Read the book: «Der Gesang des Sturms», page 4

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Kapitel 4

Sirany und Elendar waren dabei, mit Pfeil und Bogen zu üben. Es war offensichtlich, dass hier Siranys größtes Talent lag, obwohl sie sich oft bei den unzähligen Übungen langweilte. Fast immer traf sie, und wenn nicht, verfehlte sie ihr Ziel nur um einen Hauch. Heute hatte Elendar ein kleines Stück Fell an einen Baum genagelt, das es zu beschießen galt. Leider war Siranys Lehrer nicht bei der Sache. Er war übellaunig und brummig, sobald Sirany nicht traf. Die endlose Geduld, die Sirany sonst an ihm so schätzte, fehlte ihm heute vollkommen.

»Du bist unkonzentriert«, schimpfte er, als Sirany zum dritten Mal danebenschoss.

»Und du bist schlecht gelaunt.«

»Gib her. Ich zeig es dir noch mal.« Elendar nahm ihr die Waffe aus der Hand, legte einen Pfeil auf und schoss auf das Ziel. Er traf es nicht nur, die Spitze durchschlug sogar das Holz.

Sirany riss erstaunt die Augen auf. »So was geht?«

»Mit den Bögen der Assaren durchaus. Die Waffen der Korun sind sogar noch besser. Wir haben bislang nicht herausfinden können, warum das so ist.«

»Korun? Kennst du das Land? Warst du schon mal dort?«

Elendar zögerte kurz. Sein Gesicht verdüsterte sich dabei. »Korun grenzt direkt an meine Heimat. Es ging vor uns unter. Ich … lass uns nicht über die Korun sprechen. Das erinnert mich zu sehr an meine Vergangenheit.«

»Du hast das Thema begonnen. Dann lass uns weiter über Bögen sprechen. Kann man damit auch zwei Menschen gleichzeitig durchbohren?«

»Vermutlich schon. Warum fragst du solche Sachen?«

»Ich bin nur neugierig. Man weiß nie, ob man solch ein Wissen eines Tages benötigt.« Sirany nahm ihm Pfeil und Bogen ab und schoss weit daneben. Elendar seufzte tief, woraufhin Sirany ihn streng musterte. »Was ist los?« Als sie in seine abweisenden Augen blickte, entschloss sie sich. So konnte das nicht weitergehen. »Laufen wir ein Stück.«

Elendar wollte protestieren und fügte sich erst, als er in Siranys dunkel funkelnde Augen blickte. Sie legte ihre Waffe nieder, ging voraus und er folgte ihr einen gewundenen Pfad entlang, den sie schon unzählige Male zuvor gegangen waren. Meist übten sie abseits vom Lager, da sich Sirany unwohl fühlte, wenn sie von anderen beobachtet wurde. Kurz bevor sie auf den Pfad Richtung Lager gelangten, schlug sie sich seitlich in die Büsche und zog Elendar an der Hand mit sich.

»Wo willst du hin?« Elendar klang weiterhin gereizt.

»Spazieren gehen. Das lockert die Muskeln und entspannt.« Sie ließ den widerstrebenden Elendar los. Dort, wo ihre Finger zuvor um Elendars Handgelenk gelegen hatten, prickelte ihre Haut, als wäre eine Horde Ameisen darüber gelaufen. Ein seltsames Gefühl, das sie nicht ganz einordnen konnte. Eine Mischung aus Freude und Unbehagen.

Sie gingen eine Weile schweigend zwischen Bäumen und Büschen umher, wichen Löchern in der Erde aus und stiegen über Wurzeln und Steine.

Sirany wusste, dass Elendar irgendwann von sich aus anfangen würde zu erzählen, und so schwieg sie. Das Laub raschelte unter ihren Schuhen und die Vögel begleiteten ihren Weg mit fröhlichem Singen. Mäuse und Kaninchen flüchteten vor den zwei Menschen ins Unterholz und hinterließen wippende Zweige, die knackend hin und her hüpften.

Und dann endlich fing Elendar an zu sprechen. »Hast du manchmal Angst, Sirany?«

»Angst? Natürlich hab ich Angst.«

»Und wovor?«

Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Das behältst du aber für dich.«

Elendar nickte ernst.

