HertzFlattern

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Lina Lintu

Aus dieser Reihe:

Heimat der Greifen

HertzFlattern

Jede Geschichte ist in sich geschlossen und kann ohne Vorwissen gelesen werden.

Impressum

1. Auflage: April 2021

Text: Lina Lintu

Umschlaggestaltung: Lina Lintu, mit einem Foto von Dylan Ferreira

Verlag: L. Thull

Planckstraße 44

42549 Velbert

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-754112-85-4

www.twitter.com/lintu_lina

www.facebook.com/LinaLintuAutorin

Inhaltsverzeichnis

Aus dieser Reihe

Impressum

Triggerwarnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Danksagung

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Triggerwarnung

Dieses Buch behandelt mehrere Themen, die unter Umständen traumatische Erinnerungen beim Lesen hervorrufen können. Wenn du weißt, dass das bei dir der Fall sein kann, wirf bitte einen Blick auf die folgenden Triggerwarnungen und lies mit Vorsicht.

Behandelte Themen:

 Mord

 Xenophobie

 Diskriminierung

 Manipulation/Lügen

 Alkohol

Für all jene, die bereit sind,

aus ihren Fehlern zu lernen,

und die die Welt ein bisschen

besser machen wollen.

Kapitel 1

„Heute vor fünf Jahren fand der sogenannte Zombie-Anschlag in Osnabrück statt. Der Nekromant Oskar Adlerson erweckte drei Leichen auf dem Johannisfriedhof und verursachte mit ihnen den Tod von vier Menschen. Achtzehn weitere wurden verletzt.“

Der Regionalexpress fuhr mit quietschenden Bremsen in den Bielefelder Hauptbahnhof ein und übertönte kurz die Stimme des Radiosprechers. Tessa schulterte ihren Rucksack und wartete, bis der Gang frei wurde, bevor sie der Karawane zur Zugtür folgte. Sie rückte ihre Kopfhörer zurecht.

„… gab den Anstoß zur Registrierungspflicht aller Nekromanten in der EU und in Großbritannien. Dieser Entschluss ist bis heute nicht unumstritten. Auch heute finden in mehreren europäischen Städten Demonstrationen gegen dieses Gesetz statt.“

Tessa ging den Bahnsteig entlang, folgte der Treppe nach unten, zu der Unterführung, und bog dann nach rechts ab, wie die meisten Menschen vor ihr auch.

„In Osnabrück findet gleichzeitig eine Gegendemonstration statt, organisiert von den Angehörigen der Opfer. Die Polizei ist vor Ort, um die beiden Gruppen voneinander fernzuhalten.“

Die nächste Treppe führte nach oben in die Bahnhofshalle. Mit jeder Stufe wurde der Geruch von McDonald’s, dem Bäcker und den rauchenden Menschen auf dem Vorplatz intensiver. So schnell wie möglich ließ Tessa all das hinter sich und lauschte nur halbherzig den Sportmeldungen, die jetzt folgten. Sie war mehr darauf bedacht, nicht mit den Absätzen ihrer Schuhe in den Spalten zwischen dem Kopfsteinpflaster stecken zu bleiben. So sehr sie ihre neuen Sandalen auch liebte, gerade verfluchte sie sie.

Zum Glück wurde der Bodenbelag bald besser. Dafür hatte sie gleich das Problem, dass sie in der U-Bahn-Station keinen Empfang mehr haben würde. Doch da der Sprecher gerade den Wetterbericht ankündigte, würde sie nichts Wichtiges mehr verpassen. Sie wusste schon, dass es in den nächsten Tagen sonnig und warm bleiben würde.

Doch in der U-Bahn-Station war es noch angenehm kühl. Fast sogar zu kühl, denn eine leichte Gänsehaut kroch Tessa über die Arme.

