Phantastica

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Einleitung.

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1. Zur allgemeinen Orientierung.

Seit Kunde von Menschen auf dieser Erde zu uns gelangt ist so auch die, dass sie Stoffe aufnehmen, die nicht Nahrungs- oder Sättigungsstoffe waren, sondern bewusst dem Zwecke dienen sollten, für eine gewisse Zeit einen Zustand von Euphorie, von Behagen, von erhöhtem, subjektiv angenehmem Wohlbefinden hervorzurufen. Solche Kräfte fanden sie in alkoholischen Getränken und einigen sehr wenigen Pflanzenstoffen, den gleichen, die auch heute noch für den genannten Zweck gebraucht werden.

Kein modernes chemisches Bemühen war bisher imstande, irgend etwas auf synthetischem Wege zu finden, was dem in rätselhafter Weise von den Völkern aller Erdteile als zweckmäßig für ihre euphorischen Wünsche erkannt gewordenen Material auch nur im entferntesten an Wirkungen gleichkäme. Die potentielle Energie der letzteren hat die Erde erobert und über scheidende Gebirge und trennende Meere hinweg die Verbindung zwischen Völkern hergestellt. Die Genussmittel dieser Art sind das einigende Band zwischen Menschen entgegengesetzter Hemisphären, zwischen Zivilisation und Unzivilisation geworden und sie haben, seit sie die Menschen in ihren Bann schlugen, sich Wege für ihr Vordringen gebahnt, die, einmal eröffnet, auch für andere Zwecke begehbar geworden sind. Sie gestalteten sich zu Kennmarken, die, in Völkern zurückgeblieben, einen auch sehr weit zurückliegenden wunderbaren Wechselverkehr unter ihnen so sicher diagnostizieren lassen, wie der Chemiker an einer chemischen Reaktion die innerlichen Beziehungen zweier Stoffe zu erschließen vermag. Der unbewusste Kontakt, der [8] sich durch die Verbreitung solcher Mittel zwischen ganzen Völkerreihen eines Erdteils vollzogen hat, erfordert wohl stets Jahrhunderte oder Jahrtausende. Die Völkerkunde hat, worauf ich mehrfach schon hinwies, ein besonders großes Interesse daran, diesen Berührungswegen nachzugehen, hat aber nie den Versuch gemacht, die Elemente für die Rückverfolgung der hier auftauchenden wissenschaftlich und für die Menschheitsgeschichte so bedeutungsvollen Fragen zu suchen. Und doch würde sich bei eingehendem Forschen mancherlei, zumal mit vergleichend linguistischer Hilfe, finden lassen.

Schon das Finden der Eigenschaften erregend oder betäubend wirkender Stoffe und deren Verwendungsart stellt ein gewisses naturwissenschaftliches, durch praktische Beobachtung gewonnenes Erkennen und damit ein Stückchen vom Anfang von Kultur dar, das höchst beachtenswert ist. Und wenn es als ein Symptom von Zivilisation bezeichnet werden darf, dass nackte Bedürfnislosigkeit einem gewissen größeren Maß von Begehren weicht, dass das Individuum mit der primitiven, rohen Leibesnahrung, die ihm zuwächst oder die es sich erkämpft, nicht mehr zufrieden, Reizmittel, vor allem für sein Nervensystem, findet oder erhält und liebgewinnt, dann müssen auch in seiner Organisation die zeitlichen Bedingungen für ein solches körperliches Begehren, mindestens aber für das Lustgefühl, das es durch Erfüllung derselben empfindet, vorhanden sein.

2. Die Beweggründe für den Gebrauch betäubender und erregender Genussmittel.

Mehr als der reine Tatsachenstoff, der über solche Substanzen geliefert werden kann, interessieren den Denkenden die Beweggründe, die zu ihrem Gebrauche und Fortgebrauche veranlassen. Hier vereinen sich ja alle möglichen menschlichen Gegensätze: Unkultur und Kultur und deren Ab[9]stufungen in materiellem Besitz, Lebensstellung, Wissen, Glaube, Alter und Veranlagung in Körper, Geist und Seele.