»Ich hab Angst vor dem Gutsherrn. Davor, dass er mich entdeckt und zu sich ruft. Ich habe Angst vor der Reaktion meiner Eltern und davor, dass sie etwas unglaublich Dummes tun. Ich habe Angst davor, dass unsere Tiere nicht über den Winter kommen oder dass die Ernte schlecht ausfällt. Besonders habe ich Angst davor, dass meinen Eltern etwas passiert oder sie sich verletzen und nicht mehr arbeiten können. Wir leben am Rande der Existenzgrundlage und ich habe Angst, dass wir es eines Tages nicht mehr schaffen.«

Sie kamen in die Nähe eines Teiches und hörten das entfernte Glucksen von Wasser und das Platschen von tauchenden Enten.

»Wenn ich hier so entlanggehe, kann ich mir gar nicht vor­stellen, dass unsere Lage so ernst ist. Doch das ist sie. Wir hatten bisher Glück und haben überlebt. Das muss nicht immer so sein.« Sirany verstummte und blieb stehen. »Warum fragst du?«

»Nur so. Es hat mich interessiert.«

»Dich quälen Ängste«, sagte sie trocken. »Deshalb bist du so übel gelaunt. Was ist geschehen?«

Sie rechnete nicht mit einer ernsthaften Antwort und war entsprechend überrascht, als sie eine erhielt. »Die Zeiten ändern sich. Manchmal auch gegen unseren Willen.«

Elendar räusperte sich und ging weiter, um Siranys stechendem Blick zu entgehen. »Ich mag es nicht, wenn ich nicht Herr der Lage bin.«

»Du hast Angst davor.«

Pause.

»Mag sein.«

Sie hatten den kleinen Teich erreicht und Elendar setzte sich an das Ufer. Nichts regte sich in seinen Tiefen, die Fische waren alle auf Tauchstation gegangen und die Enten hatten sich rasch auf die andere Seite verzogen. Aus Erfahrung wusste Elendar, dass der Teich wesentlich tiefer war, als er erschien. Sein Rand fiel steil ab und ging danach mehrere Schritte in die Tiefe. Einzig seine schwarze Farbe wies auf seine Gefahren hin.

Sirany nahm neben ihm Platz und verzog das Gesicht, als sie sich genau auf eine matschige Stelle setzte. Sie schob sich trotzdem die Schuhe von den Füßen. »Was könnte denn in naher Zukunft passieren, warum du nicht mehr Herr der Lage bist?«, nahm sie das Gespräch von zuvor wieder auf. Sie ließ ihre Füße ins Wasser hängen und schauderte, als die Kälte in ihre Haut biss. Das Wasser war kühler als gedacht.

»Möglicherweise werden wir nicht mehr allzu lange in diesen Wäldern bleiben können.«

»Oh.« Siranys Magen zog sich vor Schreck zusammen, genau wie ihr Herz. Gleich darauf fing sie sich wieder. »Dann zieht ihr halt in den nächsten Wald und ich komme euch dort besuchen.«

Elendar lächelte traurig.

»Manchmal wundere ich mich wirklich über deine Naivität.«

Sirany wusste mittlerweile, dass Elendar das nicht beleidigend meinte. Trotzdem tat es ein wenig weh. »In bestimmten Fällen muss man seine Naivität behalten, um nicht traurig und depressiv zu werden. Es hat keinen Sinn, sich über Unausweichliches den Kopf zu zerbrechen. Erst recht nicht, wenn dieses Ereignis gar nicht feststeht. Vielleicht bleibt ihr hier und wir werden viele schöne Tage und Abende zusammen verbringen.«

»Ich mache mir Sorgen, dass ich deine Ausbildung nicht abschließen kann.«

Sirany seufzte tief. »Dein Beschützerinstinkt ist wirklich ausgesprochen ausgeprägt, ganz zu schweigen von deinem Verantwortungsbewusstsein.«

»Sei froh. Sonst wärst du jetzt tot.« Er hatte es leichthin gesagt, doch seine Worte hingen wie ein Fallbeil über ihren Köpfen. Die darauf­folgende Stille war ausgesprochen unangenehm.

»Steht euer Abzug denn fest?«, fragte Sirany vorsichtig.

