Phantastica

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5. Immunität gegen Gifte.

Auf dem so vielgestaltigen Boden des Individualismus im weitesten Sinne des Begriffes erwächst bei bestimmten Lebewesen die Erscheinung einer deutlich angeborenen, bisweilen, dem Anscheine nach, absoluten Immunität gegen bestimmte Vollbringer von Giftwirkungen und andersartige Schädiger, die, wie auf den vorstehenden Blättern ausgeführt wurde, wenn überhaupt, so doch nur bis zu gewissen Grenzen durch allmähliche Gewöhnung an steigende Dosen erreichbar ist. Es sieht fast so aus, als ob nicht nur in einzelnen Tierklassen, sondern auch bei Menschen derartiges vorkommen könne, z. B. in Bezug auf das Unterbleiben von Wirkungenbei solchen, die in großen, gefährlichen Epidemien den Umständen nach Krankheitsstoffe in sich haben aufnehmen müssen und dennoch gesund geblieben sind. Ich habe mich jedoch bisher nicht davon überzeugen können, dass bei Menschen eine Immunität von vornherein für bekannte chemische Gifte bestände. Wo man glaubte, eine solche an[37]nehmen zu dürfen, waren es wohl, wie z. B. bei der Einwirkung giftiger Gase, äußere Umstände, die auf das Nichtentstehen von Vergiftung bestimmend wirkten oder es handelte sich um Mengen, die nicht ausreichten, um bei den Betreffenden, Unterempfindlichen, akute, in die Augen fallende Störungen hervorzurufen. Solche hochgradigen Unterempfindlichkeiten, wie sie z. B. für Äthylbromid, Äthylchlorid, Chloroform vorkommen, sind nicht den Immunitäten gleichzusetzen, die man bei manchen Tieren gegenüber Giften wahrnehmen kann, die unter allen Umständen bei Menschen Wirkungen zu veranlassen geeignet sind. In der Organisation solcher Tiere müssen in dieser Beziehung bestimmende Eigenheiten liegen, die sie manche Gifte – soweit dies erkennbar ist – unbeschadet aufnehmen lassen.

Von dem Igel, der bisher als ein in mancher Beziehung „giftfestes“ Tier gegolten hat, erbrachte ich den Nachweis,16 dass er in der Tat z. B. große Mengen von spanischen Fliegen oder Kreuzottergift verträgt, dass diese Widerstandskraft jedoch nur eine relative ist. Ja, die Kreuzotter selbst erwies sich in meinen Versuchen nicht absolut immun gegen ihr eigenes Gift, sondern nur in einem bestimmten Mengenverhältnis. Außerdem zeigte sich bei ihr unter solchen Umständen eine beträchtliche Wirkungsverzögerung.

Auf diesem Gebiete gibt es jedoch so bestimmte weitere Beobachtungen auch über absolute Immunitäten gegen starke Gifte, dass man – die Richtigkeit vorausgesetzt – annehmen muss, dass dann eben bei solchen Lebewesen die Angriffsflächen dafür so anders als bei anderen Tieren und Menschen sind, dass eine toxische Reaktion nicht auslösbar ist. So wirkt z. B. Mucor rhizopodiformis, ein Schimmelpilz, auf Kaninchen giftig ein, auf Hunde gar nicht. Das Weizenälchen, Tylenchus tritici, lebt in Glyzerin vortrefflich und [38] Belladonna, Morphin, Atropin, Strychnin sind für dasselbe unschädlich. Dagegen geht es durch Metallsalze, Säuren und Alkalien zugrunde. Enten, Hühner und Tauben werden durch innerlich gereichtes Opium nicht vergiftet. Der Nashornvogel frisst die Samen von Strychnos nux vomica, Mäuse die des Taumellolches, Amseln Tollkirschen, Meisen die Samen von Stechapfel, Staare die Schierlingsamen, Kaninchen und Meerschweinchen Blätter und Früchte von Belladonna,17 Kühe, Schafe, Schweine angeblich Bilsenkraut, Schnecken Belladonnablätter, die Larve von Deϊopeϊa pulchella nährt sich von der sehr stark giftigen Calabarbohne, die Raupen von Ornithoptera darsius von einer giftigen Aristolochia, deren Gift sich, wie es scheint, dem Schmetterling mitteilt, die Oleanderraupe frisst die giftigen Oleanderblätter und Cimex hyoscyami die Bilsenkrautblätter. Wildschweine sollen begierig die Farnwurzel fressen, Kaninchen gegen Haschisch refraktär sein und Pferde in Guadeloupe begierig die bei Menschen Entzündung erzeugenden Blätter von Rhus Toxicodendron aufnehmen. Ziegen und Schafe verzehren im Kaukasus Veratrum, die Nieswurz, während Pferde und Kühe dort dadurch Giftwirkungen bekommen.