Sie wickelte ihre Kopfhörer auf und verstaute sie in der Tasche. Gedanklich war sie noch bei dem Radiobericht über Oskar Adlerson. Sie fühlte sich mit dem Vorfall gleich doppelt verbunden.

Zum einen durch Herrn Ali, ihren alten Mathelehrer, der unter den Verletzten gewesen war. Einen Monat lang hatte er sich vertreten lassen und war danach ungewohnt schreckhaft gewesen.

Zum anderen durch Inci Koudsi, die Reporterin, die damals zufällig vor Ort war. Sie war eine Studentin der Universität Bielefeld, genau wie Tessa auch. Geistesgegenwärtig hatte Inci bei Radio Bielefeld angerufen und um eine Live-Schaltung gebeten. Innerhalb kürzester Zeit lauschten mehrere tausend Menschen ihrem atemlosen, aber souveränen Bericht über den Vorfall.

Und so wurde aus ihrem Volontariat eine Festanstellung beim Radio, bis Inci vor drei Jahren von Bielefeld nach Hannover gezogen war und die Karriereleiter immer weiter emporstieg.

Ein Weg, wie Tessa ihn sich auch für sich selbst wünschte, aber solche Gelegenheiten waren selten. Ohne das Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, musste man sich mühsam nach oben kämpfen, um es in der Medienwelt zu etwas zu bringen.

Doch die Bewunderung für ihr großes Vorbild blieb.

In diesem Moment fuhr die Linie 4 ein und unterbrach Tessas Gedanken.

Tessa suchte sich einen Platz am Fenster, schräg gegenüber von einer Frau mit Schäferhund. Auf der anderen Seite des Gangs hatte ein Mann einen dunkelgrünen Drachen an der Leine.

Die Frau warf den beiden immer wieder missmutige Blicke zu und fasste die Leine ihres Hundes noch kürzer. Doch der Hund machte nicht den Eindruck, als würde er sich freiwillig näher Richtung Drache begeben wollen. Er hatte das Nackenfell aufgestellt und hechelte nervös.

Zwei Haltestellen lang ignorierte der Mann mit dem Drachen ihre Blicke und ihr Räuspern gekonnt, dann wechselte die Frau ihre Strategie und machte ihrem Ärger Luft.

„Sie wissen schon, dass in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Maulkorbpflicht für Drachen gilt?“, fragte sie laut in das monotone Rattern der Stadtbahn hinein.

Der Mann zuckte mit den Schultern. „Der tut doch keinem was.“

„Das kann jeder sagen. Und dann passiert wieder was. Die Regeln gelten für alle!“

Auch wenn Tessa den Tonfall der Frau anstrengend fand, musste sie ihr doch zustimmen. Der Blick des Drachen sah eindeutig hungrig aus. Und das, obwohl er kaum größer war als seine Mahlzeit in spe.

Die Stadtbahn hatte inzwischen den unterirdischen Teil der Strecke hinter sich gelassen und das Licht des noch jungen Tages drang durch die zerkratzten Fensterscheiben.

Vielleicht war es wirklich seine Haltestelle, vielleicht wollte er aber auch nur der Diskussion entgehen, denn beim nächsten Halt stieg der Mann kommentarlos aus. Der Drache folgte widerwillig.

Erst als sich die Tür geschlossen hatte und sich die Bahn wieder in Bewegung setzte, lockerte die Frau den Griff um ihre Leine. Ihr Hund wirkte allerdings immer noch nicht entspannter.

Die Bahn hielt bei der Universität, doch Tessa blieb auf ihrem Platz sitzen. Sie hatte noch Zeit, bevor sie zur Besprechung musste und wollte vorher noch nach Hause fahren. Deshalb stieg sie erst zwei Stationen später aus, bei der Endhaltestelle.

Es war eine ruhige Wohngegend, wo trotz der Nähe zur Uni hauptsächlich Familien wohnten. Helle Häuser mit rötlichen Dächern, ein paar Supermärkte und ein Blick auf die Wipfel des Teutoburger Waldes.