»Nein.«

»Dann hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Genieße den Tag, Elendar, und entspann dich endlich.«

Elendar verzog das Gesicht zu einer Grimasse, während er beobachtete, wie Sirany ihre Ärmel hochkrempelte und nun auch ihre Arme in das eisige Wasser steckte.

»Mein Kopf ist so voller Sorgen, dass ich manchmal denke, er zerplatzt mir gleich wie eine reife Tomate«, vertraute er ihr an.

Oha. Elendar Assaim wurde redselig. Es musste ihm wirklich schlecht gehen. »Und welche Art Sorgen quälen dich?«

»Du weißt eine ganze Menge nicht über mich. Ernste Dinge. Wichtige Dinge.«

»Ich weiß.«

»Warum fragst du mich das nie? Jeder normale Mensch hätte das schon längst getan.«

Sirany lächelte schmal. Das war eine Frage, die sie sich selbst schon oft gestellt hatte. »Ich habe das Gefühl, dass mir die Antwort nicht gefallen wird. Du bist mein Lehrer und mittlerweile auch mein Freund. Ich mag dich so, wie du bist. Wir leben in unserer eigenen kleinen Welt, die mir so ausgesprochen gut gefällt. Wenn du mir jetzt mehr über dich erzählst, muss ich mich der Realität stellen.« Sie sah Elendar scharf an. »Wie schlimm sieht diese Realität aus?«

Er zögerte viel zu lange mit einer Antwort. »Sehr schlimm. Ich arbeite für Mächte, die mich vollkommen in der Hand haben. Für Leute, die nur auf einen Fehler von mir lauern, um mich endgültig zu vernichten. Und ich habe Feinde. Sehr gefährliche Feinde. Ihnen bin ich hilflos ausgeliefert. Ich kann nur jeden Tag hoffen, dass sie mich vergessen.«

Sirany hatte von den Gerüchten gehört. Ihr Vater hatte versucht, sie vor ihr zu verheimlichen, doch sie waren an ihr Ohr gedrungen. Sie atmete tief durch, um endlich eine entsprechende Frage zu stellen. »Man munkelt, du würdest den König der Shari persönlich kennen. Den Gottkönig dieser Welt.«

Elendar schnaubte verächtlich. »Alexej ist kein Gott. Er blutet genau wie wir. Ich habe es selbst gesehen.« Als er bemerkte, was er da gesagt hatte, winkte er rasch ab. »Mach dir keine Sorgen. Alexej und du, ihr werdet euch niemals begegnen.«

Wie sehr sich Elendar in dieser einen Sache irrte, sollte er Wochen später erfahren. Wahrscheinlich hätte er in diesem Moment einen Schlussstrich unter seine Freundschaft mit Sirany gezogen. So sagte er lediglich: »Dass wir hier fortgehen müssen, ist sehr wahrscheinlich.«

»Bist du dir da wirklich sicher?«

»Wärest du denn traurig darüber?«

»Wie kannst du bloß so eine dämliche Frage stellen?«

»Sie ist nicht dämlich«, entgegnete Elendar vehement und hätte noch mehr hinzugefügt, wenn Sirany nicht just in diesem Moment ihren Halt auf dem Ufer verloren hätte und mit einem Platsch ins Wasser gefallen wäre.

Sie tauchte einmal vollständig unter und erinnerte Elendar daran, dass der Teich wirklich verdammt steil abfiel. Prustend und keuchend kam sie wieder an die Oberfläche. Hilflos paddelte sie herum und so etwas wie Panik spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

Im ersten Moment hatte Elendar lachen wollen, aber der Humor blieb ihm im Hals stecken. Endlich begriff er, was er sah. Sirany konnte ganz offensichtlich nicht schwimmen.

Mit einem Fluch zog er sich die Schuhe von den Füßen, riss sich den Mantel herunter und sprang hinterher. Im Nu hatte er Sirany erreicht und gepackt, zog sie näher zu sich heran und hielt sie fest. Einander umklammernd paddelten sie für kurze Zeit still vor sich hin. Siranys Kleider waberten wie Quallen um sie herum und hüllten sie beide ein. Ab und an berührten sich ihre schlagenden Beine und Elendar spürte Siranys Herzschlag an seiner Brust, bemerkte mit erschreckender Klarheit ihre vor Kälte hart gewordenen Brustwarzen, die sich an ihn pressten.

