichts, dem Kleinen Geduld zu predigen. Also antwortete er wieder und wieder auf die vielen Fragen und lächelte dabei.

Leider standen sie zunächst allein in der Ankunftshalle mit ihrem vielen Gepäck. Von der Freundin war nichts zu sehen, kein bekanntes Gesicht zeigte sich in der Menge.

Nach einer Viertelstunde war Jason den Tränen nahe. Tom überlegte gerade, wie er ihn beruhigen konnte, da rannte plötzlich Cynthia auf sie zu und schrie schon vom Eingang her: „Hallo! Wir standen auf der Autobahn … da war ein mistiger Stau.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. Hinter ihr tauchte Leona auf und kam raschen Schrittes auf sie zu, etwas atemlos: „Diese vermaledeiten Baustellen! Zwei Stück. Einmal acht und einmal vier Kilometer Stau“, stöhnte sie und umfasste gleich alle beide. „Willkommen, Jungs!“

An diesem Abend erlebten die Kinder eine Mutter, wie sie sie in zwei Jahren nicht gesehen hatten. Leona scherzte und lachte. Tom neckte sie damit, wie wichtig „die Hotelchefin“ war, da sie im Restaurant aßen und ihre Angestellten ab und zu mit Fragen zu ihnen an den Tisch kamen. „Nein, wie nötig du allen bist“, spöttelte er und zwinkerte.

Ihre Kinder kicherten, auch die Großen. Felix jedoch erinnerte ihn an etwas extrem Wichtiges: „Vergiss nicht, ich bin hier Juniorchef!“ „Ach? Also wagst du es gelegentlich, dieser seriösen Dame zu widersprechen? Das ist ja eine echte Neuigkeit“, zog Tom ihn heiter auf. Felix hob die Hände und guckte gespielt verschreckt: „Was? Widersprechen? Unmöglich!“

„So gefährlich bin ich nun auch wieder nicht“, verteidigte sich Leona und löste damit schallendes Gelächter aus. Sie machte Unschuldsaugen und kämpfte gegen das Grinsen an. „Nein, nein, natürlich nicht. Du bist ein süßes Mädchen, keine fiese Hexe“, sagte Tom todernst. Sie hob die Gabel wie einen Zauberstab: „Noch ein Wort, Vetter, und ich verwandele dich in einen Käfer!“

Es war nur ein Spiel – aber keiner hatte sie so erlebt in den zwei vergangenen Jahren voller Trauer. Bevor Dennis starb, hatten sie sie manchmal eine große Schauspielerin genannt, doch nach dem Tod ihres geliebten Mannes war sie ernst geworden und hatte nur selten noch Witze gerissen oder einen ihrer Sprüche gemacht. An diesem Abend war alles reines Vergnügen und Freude. Auch ihre Eltern sahen sich glücklich an – das war endlich wieder das, was sie lange vermisst hatten.

Erst gegen Mitternacht brachen die Sebalds auf – und das war für Leonas Eltern ein später Zeitpunkt. Mit ihnen im Auto saßen Felix, Samantha und ihr Freund Markus, auch Jason fand noch ein Plätzchen. Er fand es super, dass seine große Schwester auf ihn aufpassen sollte.

So blieben nur Leona mit Cynthia und Tom übrig. „Wir gehen zu Fuß“, meinte Leona vergnügt. „Aber das sind mehr als drei, vier Kilometer für Tom“, ihr Vater sah aus dem Wagen: „Ich setzte die Kinder ab und komme dann …“ „Nicht nötig. Nach dem stundenlangen Sitzen, erst im Flugzeug, dann hier, brauche ich noch jede Menge Bewegung“, lachte der Jüngere freundlich: „Außerdem will mir Zini noch was erzählen. Sie sagt, sie schläft sonst auf dem Spaziergang ein.“

Die Kleine jubelte. Sie hatte so etwas gesagt, aber nicht erwartet, dass auch nur einer der Erwachsenen ihre Worte hörte. Jetzt freute sie sich maßlos darüber, Tom neben sich zu wissen.

Den ganzen Weg über schwatzte sie munter und bemerkte nicht, wie sehr sich die beiden Erwachsenen amüsierten. An der Villa angekommen, schickte Leona sie sofort nach oben.

„Aber du kommst noch mal und sagst gute Nacht und so?“ „Ja, das mache ich doch immer, Liebling. – Tom, brauchst du gleich Bewegung oder hältst du’s noch ein Weilchen aus? Dann trinken wir noch einen Tee.“ „Ich denke, das halte ich aus. Eine Tasse Tee wäre nett“, antwortete er ruhig.