Wenige Minuten später schloss Tessa die Tür auf und ließ ihren Schlüssel in eine Schale auf der Kommode fallen.

„Ich bin wieder da!“, rief sie.

„Hi!“ Die Antwort klang gedämpft.

Eine Tür öffnete sich, Schritte tapsten fast unhörbar über das Laminat, dann stand Bella im Türrahmen und strahlte Tessa an.

Bella war eine personifizierte Sommerwiese. Und den Vergleich benutzte Tessa nicht nur wegen der grünlichen Hautfarbe der Waldelfe, sondern hauptsächlich wegen ihres Charakters: warmherzig, überschwänglich, liebenswert.

Bella wartete, bis Tessa ihren Rucksack abgestellt hatte, bevor sie sie in eine Umarmung zog.

„Du tust immer so, als wäre ich wochenlang weg gewesen.“ Tessa lachte.

„Ich freu mich halt, dass du da bist. Ohne dich ist es so ruhig und langweilig in der Wohnung.“ Bella richtete ihre Brille. „Wie war’s? Geht’s deinen Eltern gut?“

 

Tessa verdrehte die Augen.

„Papa hat sich eine Rippe gebrochen, weil er von der Leiter gefallen ist. Ich hab ihm schon tausendmal gesagt, dass er die Gartenarbeiten lieber seinem Bruder überlassen soll, aber du weißt ja, wie er ist. Und Mama sagt, solange er noch jammern kann, wird das mit der Rippe schon nicht so schlimm sein. Und vielleicht hält es ihn wenigstens eine Weile vom Handwerken ab.“

„Bestell trotzdem gute Besserung von mir, wenn du das nächste Mal mit ihnen telefonierst“, bat Bella.

„Mach ich.“

Wieder einmal fragte sich Tessa, warum sie sich so gut mit Bella verstand, obwohl sie so verschieden waren. Während Bella fürsorglich und empathisch war, überspielte Tessa Mitleid lieber mit Sarkasmus.

Auch äußerlich unterschieden sie sich. Tessa war hochgewachsen und sportlich, Bella dagegen zierlich und fast einen Kopf kleiner als Tessa. Die einzige Gemeinsamkeit der beiden Frauen waren die dunkelbraunen Haare, doch Bella trug sie lang und glatt, Tessa hingegen als ungebändigte Wuschelfrisur, die man nur mit gutem Willen als Bob bezeichnen konnte.

In der Zwischenzeit war Tessa in die Küche gegangen und warf einen Blick in den Kühlschrank. Bellas Hälfte war noch gut gefüllt, doch auf ihrer Seite sah es sehr sparsam aus. Marmelade, Senf, Eier und eine halbe Gurke. Tessa seufzte.

„Ich glaube, ich muss nachher noch einkaufen gehen. Brauchst du auch was?“

„Nein, danke, ich habe alles da.“ Bella stockte. „Wobei … Kannst du mir vielleicht Schokolade mitbringen?“ Sie schaute Tessa mit großen Augen an.

„Klar.“

Als Tessa später ihre Tasche für die Uni packte, steckte sie auch noch einen Stoffbeutel fürs Einkaufen ein. Bella hatte ihr erfolgreich abgewöhnt, jedes Mal eine neue Plastiktüte zu benutzen.

Dann machte sie sich auf den Weg. Tessa besaß zwar ein Fahrrad, aber für den kurzen Weg lohnte sich das nicht. Selbst zu Fuß war sie innerhalb von zehn Minuten dort, da würde es länger dauern, das Fahrrad aus dem Fahrradkeller zu holen und die Treppe nach oben zu schleppen.