Zu solchen Rätseln gehört auch das Verhalten mancher Tiere gegen niedere Temperaturen. Kann doch der Gletscherfloh, Desoria glacialis, nicht nur auf den Firnfeldern umherspringen, sondern sogar wochen- und monatelang bei – 110 einfrieren, ohne an Lebensenergie einzubüßen, was im Flachlande auch der Schneefloh, Degeeria, kann. Und dabei bestehen sie doch aus Eiweiß! Andererseits vertragen die gewöhnlichen Flöhe nicht das Klima von Feuerland und gehen, dorthin eingeführt, zugrunde. Welche Annehmlichkeit für die Feuerländerinnen!

[39] Allenthalben auf diesem großen Gebiete, der Reaktivität, der Nichtreaktivität und der Andersreaktivität von Lebendem auf körperfremden oder körperheimischen Einfluss starren uns unlösbare Lebensrätsel entgegen. Sie zu lösen ist unmöglich, sie in ihren wechselvollen Äußerungsformen kennen zu lernen notwendig. Die auf die betäubenden und erregenden Genussmittel sich beziehenden gehen alle Menschen, auch diejenigen von selbstzufriedener Gleichgültigkeit, an. Sie gehören zu den Weltfragen, an deren Beantwortung ein jeder der Beteiligten – und wohl alle Menschen sind daran beteiligt – automatisch oder bewusst teilnehmen muss.

[41]

Die Betäubungsmittel.

[43]

1. Die Wirkungsart der Betäubungsmittel.

Die Stoffe, denen Wirkungen zukommen, wie ich sie zuvor allgemein geschildert habe, lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen, die zwar nicht scharf voneinander trennbar sind, aber doch Unterschiede in der Wesenheit ihrer energetischen Fähigkeiten bzw. deren Äußerungs- und Verlaufsart aufweisen. Es ist ohne weiteres verständlich, dass bei einer Beeinflussung des Gehirns, mit einer verschiedenen reaktiven Wertigkeit einzelner seiner Teile auch in Bezug auf scheinbar gleichartig wirkende Stoffe gerechnet werden muss. Selbst wenn man willig zugibt, dass die scheinbare Gleichartigkeit der letzteren in Wirklichkeit nicht besteht und nur aus Mangel an Erkennungsmöglichkeit den Eindruck der Wirkungsgleichartigkeit macht, so bleiben noch genug toxikologische Erfahrungstatsachen übrig, die dafür sprechen, dass der feinere chemische Bau einzelner Gehirnteile nicht summarisch als überall übereinstimmend gleich aufgefasst werden darf. Es müssen in ihnen neben quantitativen auch qualitative chemische Unterschiede sowohl in der weißen als auch der grauen Gehirnsubstanz bestehen. Die bisherigen chemischen Untersuchungen sagen darüber herzlich wenig aus. Sie stellten z. B. fest, dass in der grauen Substanz die Menge des Eiweißes und der Leimbildner mehr als die Hälfte und in der weißen etwa ein Viertel der organischen Stoffe beträgt, die Menge des Cholesterins und der Fette in der grauen nur den dritten Teil und das Cerebrin etwa den zwanzigsten Teil so groß wie in der weißen Substanz ist usw. [44] Selbst wenn die genannten und andere Stoffe wirkliche Bestandteile und nicht Zersetzungsprodukte wären, so gäben sie nur über den chemischen Bau des toten Gehirns, aber nicht über denjenigen seiner Teile und gar nicht über die funktionierenden Stoffe des lebenden Auskunft. Bestehen, wie ich annehme, Unterschiede, dann ließe sich verstehen, warum an das Gehirn gelangende chemische Stoffe in dessen einzelnen Gebieten verschiedenartige oder verschieden starke Wirkungen auslösen. Cholesterin, Phosphartide, Kephalin, Cerebroside sind nur Namensbezeichnungen für Stoffe, deren kausale Beteiligung weder an normalen noch krankhaften Betriebsvorgängen im Gehirn zu verstehen ist.