Damit sie nicht unterging, hatte er ihr die Arme unter die Achseln geschoben und die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt. Jetzt spürte er ihre schwarzen Haare auf seiner Haut, wie sie ab und zu von ihren Bewegungen in Schwung gerieten und sanft über seine Arme glitten.

Ihre glitzernden Augen waren nur einen Hauch von seinem Gesicht entfernt, und als er in das tiefe Grün ihrer Iriden blickte, setzte sein Herz für einen winzigen Augenblick aus. Sein Körper reagierte instinktiv auf ihren Anblick, auf ihre Nähe. Normalerweise wäre er nun hastig von ihr abgerückt, doch hatte er in diesem Fall Angst, sie könnte wieder untergehen. Es blieb ihm nur zu hoffen, dass sie seine männliche Reaktion nicht als das erkannte, was sie war.

Dann sah er den Schalk in ihren Augen blitzen und ihm dämmerte langsam etwas. Für eine Nichtschwimmerin hatte sie erstaunlich wenig Angst und bewegte sich ein wenig zu sicher in seinen Armen.

»Kannst du wirklich nicht schwimmen?«, fragte er sie schließlich und seine Stimme klang ein wenig gepresster als sonst.

»Klar kann ich schwimmen. Sonst hätte ich mich kaum so lange in diesem Teich halten können. Ich wäre direkt untergegangen«, erwiderte sie mit einem breiten Grinsen. »Wo ich schon mal in den Teich gefallen bin, dachte ich mir, das sei die einzige Möglichkeit, um dir mal eine kräftige Abkühlung zu verschaffen.« Sprachs, und schon schwang sie ihre Hände auf seinen Kopf und legte all ihr Gewicht in ihre Arme, um ihn unter Wasser zu drücken. Elendar war viel zu verblüfft, um zu reagieren. Sekunden später fand er sich selbst in einer wilden Wasserschlacht mit Sirany wieder.


Von da an hatte sich die Stimmung zwischen ihnen verändert. Sirany konnte nicht genau sagen, was es war, aber es war spürbar, auf eine angenehme Art und Weise. Elendar blickte sie jetzt anders an, wenn er gerade dachte, sie würde es nicht sehen, und sie spürte seine Blicke als angenehmes Prickeln auf der Haut.

Sie wusste ganz genau, mit welchen Problemen Elendar im Teich zu kämpfen gehabt hatte, und dieses Wissen beruhigte sie. Seine körperliche Reaktion zeigte ihr, dass er sie nicht als eine Art Schwester ansah, die es auszubilden galt.

Sie musste sofort grinsen, wenn sie an den Moment zurückdachte, als sie aus dem Teich geklettert war und mit tropfendem Rock und wahrscheinlich ziemlich durchsichtigem Hemd am Ufer gestanden hatte. Elendar hatte sich rasch umgedreht, ihr zugerufen, sein Mantel liege im Matsch und sie könne ihn gern überziehen, und war eine Runde schwimmen gegangen, fadenscheinig behauptend, er wolle sich ein wenig abkühlen.

Später versuchte Elendar, sich nichts anmerken zu lassen. Er hielt weiterhin den gewohnten Abstand zu ihr, nutzte aber doch jede Gelegenheit, um ihn zu durchbrechen. Sei es beim Bogenschießen, wenn sie den Bogen angeblich nicht richtig hielt, oder bei der Selbstverteidigung, wenn er sie manchmal ein klein wenig zu lange im Klammergriff hielt. An manchen Tagen ergab sich keine Gelegenheit und dann spürte Sirany, dass sie etwas vermisste.

Seine kurzen Berührungen, und waren sie noch so flüchtig, waren Balsam für ihre Seele. Sie mochte es, wie er sie ansah, und freute sich, wenn er mit ihr lachte. Es war eine gute Zeit.

Natürlich war es nicht die ganze Zeit einfach. Oft war Elendar gestresst oder gereizt. Dann fauchte er sie an oder behandelte sie wie Luft. In dem Fall war Sirany geduldig und wartete auf bessere Laune.