Nein, das war ein Aufwand, den sie sich nur für längere Strecken antun würde. Wie zum Beispiel für die Radtour mit Bella, die sie sich schon ewig vorgenommen hatten. Aber im Sommer war es zu heiß dafür gewesen. Im Herbst machte nasses Laub auf den Straßen das Fahren gefährlich und der Winter kam sowieso nicht in Frage. Jetzt, Anfang Mai, waren die Temperaturen zwar ideal, aber dafür hatte eine Spinne ein kunstvolles Netz zwischen dem Lenker und dem Fahrradrahmen gesponnen. Und die wollte Tessa natürlich nicht stören.

Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte ihr Fahrrad schon öfter einen Umzugswagen von innen gesehen als die Bielefelder Radwege.

Mit diesem Gedanken erreichte sie den Westeingang der Universität. Hier waren nie so viele Studierende wie beim Haupteingang; dort wo die Parkhäuser und die Stadtbahn-Haltestelle waren.

Dafür kam sie auf ihrem Weg an dem Uni-eigenen Schwimmbad vorbei, das um diese Uhrzeit aber noch fast leer war. Ein leichter Chlorgeruch lag in der Luft. Dann mündete der Gang in die Haupthalle und die Lautstärke schwoll an.

Die Universität Bielefeld erinnerte ein wenig an einen Bahnhof oder an ein Einkaufszentrum. Die Haupthalle war lang gestreckt und im ersten Stock von einer Galerie umspannt. Durch trübe Deckenfenster fiel Tageslicht herein. Und an den Seiten reihten sich verschiedene Geschäfte aneinander: eine Buchhandlung, ein Geschäft für Schreibwaren, eine Post-Stelle, ein Raum mit Geldautomaten, eine Bäckerei und sogar ein Restaurant.

Dazwischen lagen die Türen zu den Hörsälen und zu den Treppenhäusern, um die einzelnen Fakultäten zu erreichen, die sich wie ein Rudel von Hochhäusern an die Haupthalle kuschelten.

Tessas Ziel, das Campusradio namens Hertz 87.9, lag auf der linken Seite. Sie folgte einer Treppe nach unten, durch schmale Gänge, die nach Linoleum-Böden und Reinigungsmitteln rochen. Doch je näher sie der Redaktion kam, desto stärker wurde auch der Geruch von Kaffee.

Die wöchentliche Redaktionssitzung fand allerdings ein paar Räume weiter in einem umfunktionierten Seminarraum statt. Das Eindrucksvollste daran war definitiv die Rückwand des Raums, die auf gesamter Höhe und Breite mit Regalen bedeckt war, gefüllt mit tausenden von CDs.

Nicht einmal die Musikgeschäfte, die Tessa kannte, hatten eine solche Auswahl.

Sie setzte sich auf eines der Sofas und legte ihre Tasche neben sich, um den Platz für Djalisa freizuhalten.

Nach und nach fanden sich die anderen Teilnehmenden des Kurses „Radio- und Online-Journalismus“ ein sowie das reguläre Team des Campusradios. Um Punkt dreizehn Uhr huschte auch Djalisa durch die Tür. Sie entdeckte Tessa, lächelte erleichtert und bahnte sich den Weg zu dem Sofa.

Djalisa studierte im gleichen Semester Germanistik wie Tessa, allerdings strebte sie keine journalistische Laufbahn an, sondern wollte Dolmetscherin werden. Dass sie bilingual aufgewachsen war, war ein erheblicher Vorteil.

Anfangs hatte Tessa sie wegen ihrer ruhigen Art und ihrer guten Noten für eine langweilige Streberin gehalten. Doch mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass das eine Fehleinschätzung war. Djalisa war eine der wenigen, die Tessas Sarkasmus kontern konnten. Außerdem hatte sie ein Händchen für Mode, wie Tessa mal wieder bemerkte. Ihr Kopftuch hatte heute ein sattes Beerenrot und passte damit farblich perfekt zu ihrer Bluse.