Unterschiede auch in den Lebensbedürfnissen verschiedener Gehirngebiete erschließe ich aus manchem Vergiftungsvorgange. So ist es z. B. bisher ganz unmöglich gewesen auch nur näherungsweise zu verstehen, weshalb als Folge der Kohlenoxidvergiftung mit Vorliebe die

basalen Ganglien, vor allem der Streifenhügel aber auch der Linsenkernen, der Seehügel und die Vierhügel betroffen werden. Die nächstliegende Annahme würde dahin gehen, bei diesen Gehirnteilen ein erhöhtes Bedürfnis nach sauerstoffhaltigem, unverändertem Blut vorauszusetzen, dem durch kohlenoxidhaltiges nicht genügt werden kann – nebenher vielleicht aber auch eine erhöhte chemische Reaktionsfähigkeit auf Stoffe, die aus Zersetzungsvorgängen in den genannten, in ihrer Ernährung gestörten Teilen selbst stammen.

Unterschiede in der Reaktionsfähigkeit einzelner Gehirnteile oder Punkte gegenüber gewissen chemischen Stoffen ergeben sich auch bei der Betrachtung des Verhaltens, z. B. des verlängerten Markes zu narkotischen Stoffen. Während die Zentren der Großhirnrinde auf solche schnell mit Ausfall von Funktionsstückchen reagieren, verlangt das Atmungszentrum für Funktionsänderungen viel mehr Zeit und wirkende Masse. Als Ursache eines so verschiedenen Verhaltens [45]ist nicht allein die Höhe der der wirkenden Dosis anzusprechen, denn wenn auch das Massenwirkungsgesetz in Bezug auf Wirkungen von Arzneistoffen und Giften in einer gewissen Breite fraglos Geltung hat, so ist diese doch nicht mit derjenigen in Vergleich zu stellen, die sie in der Chemie besitzt.

Zu den konstanten reaktiven Äußerungen des Gehirns auf narkotische Stoffe gehört eine primäre Erregung. Ich betrachte es als eine allgemeine biologische Regel, dass eine Funktionsminderung irgendeines körperlichen Organs voraufgegangen wird von einer Funktionserhöhung, die der Ausdruck einer primären Reizung ist. Die Stärke einer solchen Reizwirkung und ihre Dauer hängt von der individuellen Leistungsbeschaffenheit des Gehirns und der Art der wirkenden Substanz ab. Sie ist immer vorhanden, wenn sie auch nicht immer grob sinnlich wahrnehmbar ist und sie kann so groß sein, dass sie für eine gewisse Zeit die einzig erkennbare Reaktion darstellt.

 

Neben solchen durch die betreffenden Stoffe direkt hervorrufbaren Wirkungen am Zentralnervensystem kommen solche bei anderen Organfunktionen zustande, die, wie ich schon ausführte, als Abhängigkeitswirkungen zu bezeichnen sind. Wenn man an die überaus große, stetige Beeinflussung des körperlichen Lebens durch Gehirn und Rückenmark denkt, wie Herz und Atmung, Drüsen, Muskeln, Sinnesorgane usw., ja, meiner Überzeugung nach, auch die Nahrungs- assimilationsvorgänge Arbeitsimpulse von den Nervenzentren aus erhalten, so wird ohne weiteres die Notwendigkeit klar, dass als Wirkungsfolge von narkotisch wirkenden Stoffen auch die in wesentlicher Abhängigkeit vom Nervensystem lebenden Organe beeinflusst werden. Was dadurch an Symptomen bewirkt wird, stellt, zusammen mit den primären Einflüssen auf Gehirn bzw. Rückenmark, das Wirkungsbild dieser Substanzen dar.

In welcher Weise die Gehirnbeeinflussung durch betäubende Stoffe sich letzten Endes vollzieht, dies zu erkennen, [46] ist bisher niemand vergönnt gewesen. Weniger noch als dies! Selbst ein Ahnen der bei der künstlichen Erzeugung von Schlaf oder der Stillung von Schmerz sich abspielenden Vorgänge ist unmöglich. Keiner der vielen Deutungsversuche verdient Erwähnung. Sie sind kaum etwas anderes als Umschreibungen der Vorgänge selbst und fordern den Spott heraus.