Während Leona sich um den Tee und ihre Tochter kümmerte, stand er im Wohnzimmer und sah die Bilder an, die auf der Kaminumrandung standen: die Foto-Galerie der Familie. Leona im Schaukelstuhl wie eine Art jugendliche Großmutter – umringt von Felix, Serena und Cynthia. Da sie als Witwe strenges Schwarz-Weiß trug, wusste Tom, dass das das Bild sein musste, das sie zum Geburtstag ihres Vaters Winfried Sebald hatte machen lassen. Leona hatte ihm davon erzählt – und auch davon, wie sie es gehasst hatte, so mit ihren Kindern „arrangiert“ zu werden. Ihren Vater hatte dieses altmodische Foto dagegen begeistert.

Kein Bild fehlte. Dennis war da – lachend und vergnügt, auch Samantha mit Markus, und da Leona Taufpatin von Jason war, fand sich auch ein Bild von der Taufe – damals in Stockholm, wo er mit seiner Ex-Frau gewohnt hatte. Er erinnert sich an das Fest mit der ganzen Familie aus Deutschland und den USA. Einige Wochen später war Lisa ausgezogen, und er hatte seine kleine Familie nach Deutschland verfrachtet, in die Nähe der Falkows hier im Dorf.

Für Jason spielte Lisa keine große Rolle. Er hatte seine Patin, die er bald Mama nannte. Zuerst hatte Dennis intervenieren wollen, doch Samantha hatte gemeint, es sei besser mit mehreren Eltern, so sei ein kleines Kind nie allein. Dafür hatte Dennis durchaus Verständnis und akzeptierte, dass alle Kinder bald seine Frau „Mama“ nannten – seine eigenen wie auch Toms.

Für zwei, drei Jahre hatten sie gut zusammen gehalten. Dann schlug das Schicksal grausam zu, zunächst mit dem Schlaganfall von Toms Vater, der das Weingut nicht mehr leiten konnte. Der einzige von den fünf Geschwistern, der sofort einspringen konnte, war Tom. So musste der Musiker sich um Wein kümmern. Doch auch seine Mutter arbeitete sich bald ein – ihrer Familie gehörte das Weingut schließlich. Gemeinsam lenkten sie die Geschicke des Gutes – und so blieb Tom Zeit für die Familie und seine Musik.

Nur wenige Monate nach Toms Abreise starb Dennis. So blieb Leona allein mit den drei Kindern und der Verantwortung für Samantha.

Jetzt, zwei Jahre nach der unglücklichen Zeit, mochte Tom erstmals auf Besserung hoffen. Er hatte bemerkt, wie die Familie auf Leonas Lachen und Scherzen reagierte. Er kannte sie gut genug seit langem. Sie war eine erwachsene Frau, kannte den Ernst des Lebens und hatte schwere Tage hinter sich. Ja, sie war immer eher übermütig gewesen, aber das hatte sie unterdrücken müssen. Erst heute war etwas davon wieder zum Vorschein gekommen.

Er ging zu den großen Terrassentüren und zog die Gardinen zu. Plötzlich fiel eine der Gardinenstangen herunter.

Als Leona mit dem Teegeschirr hereinkam, stand der Freund auf einem Stuhl und befestigte die Gardinenstange provisorisch. Sie stellte das Tablett ab und kicherte: „Reißt du gerade mein Haus ein? Hier müsste dringend renoviert werden – aber vielleicht ist ein Abriss billiger …“ „Nein, nein, das hält schon noch ein Weilchen. Aber du solltest die Gardinenstange anständig verdübeln. Die fiel nämlich …“ Er sah auf sie herunter, stellte fest, wie ironisch sie hochschaute, und schüttelte den Kopf. Leona hielt ihm hilfreich und etwas spöttisch eine Hand hin. Er nahm sie und stieg vom Stuhl.

Plötzlich war es wie ein Blitzschlag. Er flüsterte nur noch. „Mein Mädchen.“ Dann war alles andere vergessen – für sie beide.

Viel zu schnell kamen sie wieder zur Vernunft – und doch war es zu spät. Leona fragte sich, ohne es laut zu sagen, ob sie wohl das Richtige tat. Durfte sie sich auf diese neue Liebe einlassen? Sie passten doch nicht zusammen – sie hatte das Hotel und war an diesen Ort, an dieses kleine Dorf gebunden. Er kam aus der großen Welt, er reiste viel, arbeitete sogar mitunter für die Filmindustrie in Hollywood. Das wusste sie.