„So. Schön, dass ihr alle da seid“, begann Mia die Sitzung. Die Studentin mit den grün gefärbten Haaren führte die Redaktionssitzungen. „Ich habe eine Reihe von verschiedenen Themenvorschlägen, aus denen ihr Beiträge machen könnt. Aber eigene Ideen und Anregungen sind natürlich wie immer auch willkommen.“

Mia machte eine kurze Pause, ob jemand was sagte, doch es blieb ruhig. Die regulären Mitglieder von Hertz 87.9 wussten das schon und holten sich das Okay für ihre Ideen außerhalb der Redaktionssitzung.

Die Frischlinge vom Radiojournalismus-Kurs waren meistens noch zu schüchtern, um sich an dieser Stelle einzubringen. Außerdem hatten sie mit ihrem Kursprojekt schon genug zu tun: Alle sollten sich einen Beruf aus der Region aussuchen und ein entsprechendes Interview führen.

Deshalb fuhr Mia fort.

„Als erstes habe ich etwas für das Sport-Ressort HertzRasen. Das Unterwasser-Rugby-Team unserer Uni steht im Halbfinale der Landesmeisterschaft. Ein Beitrag würde sich also anbieten, entweder als Bericht vor Ort oder als Interview mit dem Mannschaftskapitän. Wer will?“

Tessa mied Mias Blick. Das war nichts für sie. Unterwasser-Rugby war ein derartiger Nischensport, dass sich vermutlich nur die Menschen für so einen Beitrag interessieren würden, die selbst damit zu tun hatten.

Zum Glück meldete sich ein junger Mann – vermutlich ein Sport-Student – und Mia schrieb seinen Namen auf die Liste.

„Als nächstes ein Vorschlag von meiner Nichte. Sie ist wahrscheinlich unsere treuste Hörerin und hat sich gewünscht, dass wir auch mal was zum Thema Drachen machen.“ Mia lächelte entschuldigend, doch niemand im Raum schien ihr das übel zu nehmen. Selbst Tessa hatte die 5-jährige Kori schon kennengelernt, als Mia ihr die Redaktion gezeigt hatte.

„Der Beitrag muss natürlich nicht speziell für Kinder sein. Es kann auch ein Bericht über die Drachenhalle werden. Oder über einen Züchter. Laut Internet gibt es sogar einen in Bielefeld.“

Wieder kehrte Stille ein und dieses Mal meldete sich niemand.

Tessa rang einen Moment mit sich, dann hob sie die Hand. Das war zwar auch kein perfektes Thema, aber immer noch besser als Unterwasser-Rugby. Und sie konnte das Interview mit dem Züchter auch gleichzeitig als Kursprojekt nehmen.

„Alles klar, Tessa. Jetzt was Kurzfristiges für unser Musik-Ressort. Ein Konzertbericht. Wir haben für das ausverkaufte Konzert von No Brine im Ringlokschuppen doch noch ein Presseticket bekommen.“

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da schossen schon mehrere Hände nach oben. Auch die von Djalisa, und zwar gefährlich knapp an Tessas Kopf vorbei.

Tessa verdrehte die Augen. No Brine, die Chartstürmer aus München. Als hätte man Justin Bieber, die Backstreet Boys und einen Baby-Igel kombiniert und dem Ganzen dann ein Mikrofon vor die Nase gehalten. Absolut seichter, austauschbarer Pop, aber so ziemlich jedes weibliche Wesen zwischen 13 und 33 fuhr darauf ab – mit Ausnahme natürlich von Tessa.

Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und verfolgte, wie Mia ein wenig überfordert versuchte, die Person auszulosen, die das Presseticket bekommen sollte.

Djalisa quiekte leise auf, als ihr Name gezogen wurde, der Rest versuchte – mal mehr, mal weniger erfolgreich – die Enttäuschung zu verbergen. Und Tessa musste sich jegliche Kommentare verkneifen.