Sind es chemische Wirkungen, die sich in der Nervenmasse, z. B. der Großhirnrinde, abspielen? Ich nehme es an und halte den Zweifel, der sich hiergegen erhebt und der durch die Kleinheit der Mengen begründet wird, die von manchen solcher Stoffe für die Herbeiführung einer Wirkung erforderlich sind, für nicht genügend begründet, um diese Anschauung umzustoßen. Denn wenn auch eine Menge von 0,0005 g Scopolaminsalz im Verhältnis zu der Gehirnmasse scheinbar so klein ist, dass Gehirnwirkungen, wie sie tatsächlich in Gestalt des Dämmerschlafes dadurch erzeugbar sind, überraschen, so ist doch zu bedenken, dass es sich hier wahrscheinlich nur um Einwirkungen auf bestimmte Zentren, d. h. Punkte der Gehirnmasse, handelt. Auf solche könnte das Narkoticum z. B. auch katalytisch wirken, also eine Zeitlang selbst chemisch unverändert bleiben und doch im lähmenden oder erregenden Sinn eine Wirkung auslösen, solange die Berührung an den beeinflussbaren Stellen dauert. Die Annahme bedarf keines Zwanges, dass das Scopolamin oder das Morphin auf diese Weise Funktionsvorgänge, deren das Gehirn fähig ist und die z. B. zum Schlaf führen, hemmen oder beschleunigen kann.

Für eine Gruppe solcher Stoffe, die Inhalationsanästhetika, wird ihre chemische Wirkung nähergerückt, weil sie die erkennbare Fähigkeit besitzen, lösend auf die fettartigen Stoffe des Gehirns zu wirken, also dadurch ohne weiteres als befähigt angesehen werden müssen, auch funktionell ändernd einwirken zu können. Was ich in dieser Weise vor Jahrzehnten als Wirkungsursache derartiger [47] Substanzen begründete18 und was literarische Wegelagerer aufgegriffen und unter ihrem Namen verbreitet haben, hat ein großes Maß von Wahrscheinlichkeit für sich. Das was dabei unverständlich ist, nämlich die Schnelligkeit der Wiederherstellung des Normalzustandes nach dem Fortfall der Stoffwirkung, entzieht sich der Erkenntnis. Die Annahme einer katalytischen Kontaktwirkung, wie sie bei anderen derartigen Stoffgruppen möglich ist, lässt demgegenüber für das Wiedereintreten der normalen Funktion keine Verstehensschwierigkeiten erwachsen.

2. Systematik der betäubenden und erregenden Genussmittel.

Die auf das Gehirn zeitweilig funktionsändernd wirkenden und zu Betäubungs- bzw. Erregungswirkungen benutzten Stoffe teile ich in die folgenden Gruppen:

Erste Gruppe: Euphorica, Seelenberuhigungsmittel. Stoffe, die des Verwenders Gefühls- und Empfindungsleben im weitesten Sinne des Begriffes und in irgendeinem Umfange mit erhaltenem oder teilweis oder ganz geschwundenem Bewusstsein mindern bzw. aufheben und in ihm seelisches und körperliches Behagen, auch mit Freisein von Affekten bewirken. In diese Reihe gehören Opium und seine Inhaltsstoffe, Morphin, Kodein usw. sowie Kokain.

Zweite Gruppe: Phantastica, Sinnestäuschungsmittel. Sie umfasst in ihrem chemischen Bau weit auseinanderstehende Stoffreihen, pflanzliche Stoffe, die als eigentliche Phantastica zu bezeichnen sind. Ihre Vertreter, wie Anhalonium Lewinii, Cannabis indica und die tropein[48]haltigen Pflanzen, rufen eine deutliche, auch in der Gestalt von Sinnestäuschungen, Halluzinationen, Illusionen un Visionen erkennbare Gernerregung hervo, die von Bewusstseinsstörungen und anderen Ausfallssymptomen von Gehirnfunktionen begleitet oder gefolgt sein können.

Dritte Gruppe: Inebriantia, Berauschungsmittel. Synthetisierbare Stoffe, wie Alkohol, Chloroform, Äther, Benzin, die nach einer primären Erregung von Gehirnzentren eine Erregbarkeitsabnahme eventuell bis zum zeitlichen Versagen derselben verursachen.

Vierte Gruppe: Hypnotica, Schlafmittel.

Fünfte Gruppe: Exzitantia, Erregungsmittel. Genussmittel aus dem Pflanzenreich, die in der Regel eine mehr oder minder in die Erscheinung tretende bzw. subjektiv empfundene Erregung des Gehirns ohne Bewusstseinsstörung hervorrufen. Hierher gehören z. B. koffeinhaltige Stoffe, Catha, Taba, Betel, u. a. m.

[49]

Euphorica. Seelenberuhigungsmittel.

[51]

Opium. Morphin.
1. Geschichte des Opium- und Morphingebrauchs als Genussmittel. Opiumproduktion. Opiumbewegung.