Eine Witwe mit drei Kindern … was würden ihre Kinder hierzu sagen? Hieß das, sie vergäße deren Vater? Und der Klatsch im Dorf würde Blüten treiben – sie kannte ihre Mitmenschen nur allzu gut. Doch bösartiges Gerede traf wohl ihre Kinder schlimmer als sie selbst. Aber ob sie Dennis vergessen hätte, das würden auch die Kinder fragen.

Ihr traten Tränen in die Augen, Tom sah es und konnte sich vorstellen, was in ihr vorging, zumal das hier viel zu schnell passiert war. „Denkst du, wir betrügen Dennis?“ fragte er still. Sie atmete nur tief durch und wusste nicht recht, wie sie antworten sollte, ohne ihn zu verletzen.

Nach einigen Sekunden murmelte sie: „Ich weiß nicht, ob ich es gut finde, wenn du weiß, was ich denke.“ „Das ist nur logisch. Ich hatte nicht gerade geplant, mit dir im Bett zu landen am allerersten Abend, Leona.“ „Und noch weniger auf dem Fußboden“, ergänzte sie und musste lächeln. Er hatte ihr viel mehr gesagt mit diesen kurzen Worten als erwartet. „Hattest du denn was geplant?“

Er zögerte kurz, dann antwortete er ehrlich: „Ja, hatte ich. Seit ich wusste, dass ich nach Hause komme. Eine Werbung. Du weißt schon, Familienessen, ein Theaterabend vielleicht. Ein Abendessen mit dir – mit Kerzen, Rosen und einem Glas Wein. Ich wollte nichts übereilen …“ „Hast du nicht behauptet, nach der langen Flugreise sei Bewegung nötig …“, einmal mehr war sie mit der Zunge schneller als mit dem Gehirn. Sie schlug sich die Hand vor den frechen Mund und sah ihn besorgt an. Doch der Mann lachte und fand die frivole Bemerkung lustig. Er kannte sie und ihre unbedingte Ehrlichkeit seit Jahren.

„Wie habe ich das vermisst – du und deine flinke Zunge. Nach der Trauer im Lauf der letzten Jahre war es unmöglich, sich vorzustellen …“ „Ich fürchte, meine Familie habe ich heute auch schon überrascht. Gestern, sollte ich sagen. Aber …“ Sie hielt inne. „Aber wir sollten sie nicht noch weiter so überraschen, nicht wahr?“

Sie nickte und verriet ihm ihren Gedankengang nun doch: „Tom, wir haben fünf Kinder. Glaubst du, sie können verstehen, wenn wir plötzlich mehr sind als nur gute Freunde?“ „Nicht sofort. Wie gesagt, so hatte ich das nicht geplant …“

„Ich glaube, ich muss noch mal Tee kochen. Okay?“ Sie brauchte etwas Abstand: „Oder eine kleine Flasche holen? Ich habe neulich von deinem Freund Volker einen Prosecco bekommen. Weil ich was über Elstern erzählt habe und er mein Wissen so toll fand. Den könnten wir trinken. Da wir ja Freunde sind – und noch was zu bereden haben …“

Er nickte nur. Einfach war diese Situation nicht. Doch sie spielte mit, offen und freundlich trotz ihrer erkennbaren Unsicherheit. Es gab etwas, das er ihr noch nicht gesagt hatte. Aber er musste es tun, wenn es auch bedeutete, sie damit zu verschrecken, weil es viel zu früh dafür war. „Ich liebe dich.“

Sie blieb an der Tür stehen und sah ihn an. Das war extrem schwer auszuhalten, und sie hatte Angst ihrer Kinder wegen. Doch sie musste reagieren. „Ich weiß“, sagte sie nur leise und ging hinaus.