Was er ihr kurz vor ihrem Sturz in den Teich anvertraut hatte, beschäftigte sie sehr. Sie wusste, dass seine oftmals angespannte Stimmung damit zu tun haben musste. Sie fragte sich oft, von welchen mächtigen Männern er seine Befehle bekam. Wer erteilte ihm die Aufträge? Und was musste er dann tun? Und vor allem: Was hatte es mit seiner Andeutung über Alexej auf sich?

Sirany war nicht dumm. Sie spürte, dass solche Worte wie aus Elendars Mund tödlich sein konnten. Alexej war Gottkönig. Seine Kraft durfte nicht angezweifelt werden. Allein der eine Satz hätte gereicht, um sie beide zum Tode zu verurteilen.

Alexej ist kein Gott.

So etwas durfte man in einem sharisch besetzten Land niemals sagen. Niemals!

Sirany sprach Elendar deshalb nicht erneut darauf an und mied solche Themen. Sie hatte das Gefühl, der Politik der Mächtigen viel zu nahe zu kommen. Gefährlich nahe. Daher trat sie einen großen Schritt zurück und befasste sich lieber mit Dingen, die sie begriff.

Bogenschießen zum Beispiel.

Bis Elendar erneut etwas tat, was sie überraschte. Er lud sie ein ins Lager. Das war etwa ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung. Dass er ihr einen festen Zeitpunkt nannte und sich dabei seltsam unbehaglich bewegte, verwirrte Sirany, machte sie aber neugierig. Normalerweise kam sie immer dann, wenn sie Zeit hatte. Waren die Männer dann nicht in der Zeltstatt anzutreffen, was häufig geschah, kam sie einfach ein andermal wieder. Jetzt wollte Elendar sie zu einer bestimmten Zeit sehen.

Er bat sie sogar, ein Kleid anzuziehen. Ein schönes.

Sirany kam die Sache sonderbar vor, doch sie tat wie geheißen. Also zog sie ihr bestes Kleid an – ihre Mutter hatte es in zahlreichen stürmischen Nächten für sie genäht – und frisierte sich sorgsam die Haare. Nach langem Überlegen trug sie sogar etwas Beerensaft auf ihre Lippen auf, puderte sich die Wangen und zog sich die Augenlider mit Kohle nach.

Dann starrte sie ihr Spiegelbild an und fragte sich zum ersten Mal, wie Elendar sie sehen mochte.

Durch das viele Arbeiten unter freiem Himmel hatte sie leicht rötliche Wangen, die durch das Puder nun betont wurden. Ihre Lippen waren voll und schön geschwungen, das wusste sie, nur welche Art von Lippen Elendar gefielen, wusste sie nicht.

Seufzend fuhr sie sich über das Kleid, das sich sanft an ihre Haut schmiegte. Ihre Hüften waren im letzten Jahr breiter geworden, die Taille etwas schmaler. Das Einzige, was sich nicht geändert hatte, war ihr Brustumfang.

Stirnrunzelnd betrachtete sie die kleinen Erhebungen, straffte sich und schob die Brust nach vorn. Das Kleid war ein wenig zu tief ausgeschnitten für ihren Geschmack, doch das war nun nicht mehr zu ändern.

Rasch zog sie sich ihre dicken Lederstiefel an, wickelte sich in ihren warmen Mantel und verließ wie viele Male zuvor das Haus durch den Hintereingang, nachdem sie ihren Eltern einen schönen Abend gewünscht hatte.

Die beiden sahen sich vielsagend an, nachdem sie ihre Tochter erblickt hatten und sie dann gegangen war. Schminke war für sie ein eindeutiges Indiz für ihre Vermutungen.

»Du musst bald mit ihr reden«, murmelte Sarn. »Ich mache mir große Sorgen um sie.«

»Weil unsere Tochter erwachsen geworden ist und sich zum ersten Mal verliebt hat? Oder weil dir ihr Auserwählter nicht gefällt?«

»Ich kenne diesen Elendar nicht, aber die Gerüchte über ihn. Ich spüre es bis in die Knochen: Da braut sich was über unseren Köpfen zusammen. Wir müssen herausfinden, was los ist. Und wir müssen entscheiden, ob wir Sirany den Umgang mit diesem Fremden weiter erlauben.«

»Falls du den Beginn unserer Unterhaltung vergessen haben solltest: Unsere Tochter ist erwachsen geworden. Wir können ihr nichts mehr verbieten. Das hätten wir vor einem Jahr tun müssen. Jetzt ist es zu spät. Glaube mir, auch ich mache mir Sorgen. Ich habe vor einem Jahr beschlossen, dass Elendar gut für Sirany ist und sie nicht ins Unglück stürzen wird. Dabei bleibe ich.«

Aileen klammerte sich an ihre eigenen Worte wie eine Ertrinkende. Jeden Abend betete sie zu ihrem verbotenen Gott, dass sie recht behielt. Aber was war, wenn sie sich irrte?