Die Verwendung von Opium und seinen Inhaltsstoffen als betäubende Genussmittel ist im Leben der Völker zu einer bedeutungsvollen Kalamität ausgewachsen, die, ungleich dem Alkoholismus, sich dem Laien am Einzelindividuum nicht verrät, aber seit den letzten Jahrzehnten und zumal seit dem Weltkriege auch in Volkskreise einzudringen beginnt, die bisher davon frei waren. Der Vorgang ist fast zu einer Seuche geworden, die die Staaten als berufene Bekämpfer von Seuchen nunmehr zu Abwehrmaßregeln aufgerüttelt hat. Deutschland ist in dieser Beziehung nicht besser als andere Länder, denn alles, was im Möglichkeitsbereich des Tuns von Menschen im Guten oder Schlechten liegt, knüpft sich an alles, was Menschenantlitz trägt.

Um über die hier auftauchenden Fragen zu sprechen, dazu gehört mehr als das Wissen der Gasse. Was ich aus eigenen Forschungen über solche narkotische und andere ähnliche Genussmittel entnehmen kann und was ich an vielen in Leidenschaft zu ihnen verfallenen Menschen an den Gestaden des Stillen Ozeans und bei uns gesehen habe, soll den Inhalt der folgenden Blätter bilden.

Ich definiere diese Leidenschaft als den Zustand, in dem Menschen, ohne durch schweres, unheilbares körperliches [52] Leid dazu veranlasst zu werden, suchtartig, gewohnheitsmäßig Opium, Morphin oder ähnliche Stoffe aufnehmen, um dadurch angenehme, lustartige Gehirnwirkungen zu erzielen, obschon sie wissen oder wissen könnten, dass sie diesen Mitteln schließlich Gesundheit und Leben als Tribut zahlen werden. Diese Definition schließt mithin Morphin chronisch gebrauchende unheilbare Kranke aus der Reihe der Morphinisten im landläufigen Sinne, der einen gewissen moralischen Vorwurf in sich schließt, aus, aber nicht diejenigen, die durch Morphingebrauch Kranke geworden sind.

Gegenüber den moralisch abwegigen Suchten, wie der Spielsucht, hat die Leidenschaft für narkotische Stoffe eine greifbare, materielle Grundlage, nämlich das betreffende Mittel, das verändernd auf die Funktion des Großhirns wirkt. Welche sonstigen Folgen sich auch immer daraus ergeben mögen – eine ist die entscheidende, nämlich der Verlust an Willensfestigkeit gegenüber dem Lockreiz des Morphins, Kokains usw. Die dadurch erzeugten Wirkungsimpulse sind dem Gebraucher so angenehm, dass dadurch auch die moralischen Widerstände gebrochen werden. Wirft man die Frage auf, ob Morphin und seinesgleichen etwa zu jenen Stoffen gehören, die als Reizmittel die vitale Energie des Gehirns zeitlich steigern, gegenüber den in der Welt immer mehr sich steigernden Anforderungen an das Individuum im Sein und Sichhalten, im Leistenmüssen und Leistenkönnen, so muss sie verneint werden. Stoffe, die dies zeitlich bewirken, haben eine andere Gestalt, sind Erregungsmittel, die das Gehirnleben andersartig beeinflussen.

So eigenartig und einzig die Stellung des Opiums und seines Morphins unter allen Arzneistoffen ist, so ohnegleichen ist schon das Wenige, was wir von seiner Geschichte wissen, obschon sie große Lücken hat. Fehlen aber auch Dokumente für deren Überbrückung, so vermag doch der Kundige durch das pharmakologische und toxikologische Gegenwartswissen [53]

induktiv Material für die Zusammenhänge und damit ein geschichtliches Gesamtbild zu liefern.

Ans der Zeiten Dunkel, der etwa 4000 Jahre zurückliegenden Steinzeitepoche, in der es Pfahlbaubewohner gab, tauchen nun deren Relikte, z.B. von den schweizerischen Seen auf, unter denen sich nicht nur die Samen, sondern auch die Fruchtkapseln des Mohns finden. Die Untersuchung der Samenkapseln lässt den Schluss zu, dass man es hier nicht etwa mit der Urform des Mohns, dem Papaver setigerum, sondern mit einer bereits aus dem Anbau stammenden Form zu tun habe. Ob die Kultur des Samenöles wegen oder auch um den betäubenden Mohnsaft zu gewinnen, betrieben wurde, lässt sich nicht entscheiden. Man vermutet auch den letzteren Grund. Dies ist nicht ganz von der Hand zu weisen, weil die Erkenntnis der betäubenden Wirkung des Mohnsaftes bei der Kultur dieser Pflanze leicht erworben werden konnte – schon wenn man aus Neugierde den bei einer zufälligen Verletzung des Mohnkopfes ausfließenden und verhärteten Saft einmal gekostet hatte. Der Schritt zu seiner Verwendung als Betäubungsmittel wäre dann nicht mehr groß. Es würden die Bewohner der Schweizer Seen freilich eine Sonderstellung unter den sonstigen Bewohnern von Pfahlbauten darstellen.