 

Sie stießen nicht miteinander an, saßen nur still neben einander auf dem Sofa und sahen sich ernst an, jeder ein Glas in der Hand. Schließlich nahm sich Leona zusammen: „Was machen wir, Tom? Wir sind uns ja wohl einig darüber, wie blöd es wäre, mit dieser Überraschung sofort rauszurücken, oder? Sie müssen sich langsam daran gewöhnen. Ich meine, dass wir beide zusammen sind. Langsam. Nicht von Heute auf Morgen. Wir müssen einfach die Zeit zu Hilfe nehmen. Jetzt denkst du, ich bin allzu vernünftig, hm? Aber wir sind keine Teenager mehr.“ „Nein, das kaum. Ich mit über 40 und du drei Jahre jünger … Wir gehen das ruhig an. Vielleicht kommen sie ja auf die Idee, wie gut ihre Erziehungskonferenz zusammen passt.“ „Und wenn nicht?“

Doch als sie sah, wie traurig sie ihn damit machte, fuhr sie hastig fort: „Dann müssen wir sie zu unserem Glück zwingen. Da ich dich liebe, hoffe ich natürlich auf einen romantischen Schluss, ist ja klar.“

Er hüpfte fast vom Sofa, und Leona sah ihn überrascht an: „Was ist denn?“ „Ich … dachte nicht, dass du das sagst. Es ist ja erst zwei Jahre her, dass du Dennis verloren hast, und ich dachte …“ „Was? Dass da körperliche Wünsche sind? Dass nur die Chemie zwischen uns stimmt? Falsch, mein Liebster, das ist viel mehr. Das ist so langsam gewachsen im Lauf dieser … Hunderte Telefongespräche. Und ich hatte solche Angst, dich auch zu verlieren. Jetzt, wo du hier im Ort leben willst. Ich kann dir nicht sagen, wann es angefangen hat. Aber später als bei dir, das weiß ich. Und jetzt … liebe ich dich.“

Tom lächelte jäh: „Da du mehr Jasons Mama bist als seine Patin … und eigentlich nur du zählst, seit ich dich zum ersten Mal da hinten im Wald traf auf dem Weg zu Volker.“ „Wir können uns ja bei Volker bedanken.“ „Lieber nicht. Er mag Heimlichkeiten rein gar nicht.“

Jetzt lächelte auch Leona. „Nein, er muss immer alles Yu-lan erzählen. Aber sie ist wirklich eine gute Geheimnisträgerin.“ „Sie ist Chinesin, und sie würde nie mit anderen über uns sprechen.“ „Das ist einfach nicht ihr Stil.“ „Und sie ist deine Angestellte, Leo.“ „Ja, das auch. Sei doch mal ernst, Tom.“

Eigentlich war er längst ernst, doch auch sehr müde nach der langen Reise. Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen. Er sagte ihr das. „Soll ich dich schnell fahren?“ „Nein. Danke, aber ich laufe lieber. Wir treffen uns ja morgen Nachmittag um 3 am Bahnhof. Ja?“ Leona nickte und schmunzelte: „Rena wird begeistert sein, dich dort schon zu sehen.“ „Ich bin auch begeistert von ihr. Und ihr könntet zum Kaffee kommen. Wenn du magst?“ „Und ob. Mit Freuden.“

Sie begleitete ihn bis an die Haustür. Der Abschiedskuss fiel reichlich heiß aus, und sie fragte dennoch: „Bist du sicher, dass wir das Richtige tun?“ „Liebste, wenn ich mir zum zweiten Mal eine Frau wähle, dann bin ich aber auch so was von bombensicher, dich haben zu wollen. Wir sehen uns Morgen. Kaffee mit der ganzen Sippe und den Freunden.“

***

Tom servierte Kaffee und Kuchen. Es regnete und war ein viel zu kalter Tag für Ende Juni, so saßen alle im Wohnzimmer und machten es sich gemütlich. Volker, Yu-lan und ihre Kinder Nadja und Tabea waren dabei. Außerdem hatte Tom Michael Röttger und dessen Familie eingeladen. Rena zerrte an Tom, er möge seinen Kuchen rasch essen, und so saßen sie bald am Flügel und spielten vierhändig. Das Mädchen hatte viel gelernt, und der Fachmann an ihrer Seite lobte sie.

„Muss ich nach den Sommerferien echt nach Hessen zurück? Ich würde lieber bei Mama bleiben und mit dir lernen. Aber sie hat gesagt, ich soll nicht drängeln und …“ Rena lief knallrot an, als sie begriff, was sie ihm gerade erzählte. „Sie hat garantiert gesagt, du solltest auf keinen Fall aufdringlich sein, hm? Und dass du keinesfalls fragen sollst, ob ich dich unterrichte?“ Tom versuchte, sie aufzumuntern.

„Sie hat gesagt, dass wir uns nicht leisten können, jemanden wie dich zu bezahlen. Und dass sie uns den Ärger unseres Lebens verschafft, wenn wir fragen. Uns verhext in Mäuse, um genau zu sein.“ Felix grinste breit. Tom sah über den Tisch. Leona saß ihm schräg gegenüber und wirkte wütend und aufgebracht.