Beschwingten Schrittes schlug Sirany den ihr so vertrauten Weg ein, durchquerte den Wald und erreichte bald ihr Ziel. Sie freute sich auf das Wiedersehen, doch als sie im Lager der Männer ankam, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Anblick, der sich ihr nun bot.

Elendars Männer hatten sich halb nackt um ein Feuer gruppiert, jeder nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Ihre Körper glänzten im Schein der Flammen wie Öl. Sie waren mit seltsamen Runen bemalt, einige mit ausgesprochen anrüchigen Bildern geschmückt. Die langen Haare hatten sie zu wilden Frisuren geformt.

Instinktiv suchte Sirany Elendar in dem Getümmel, fand ihn schließlich nahe dem Feuer neben Ray, dem jüngsten Mitglied seiner Truppe.

Auch Elendar war fast nackt. Sein Lendenschurz bedeckte wenigstens auch sein Hinterteil. Als er sich bewegte, tanzte das Licht auf seinen Muskeln, die er wie alle anderen mit Öl eingerieben hatte. Sein Körper war etwas dezenter mit Runen verziert, geschwungene Linien zeichneten die eleganten Konturen seiner Schultern nach. Er war auch der Einzige, der sich nicht das Gesicht mit breiten schwarzen Strichen verunziert hatte.

Einen Moment erwog Sirany ernsthaft, den Rücktritt anzutreten. Sie kannte die Männer mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie ihr nichts Böses wollten, aber ihr furchterregender Anblick tat bei ihr Wirkung. Sie waren viel zu unheimlich. Sirany wollte weiter an ihrem Mut feilen, doch das hier war zu viel. Ihr Kopf schlug Alarm und ihre Beine versuchten wie von selbst die Flucht zu ergreifen.

Sie wollte gerade wieder kehrtmachen, da bemerkte Elendar sie. Mit ein paar mächtigen Sätzen seiner langen Beine war er bei ihr angekommen und fasste sie sanft am Arm, um sie am Fortgehen zu hindern.

»Hallo, Sirany«, begrüßte er sie atemlos. Seine Augen glitzerten freudig. »Entschuldige. Ich hätte dich auf ihren … unseren Anblick vorbereiten sollen. Ich musste es dir verschweigen. Sonst wärest du bestimmt nicht gekommen.«

»Anzunehmen«, antwortete Sirany trocken. Sie musste sich zusammenreißen, um ihren Blick nicht von seinem Gesicht über seinen Körper gleiten zu lassen. Elendars Anziehungskraft war in dieser Sekunde noch stärker als sonst. »Seid ihr verrückt geworden?«, fragte sie.

»Wir feiern Madre, das Fest der Frauen.«

Sirany starrte ihn weiterhin sprachlos an.

Elendar holte tief Luft und nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Seit gut drei Jahren feiern wir Madre nun ohne eine Frau, was Unsinn ist. Ich hätte dich niemals gefragt, ob du kommen möchtest, doch meine Männer haben mich darum gebeten. Sie wollen, dass du mit uns feierst.«

Siranys Blick irrte zu der Ansammlung wuchtiger Körper hinüber, die jetzt in einem wilden Tanz um das Feuer herumwirbelten und reichlich Bier dabei verschütteten.

»Es ist harmlos. Ehrlich.«

Elendar sah, wie sich Sirany am liebsten ängstlich zurückgezogen hätte und nur aus Vertrauen zu ihm hier stand.