Festere und schlüssigere Anhaltspunkte für die älteste Geschichte des Opiums und der Kenntnis seiner Wirkungen liefern die schriftlichen Dokumente sehr früher Zeit, z. B. des Homer. Damals war aber bereits der Gebrauch der Nepenthes, des Vergessenheitstrankes, so bekannt, dass man von der damaligen Zeit wahrscheinlich noch sehr weit zurückgehen müsste, um an den Beginn des Wissens der Wirkung dieses Stoffes zu gelangen. Denn Nepenthes war ein Opiumpräparat, Deutungen mit anderem Ergebnis worden von solchen gemacht, denen die hier entscheidende Opiumwirkung fremd war – darunter Philologen and auch handwerkerliche Fakultätsmänner.

[54] In der Odyssee19 wird berichtet, dass, als Telemach bei Menelaos in Sparta war und die Erinnerung an Odysseus und andere Kriegsmänner eine weinerliche Stimmung erzeugt hatte, die Menelaos durch ein Mahl zu beenden wünschte, Helena einen eigentümlichen Trank hergestellt habe: Sie

Warf alsbald in den Wein, von dem sie tranken, ein Mittel

Kummer zu scheuchen und Gram und jeglichen Leides Gedächtnis.

Wer von diesem genoss, nachdem in den Krug es gemischt ward,

Nicht an dem ganzen Tage benetzt ihm die Träne das Antlitz,

Nicht ob selbst gestorben ihm wär’ die Mutter, der Vater,

Nicht ob den Bruder vor ihm, ob selbst den geliebtesten Sohn ihm

Tötete feindliches Erz und er mit den Augen es sähe.

Solcherlei zaubrische Mittel besaß sie, die Tochter des Gottes,

Wirksame, die ihr schenkte die Gattin des Thon, Polydamna,

Eine Aegypterin ...

Es gibt nur einen Stoff auf der Welt, der so wirkt und das ist Opium, der Träger des Morphin. Sein entscheidendes Wirkungscharakteristikum, zumal nach häufigerem Gebrauch, ist eben die völlige Gleichgültigkeit gegen alles andere, was nicht Ich ist. Die treffende Schilderung, die Homer hier von diesem Zustande gibt, ist offensichtlich der feste Erfahrungsinhalt von Beobachtungen an Opiophagen, d. h. an Menschen, die zu ihrem Vergnügen chronisch Opium aufnahmen, da eine einmalige Dosis die hier richtig in den Vordergrund gerückte, allgemeine, auf das seelische Leben gerichtete Wirkung desselben nur ganz ausnahmsweise einmal und selbst dann nicht für so lange Zeit erzeugt. Es ist nicht poetische Lizenz, sondern dem Wirklichkeitsleben entnommen, dass von dem ganzen Tag gesprochen wird, an dem Gemütsbewegungen dem unter dem chronischen Opiumeinfluss Stehenden fernbleiben.

 

[55] Diese Schilderung legt aber noch eine ganz andere Annahme nahe, nämlich dass Nepenthes auch von Kriegern vor der Schlacht gebraucht worden ist, um die Empfindung von Gefahr nicht aufkommen zu lassen, denn im Wesentlichen wird hier, bei Homer, ja nur von Abstumpfung der Seele gegenüber erschütternden Schlachtvorkommnissen gesprochen, die sich ebensogut vor Troja wie anderwärts ereignen konnten und meiner Überzeugung nach sich ereignet haben. Damit wird aber auch die Verbindung zu Jahrhunderte und Jahrtausende später geübter Verwendung des Opiums für den gleichen Zweck gewonnen. Wahrscheinlich haben nur Wissende, „Helden“, davon Gebrauch gemacht, denn nicht jedem war dieser Stoff und die Kenntnis seiner Wirkung zugänglich. Helena wird einen solchen Opiumtrank mehr als dieses eine Mal und für andersartige Gelegenheiten und für andere Begehrende ihres Kreises bereitet haben. Sie hat Stoff und Belehrung von der Ägypterin Polydamna erhalten – ein bedeutsamer Hinweis auf das früheste Produktionsland des Mohns.20