Die restlichen Themen waren wieder ähnlich unspektakulär wie Drachenzucht: Regionalpolitik, neue vegetarische Gerichte in der Mensa, die Sanierung des AudiMax … So schlecht hatte Tessa es also nicht getroffen.

Das sah Djalisa aber wohl anders.

„Da hast du echt Pech gehabt mit deinem Thema“, meinte sie leise. „Aber du konntest ja nicht wissen, was danach noch kommt.“

War das ehrliches Mitleid in ihrer Stimme? Gegen ihren Willen fühlte sich Tessa gerührt. Deshalb antwortete sie auch diplomatischer, als sie es normalerweise getan hätte.

„Ach, halb so wild. Ist wohl besser, wenn jemand das Ticket bekommt, der es auch zu schätzen weiß.“

„Oh ja!“ Djalisas Blick wurde verklärt. „Vielleicht kann ich sogar ein Interview mit Noah führen!“

„Ist das der Sänger?“ Nicht dass es Tessa ernsthaft interessierte.

Djalisa schien das zu merken, denn ihr Blick wurde missmutig und sie murmelte etwas, das verdächtig nach „Kulturbanause“ klang.

Tessa ignorierte das. Ihrer Meinung nach hatte No Brine ähnlich viel mit Kultur zu tun wie ihre eigenen Gesangskünste unter der Dusche. Aber wenn sie das jetzt laut aussprach, dann würde Djalisa sicher den Rest des Semesters nicht mehr mit ihr reden. Deshalb beschränkte sie sich auf ein Schulterzucken.

Eine Stunde später saß Tessa mit dem Laptop auf dem Schoß auf dem WG-Sofa. Die Einkäufe waren in der Küche verstaut und Bella hatte sich neben Tessa gesetzt. Sie knabberte zufrieden an der Nussschokolade, die Tessa ihr mitgebracht hatte, und schaute ihr bei ihren Recherchen zu, wie sie es öfter tat.

„Eigentlich ist Drachenzucht doch ein spannendes Thema“, meinte sie.

„Findest du?“

„Klar. Drachen sind echt schöne Tiere. Und wenn du den Züchter besuchen darfst, dann sind da bestimmt auch junge Schlüpflinge!“ Bellas Blick ähnelte dem von Djalisa, als diese über den Sänger von No Brine gesprochen hatte.

„Klar, alle Baby-Tiere sind niedlich. Aber die Leute, die sich Drachen zulegen, sind alle irgendwie komisch. Und die, die Drachen züchten, sind sicher auch nicht besser.“ Tessa hatte noch zu gut den Vorfall in der Stadtbahn im Kopf. Dementsprechend gering war ihre Begeisterung.

„Na und? Auch Hundebesitzer sind manchmal komisch. Aber das ändert doch nichts daran, dass Hunde toll sind.“

Tessa brummte und öffnete den Wikipedia-Artikel über Drachen.

Die Drachen (Dracodae) sind eine der Spezies, die durch die Anomalien in unsere Welt kamen. Man unterscheidet zwischen Tetrapoden bzw. viergliedrigen Drachen (Draco tetrapoda), wie beispielsweise Wyvern, und der größeren Gruppe der Hexapoden bzw. sechsgliedrigen Drachen (Draco hexapoda).

In der Taxonomie nennt man diese Familie Dracodae, von lat. Draco („Drache“) oder auf Deutsch Dracoden. Hausdrachen (Draco hexapoda domesticus) stammen vom Wilddrachen ab und sind die einzige Drachenart, die als Haustier gehalten werden darf.

Tessa glaubte schon das Schnarchen des Radiopublikums zu hören. Deshalb scrollte sie nach unten zu den Hausdrachen, wo sie weitere trockene Fakten fand. Schulterhöhe 50 bis 70 Zentimeter, ein Gewicht von 20 bis 30 Kilogramm und eine Flügelspannweite bis zu 3,50 Meter.