„Na, komm mal mit in die Küche, Hexe. Wir kochen noch eine Fuhre Kaffee … und Gift für die Mäuse … und reden lieber unter vier Augen über dieses Thema“, schmeichelte er frech. Der spöttische Tonfall passte ihr nicht, doch sie erhob sich ohne jedes Wort. Ihre Augen sagten, was sie vor seinen Gästen verschwieg aus Höflichkeit.

Eigentlich war es mehr die Tatsache, dass von der Veränderung zwischen ihnen bei ihm so rein gar nichts zu spüren war, er schien die Nacht völlig vergessen zu haben. Er hatte ihr schließlich versprochen, es ruhig anzugehen. Dennoch – in der Küche zog er sie sofort an sich und küsste sie heftig, die wütende „Hexe“. Doch sie stemmte sich gegen ihn und nahm das „nötige Kaffee-Kochen“ zu Hilfe, um sich zu befreien.

„Tom, lass das. Wir haben haufenweise Leute in deiner Stube hocken, da kannst du nicht einfach …“ „Und wie ich kann. Und ich will.“ „Und was willst du?“ „Für den Anfang Rena unterrichten. Nur für den Anfang. Und du solltest glauben, was ich dir in dieser Nacht gesagt habe.“

Genau das fiel ihr schwer. Sie war auf dem besten Wege, ihren Glauben an ihn zu verlieren, die Nacht für einen Traum zu halten. „Aber“, fing sie an und gab sofort auf, als er ihr den Kaffeelöffel aus der Hand nahm und sie umfasste. „Liebste!“ „Du hast mich Hexe genannt.“ „Liebste Hexe“, sagte er mit leisem Spott. Leona begann zu kichern, völlig gegen ihren Willen.

Sie versuchte, vernünftig zu bleiben. „Was tun wir nur?“ „Keine Ahnung. Aber wenn deine Tochter in meiner Schule Musik lernen will …“ „Du hast keine Schule, Tom.“ „Als meine Schülerin, okay. Wir finden Möglichkeiten. Musst du nicht als Hotelchefin am Wochenende am Feuerwehrfest teilnehmen?“ „Ja, schon. Mit sämtlichen Kindern, meinen Eltern. Und das ist nicht alles - auch dein Freund, Förster Volker mit Familie, mein Freund Michael mit Familie, die sind dabei – und ein Tisch ist schon reserviert für uns alle.“ „Dann tanzen wir miteinander und reden.“ „Aber das ist nur ein Abend. Und der Alltag ist endlos“, murrte sie. „Und auf so einem Fest können wir die Familie auf gar nichts vorbereiten – vorm ganzen Dorf.“ „Einen Schritt nach dem anderen, Leo.“

Sie war eher der Typ, Wahrheiten – ob angenehm oder nicht – knallhart und prompt auszusprechen. Sie konnte sehr zurückhaltend sein, sogar extrem scheu und schüchtern. Aber sie konnte auch als Anwältin auftreten, ein echter advocatus diaboli – für ihre Freunde, wenn sie gebraucht wurde. Ihre Ehrlichkeit hatte zu Toms Scheidung geführt vor einigen Jahren. Sie hatte für sein Recht als Jasons Vater gekämpft und sich – verbal – auf Lisa gestürzt, die – so Leona – ihn ungerecht behandelte.

Niemals zuvor hatte sich jemand so für ihn eingesetzt. Er war ihr dankbar. Sie konnte ihrem Namen alle Ehre machen: kämpfen wie eine Löwin. Als ihn niemand angehört hatte in der Taufgesellschaft, hatte Leona an seiner Seite ausgeharrt und sich bemüht, alle Seiten zu betrachten. Sie hatte sogar Dennis dazu gebracht, sich zu überwinden und an dem Krach teilzunehmen – ebenfalls an der Seite seines Vetters.

„Ein Schritt nach dem anderen“, jammerte sie dramatisch, musste aber auch darüber lachen. Als Rena in die Küche kam, um Brause und Cola zu holen, war Tom längst damit beschäftigt, Gläser auf ein Tablett zu stellen, und Leona füllte den Kaffee aus der Glaskanne in eine Thermoskanne. Sie stellte die Kanne aufs Tablett und kommandierte: „Los, geh schon, Junge!“