Im Papyrus Ebers findet sich ein Kapitel mit der Überschrift: „Heilmittel zum Vertreiben übermäßigen Kindergeschreies.“ Dort wird berichtet, dass für diesen Zweck „špenn, die Körner der špenn-Pflanze, mit Fliegendreck, der an der Wand ist, zu einer Masse zusammengerührt, durchgeseiht und an vier Tagen eingegeben wird. Das Geschrei höre sogleich auf.“ Die Annahme hat eine gute Begründung, dass es sich hier um Mohnwirkung gehandelt habe. Entweder wurden die unreifen Samen – die reifen sind unwirksam – oder der Mohnkopf verwendet, wie noch heute in Europa und in Ägypten Kinder mit diesen Stoffen – freilich nicht gar so selten mit tötlichem Ausgange – „beruhigt“ werden.

[56] Die Mohnkultur hat sieh dann wahrscheinlich über Kleinasien, das man heute – wie ich glaube, unerwiesen – als Wiege des Opiums bezeichnet, ausgedehnt und ist so auch nach Griechenland und Rom und weiter gekommen. Wie in Indien, wird auch in Ägypten in frühester Zeit Verordnung und Abgabe solcher Stoffe – als Geheimwissenschaft – in der Hand der Priester gelegen haben. Manches dunkle historische Ereignis kann im Lichte der Erkenntnis der Wirkung des Opiums, das aus solcher Quelle floß, Aufklärung finden. So ist oft genug die Verwendung eines hochenergetischen Arzneistoffes aus dem Kreis der menschenfreundlichen Tat in den politischer oder individueller Erwerbs- oder Rachsucht getreten.21

Bildliche Darstellungen des Mohns finden sich in großer Zahl auf späteren römischen Münzen. Innerhalb des jüdischen Geschichtskreises scheint es bisher nur solche auf Kupfermünzen von Johann Hyrkan (135-106 alter Zeitrechnung), dem Fürsten und Hohenpriester aus dem Geschlechte der Makkabäer zu geben.

Die Verführungskraft zu immer erneuter Verwendung, die im Opium liegt, wird – dafür sprechen nun millionenfache Erfahrungen und die Artung des Menschen – auch Gebraucher aus leidenschaftlicher Sucht sich in einen weltentfremdeten Zustand zu versetzen, geschaffen haben, auch in Rom und Griechenland, wo schon die kurzen Schilderungen seiner Gewinnung von Naturkundigen, wie von Theophrast aus dem dritten Jahrhundert vor oder von Plinius und Dioskorides aus dem ersten Jahrhundert nach der jetzigen Zeitrechnung, erkennen lassen, wie gut man auch die Giftwirkungen des Stoffes erkannt hatte, die so hoch eingeschätzt wurden, dass Diagoras aus Melos schon im fünften und Erasistratus im dritten vorchristlichen Jahr [57]hundert rieten, das Opium aus dem Grunde ganz zu meiden.

Es ist aber

..... Lethaeo perfusa papavera somno22

.. Der Mohn, getränkt mit lethäischem Schlummer

nie gemieden worden und nicht nur der den Garten der Hesperiden23 bewohnende und schützende Drache unterlag seiner Wirkung, wenn die Priesterin des Tempels der Hesperiden, der im äußersten Mohrenland, am Ende des großen Weltmeeres liegt, wo die Sonne untergeht und der große Berg Atlas auf seinen Schultern den Himmel trägt:

Spargens kumida melle soporiferumque papaver

... mit tauigem Honig betäubenden Mohn ihm gegeben24

sondern auch ungezählte Menschenscharen.

Man wolle ferner darauf achten, dass der Mohnkopf auch in die Mysterien der Ceres25 gehört, denn sie genoß Mohn, „um den Schmerz zu vergessen“, „ad oblivionem doloris“. Daher hat eine Isis-Ceres mit der Fackel in einem irdenen Bildchen Mohnköpfe in der Hand.26 Allenthalben begegnet man in der antiken Kunst, in Verbindung mit Mythologie, dem Mohn als Sinnbild des Schlafes und sogar der Personifikation des Schlafbringers, des schlafspendenden Gottes, des ύπνοδότηςv, als eines bärtigen Mannes, der sich über die schlafende Person [58] herabbiegt und aus einem in der Hand gehaltenen Horn einem Trinkhorn, Mohnsaft auf die Augenlider des Schlafenden gießt.

Auf dem Sarge der schlafenden Ariadne neigt sich über sie der bärtige Schlafgott, der Mohnköpfe und das Opiumhorn trägt. Auch als jungen Genius mit dem Mohn und dem Opiumhorn oder mit dem Mohnstengel in den Händen findet man den „Somnus“, den Schlafgott, in späterer Zeit abgebildet.