»Passt du auf mich auf? Ich bin eine Frau mit Anstand und deine Männer sind bereits betrunken. Sie müssen sich mir gegenüber benehmen.«

»Natürlich. Es sieht wilder aus, als es ist.«

»Benimmst du dich mir gegenüber auch? Keine ungebührlichen Annäherungen.«

Sirany sah Elendar bei dieser Frage nicht an. Sie bemerkte, dass er bei seiner Antwort kurz zögerte. »Ich rühre dich nicht an. Versprochen.«

Die junge Frau nickte. »Gut. Dann lass uns zu ihnen gehen.«

Es war erstaunlich mit anzusehen, wie schnell sich Sirany in das wilde Treiben einfand. Es war Tradition, dass zuerst eine Frau ganz allein um das Feuer tanzte und die anderen nach kurzer Zeit zum Mitmachen aufforderte.

Da sich Sirany jedoch verspätet und Elendar ohnehin stark bezweifelt hatte, dass sie den Mut dazu gehabt hätte, mit dem Tanz zu beginnen, hatten die Männer schon einmal angefangen.

Als Sirany in den Schein der Flammen trat und die Assaren sie bemerkten, blieben alle jäh stehen. Die meisten begrüßten sie freundlich und warteten darauf, dass Sirany zu tanzen begann.

Die junge Frau fühlte sich sichtbar unwohl in ihrer Haut, zog Schutz suchend ihren Mantel enger um sich und hielt sich so dicht wie es ging neben Elendar. Schweigen trat ein, während sich alle Augen auf Sirany richteten.

Efnor rettete die Situation, indem er ihr Bier anbot. Zuerst wollte sie ablehnen, nahm aber schließlich dankbar den Krug entgegen. Mit zitternden Händen nahm sie einen tiefen Schluck. Gleichzeitig verfluchte sie sich, nicht die Flucht ergriffen zu haben.

Zwei Männer hatten bisher einsam auf einer Geige und einer Laute vor sich hin gespielt, jetzt veränderte sich der Rhythmus der Musik, wurde schneller, mitreißender.

Der Rest der Assaren begann, im Takt mit den Händen zu klatschen, andere stampften mit den Füßen und tänzelten ungeduldig auf der Stelle. Sie wollten zurück zum Feuer, zurück zum Tanz.

Elendar beugte sich zu Siranys Ohr herab. »Sie warten darauf, dass du den neuen Tanz beginnst. Bei diesem Fest ordnen sich die Männer stets unter. Du musst das nicht tun. Ich kann meine Männer gern vorausschicken.«

Impulsiv wollte Sirany sich für Letzteres entscheiden, zögerte jedoch. Schweigend nahm sie einen tiefen Zug aus dem Krug, straffte sich und betrat den flimmernden Lichtkreis rund um das Feuer.

Erst kam sie sich albern vor, sich ohne jede Vorgabe im Takt der Musik zu bewegen. Die Männer waren nur so begeistert von ihr, dass sie schnell ihre Scheu überwand. Ihre Beine wirbelten schneller über den Boden, sie schien zu schweben und mit den Flammen eins zu werden.

In dieser Sekunde fühlte sie sich so mutig und frei wie noch nie in ihrem Leben. Die Gefahren ihres Alltags verblassten und sie hatte den Eindruck, mit genügend Mut alles erreichen zu können.

Die Assaren folgten ihr mit den Blicken und erfreuten sich an dem Wissen, dass nach so langer Zeit endlich einmal wieder eine Frau unter ihnen weilte. Eine Frau, die sogar mit dem Tanz begann.

Nach und nach folgte Mann um Mann Siranys wildem Beispiel, bis die ganze Horde mit fröhlichem Gelächter tanzte, bis die Musik im Gestampfe zahlreicher Füße unterzugehen drohte. Das störte niemanden besonders.

Sirany brauchte eine Weile, um Elendar im Getümmel wieder zu finden. Er war einer der wenigen, die am Rand standen und nur zusahen. Seine Blicke folgten wie gefesselt ihren Bewegungen. Sie näherte sich ihm sofort und blieb mit glühendem Gesicht vor ihm stehen, rang nach Atem. Ihre Füße wollten gar nicht mehr still stehen.

»Warum tanzt du nicht?«, fragte sie nach Luft schnappend.

»Ich tanze nicht.«

»Und warum trinkst du nichts?«

»Ich trinke nie.«

»Du bist ein sonderbarer Mensch.«

Ohne weiter auf seinen schwachen Protest zu achten, erfasste sie seine Hand und zog ihn hinter sich her in die wogende Menge.