Tessa hob den Blick. Ihr Wohnzimmer maß etwa vier mal vier Meter. Wenn ein Drache hier seine Flügel ausbreiten würde … Nein, Drachen waren echt nur Haustiere für reiche Menschen mit entsprechend großen Wohnungen oder Häusern.

Sie überflog den Rest des Artikels, aber nichts davon war neu oder relevant für Tessa. Deshalb suchte sie als nächstes nach dem Bielefelder Züchter, den Mia erwähnt hatte. Sie wurde schnell fündig.

Der Inhaber Henry Schlichtegroll hatte eine übersichtliche Website für seine Zucht namens Late Hour Dragons. In einer Fotogalerie stellte er seine Weibchen und Deckdrachen vor. Die Bilder sahen professionell aus, aber was Tessa sofort unangenehm auffiel, waren die Flügel.

 

„Oh nein, die sind ja kupiert“, seufzte Bella.

Den Flügeln fehlten tatsächlich die gesamten Flughäute. Die Knochen der Flügel spreizten sich wie lange, dürre Finger.

„Ist das überhaupt erlaubt?“, fragte Bella.

„Ja, leider.“ Tessa wechselte zurück in den Wikipedia-Tab. „Zumindest in manchen Ländern. Nach §6 des Tierschutz-Gesetzes ist das Kupieren der Flügelhäute bei Drachen in den meisten Ländern verboten. Ausnahmen sind Frankreich und Finnland. Und auch dort ist der Eingriff nur in den ersten drei Tagen nach dem Schlüpfen erlaubt beziehungsweise möglich. Das heißt, dieser Henry karrt seine frisch geschlüpften Drachen entweder regelmäßig nach Frankreich, oder er kupiert ihnen illegal die Flügel.“

Tessa sprach es nicht laut aus, aber sie hoffte insgeheim auf die zweite Option. Ein kleiner Skandal wäre auf jeden Fall spannender als nur der Bericht über die Zucht. Und in Zusammenhang mit Tieren sorgte so etwas immer für besonders viel Aufmerksamkeit und Empörung.

„Unglaublich, dass das überhaupt legal ist“, murmelte Bella.

„Ja“, stimmte Tessa ihr vorbehaltlos zu. „Das macht diesen Henry nicht gerade sympathisch.“

Trotzdem bemühte sich Tessa um ein unvoreingenommenes, höfliches Gespräch, als sie ihn wenig später anrief.

Nach kurzem Klingeln meldete sich eine männliche Stimme.

„Schlichtegroll?“

„Guten Tag, hier ist Tessa Pandino von Hertz 87.9, dem Campusradio Bielefeld. Ich interessiere mich für Drachenzucht und würde gerne einen Bericht darüber machen.“

„Oh. Okay.“ Henry klang überfordert. Im Hintergrund klapperte etwas. Ein Drache brüllte. „Braucht ihr ein Interview oder wie läuft das ab?“

„Ja, genau. Es wird auch kein langes Interview, höchstens zehn, fünfzehn Minuten. Ich kann auch vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist?“

„Ich glaube, ein Treffen auf neutralem Boden wäre besser.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen brüllte erneut ein Drache.

„Ich verstehe. Wie wäre es mit der Uni?“

„Ähm, ja, okay. Ich hätte gleich morgen Zeit.“

„Passt perfekt“, antwortete Tessa sofort. Sie hatte zwar morgen zwei Vorlesungen, aber keine davon mit Anwesenheitspflicht. Da war es ihr lieber, dieses Interview so bald wie möglich hinter sich zu bringen.

Sie machten eine Uhrzeit aus, Tessa bedankte sich, dann legte sie auf und seufzte.

Henry klang vollkommen unbeholfen. Das könnte zu einem Interview voller peinlichem Gestammel führen, was Tessa anschließend mühsam zusammenschneiden musste. Aber vielleicht würde der Kontrast Tessas professionelles Auftreten umso mehr betonen. Das würde sich schon noch zeigen.

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