Um Hannibal von Rom fernzuhalten und ihn mit dies bewirkenden Träumen zu erfüllen, ruft Juno:

Somnus herbei, den sie so oft benutzt, um ihres Gemahles

Augen zu schließen, wenngleich er den Schlaf zu haben nicht

wollte.

Ohne Verweilen gehorcht der Berufene. Fertigen Mohnsaft

Hat er im Horne bereit und enteilt durch nächtliches Dunkel

Still zu des Puniers Zelt und taut auf die Augen ihm Ruhe.27

Die Nacht wie der Schlaf wohnen beide in einer Behausung, die, nach Lucians romanhaftem Gemälde, von Mohnpflanzungen umgeben ist. Sie erscheinen mit der sinkenden Sonne, mit Mohn die Stirn umkränzt, im Gefolge flatternder Träume, übergießen den Menschen mit ihrem Schlummer erregenden Mohn und fesseln seine Glieder.

Die hier und da, seit der Wirkungserkenntnis immer geübte Opiophagie wuchs mit der Verbreitung des Wissens über die euphorische Wirkung des Stoffes. Wie konnte es auch anders sein, wo dieses nach dem Schwinden der früheren Ex[59]klusivität, jedem verständlich, Allgemeingut geworden sein dürfte. Es musste zum Versuche verleiten, also zu dem ersten verlangenden Schritt auf der Bahn zur Dauersucht. Ein oder das andere Zeugnis über diesen, zu allen Zeiten das Licht gescheut habenden Gebrauch hat uns die Zeit aufbewahrt. So wird z. B. aus dem zweiten Jahrhundert berichtet, dass Lysis vier Drachmen, also etwa 16 g, Mohnsaft ohne Schaden genommen habe.28 Dies muss ein ausgepichter Opiophag gewesen sein, sonst wäre eine solche Toleranz unmöglich gewesen. In der Zeit der großen arabischen Ärzte des 10. bis dreizehnten Jahrhunderts, nahm die Verbreitung dieser Opiumsucht auch durch die Eroberungszüge der Mohammedaner von Kleinasien aus fast über die ganze damals bekannte Welt zu. Die größten Erfolge, die Wunderkuren, die Paracelsus29 im Beginne des sechzehnten Jahrhunderts gerade mit Opium erzielte, haben gewiss auch chronische Gebraucher desselben geschaffen – vielleicht in erster Reihe Paracelsus selbst: „Ich hab ein Arkanum, heiß ich Laudanum, ist über das alles, wo es zum Tode weichen will.“ Sein späteres Leben und Tun macht den Eindruck, als sei er Opiophag gewesen. Ich glaube, dass dies der Wahrheit sehr nahe liegt. Menschengebaren seiner Art habe ich bei manchem Morphinisten gesehen.

Schon aus seiner Zeit – um das Jahr 1546 – berichtet ein französischer Naturforscher Belon, der Kleinasien und Ägypten durchwandert hat, über die große Ausdehnung der Leidenschaft für OpiumGenuss bei den Türken. „Es gibt keinen Türken, der für sein letztes Geld sich nicht Opium kaufte, das er in Friedens- und Kriegszeiten bei sich trägt. Der Grund für das Opiumessen liegt in der Überzeugung, dass sie dadurch kühner werden, einen beherzten [60] Mut bekommen und die Gefahren des Krieges weniger fürchten. Wenn es Krieg gibt, wird so viel von dem Mittel aufgekauft, dass im Lande kaum noch davon etwas zu finden ist.“ Er sah einen Opiumesser auf einmal 2 g nehmen und als er ihm abgewogene 4 g schenkte, diese auf einmal ohne jeden Schaden aufessen. Schon damals fand ein beträchtlicher Export von Opium nach Persien, Indien und Europa statt. Belon vermeldet, dass damals nach den beiden erstgenannten Gebieten 50 Kamele, mit Opium beladen, gezogen seien. Was immer die Triebfeder für dessen Gebrauch gewesen ist: die Ausschaltung körperlicher oder geistiger Unlustgefühle bezeichnet schon aus dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts der portugiesiche Botaniker Garcias ab Horto auch für die Indier, die er in Goa als Opiumgebraucher kennengelernt hat und er machte sogar schon die Beobachtung, dass, wenn solche genug Opium genommen hatten, sie „gelehrt über alles mögliche sprachen. So viel vermöge die Gewöhnung“.