Das Fest dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Es wurde viel gelacht, getrunken und getanzt, bis allen die Füße wehtaten und sich kaum noch einer rühren konnte.

Als eine der Letzten stand Sirany auf der Tanzfläche, bewegte sich sanft zu den gedämpfteren Klängen und war tief in Gedanken versunken.

Elendar wusste, dass die junge Frau weit mehr getrunken hatte, als für sie gut gewesen war. Er hatte sich nicht als ihr Aufpasser aufspielen wollen und sie einfach machen lassen.

Jetzt beobachtete er schmunzelnd ihre schlenkernden Bewegungen und genoss ihren Anblick, den er trotz der späten Stunde nicht leid geworden war.

Ein Mann nach dem anderen verkroch sich grunzend in sein Zelt. Als sich sogar der letzte verbliebene Musiker verabschiedet hatte, stand auch Elendar auf, um zu Sirany hinüberzugehen.

»Komm«, sagte er freundlich, ergriff ihre Hand und zog sie hinter sich her. Sirany folgte ihm brav wie ein Lämmchen und wehrte sich nicht, als er sie auf sein Lager dirigierte. Undeutlich brummelnd krabbelte sie unter das oberste Fell, rollte sich zu einem Ball zusammen und war eingeschlafen, ehe Elendar seine Schuhe ausgezogen hatte.

Elendar hielt sich an sein Wort. Er machte keinerlei Anstalten, Sirany die Schuhe auszuziehen oder sie sonst zu berühren. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, legte er sich ans andere Ende des Bettes, seufzte tief und versuchte zu schlafen, während er Siranys Atem­zügen lauschte.


»Warum trinkst du nichts?«

Siranys Stimme drang undeutlich wie aus weiter Ferne an Elendars Ohr und riss ihn unsanft aus dem Schlaf.

Verwirrt öffnete der Assar die Lider und blickte direkt in Siranys schöne Augen. Die junge Frau hatte sich längs neben ihn gelegt, ihr Gesicht ruhte auf den gefalteten Händen. Ihre schwarze Haarpracht lag wie ein Kunstwerk über den Fellen und umfloss ihr Gesicht. Sie wirkte völlig schlaftrunken und rieb sich wiederholt über die verquollenen, rot geränderten Lider.

Als er nicht antwortete, rückte sie näher, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Erst dann fragte sie erneut: »Warum trinkst du nicht?«

Elendar brauchte lange, um sich an den plötzlichen Schock, Sirany auf einmal so nahe zu sein, zu gewöhnen. Verwirrt rückte er von ihr ab und betrachtete sie kritisch.

»Warum trinkst du so viel?«

»Weich nicht aus.«

»Ich darf nicht trinken. Der Verstand des Anführers sollte nicht vom Alkohol vernebelt sein, solange sich seine Männer in Feindesland befinden.«

In Feindesland. Allein das Wort verursachte Sirany eine Gänsehaut. Sie hatten in dem Jahr, das sie zusammen verbracht hatten, dieses Thema nie angeschnitten. Sie war eine Farreyn. Er ein Assar. Machte sie das theoretisch zu Feinden?

»Ich glaube nicht, dass unser Land Feindesland ist«, brachte sie schließlich mutig hervor.

»Ich betrachte alles außerhalb von Assanien als Feindesland.«

»Klingt anstrengend.«

»Das ist es auch.«

Lange Zeit lagen sie einander so dicht gegenüber, dass sie den Atem des anderen auf der Haut spüren konnten. Elendar schloss die Augen und prägte sich dieses Gefühl ein, das Siranys Nähe bei ihm verursachte, atmete tief ihren Geruch ein, der ihm von gestern Abend erzählte.

»Ich muss gleich gehen«, flüsterte Sirany. Auch sie spürte die besondere Atmosphäre, die zwischen ihnen herrschte. »Meine Eltern machen sich sonst wieder Sorgen.«

»Gib mir noch fünf Minuten.«

Fünf Minuten, in deren Verlauf sich Elendar Assaim mit jeder verstreichenden Sekunde klarer wurde, dass er sich Hals über Kopf in Sirany verliebt hatte.

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652 p. 5 illustrations
ISBN:
9783959913478
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