Der in starre Frone gebannte Tagesarbeiter begegnet sich hier mit dem von Nahrungssorgen freien, sorgenlos von seinem Besitz Lebenden, der Regierende mit dem Regierten, der Wilde irgendeines fernen Eilandes oder des Kongowaldes oder der Kalahari- oder Gobiwüste mit Dichtern, Denkern, Männern der strengen Wissenschaft, mit Gesetzgebern, Staatenlenkern, Menschheitsverbesserern und Misanthropen, der friedlich Gesinnte mit dem Streitsüchtigen und der Religionslose mit dem Frommen.

Es müssen gewaltige und eigenartige körperliche Antriebe sein, die derart einigend wirken, dass sie so unübersehbar viele Varietäten von Menschen des Erdenrundes in ihren Bann zu schlagen vermögen. Mancher hat sich über sie geäußert, sehr wenige sie in ihrer Gesamtheit übersehen und ihre Wesenheit verstanden. Und noch weniger verstanden sie die inneren Zusammenhänge der Stoffe, in denen jene eigenartigen Energien lagern und die Beweggründe zu ihrem Gebrauch.

So meinte man, dass, je tiefer ein Volk auf der Leiter der geistigen Fähigkeiten stehe, um so gröber die ihm angenehmen Reizmittel seien und um so mehr würde es suchen, durch sie sich um sein Bewusstsein zu betrügen und sich von der dumpf gefühlten inneren Leere zu befreien.8 Ein ungewisses Ahnen eigener unverbesserlicher Unvollkommenheit im drückendsten Grade umfange z. B. die Indianer Südamerikas und deswegen eilten sie, von solchem melancholischen Mißgefühl durch heftige Aufregung sich zu befreien, d. h. durch den Gebrauch von Koka und anderen Stoffen.

Ja, Männer, die, wie Tolstoi, unfähig waren, in diese Fragen einzudringen, gingen auch in unserer Zeit so weit, als Ursache des Rauchens und Trinkens eine Betäubung des Gewissens und für den Gebrauch des Opiums im malayischen Archipel eine ,,ungenügende Erziehung auf christlicher Grund [10]lage“ heranzuziehen. Solchen unglaublichen Absurditäten begegnet man allenthalben reichlich. Sie sind geeignet, einerseits Erstaunen über die Mängel an Tatsachenkenntnis und des Urteils über den Menschen und seine Triebe hervorzurufen und andererseits den dringenden Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, dass mehr Erkenntnis über die hier in Frage kommenden Probleme in weiteren Kreisen geschaffen würde.

Die mächtigste Triebfeder für die häufige oder die Alltagsverwendung der hierher gehörenden Stoffe liegt in ihren Eigenschaften selbst, in ihrer Fähigkeit, in bestimmter Art und mehr oder minder lange die Funktionen der Lust- bzw. Annehmlichkeitsempfindungen vermittelnden Stellen im Großhirn wachzurufen und die Erinnerung an die empfundenen Gefühle in irgendeinem Umfange wachzuhalten. Die Wirkungsunterschiede zwischen den einzelnen sind groß. Selbst innerhalb der beiden großen Gruppen von Wirkungsmöglichkeiten, nämlich der Erregung und der Lähmung, schwanken die Erscheinungsformen ihrer Energieentfaltung. Sie stellen sich als mehr oder weniger abgestimmt und adäquat dem zeitlichen Zustand des Nervensystems des sie Einführenden dar.

Ebenso verschieden sind die ersten Veranlassungen, zumal für die betäubend wirkenden Mittel. Mag es nun aber die nackte, grundlose Nachahmung sein, die ja auf der Welt so viel närrisches oder verderbliches Tun veranlasst und für manche Menschen als dauerndes Zugpflaster für ihre Neugierde bis zur endlichen Erfüllung wirkt oder das Erkannthaben ihrer euphorischen Wirkung, als das Individuum sie als Arznei zu nehmen genötigt war oder die bewusste Absicht, eine angenehme zeitliche Zustandsänderung seiner selbst herbeizuführen, in eine andere Bahn des Denkens und Empfindens zu kommen, z. B. das zu erreichen, was einst ein Indianer in Guatemala, den man fragte, warum er soviel Aguardiente, d. h. Schnaps, trinke, ge[11]antwortet hat: Der Mensch müsse manchmal „zafarse de su memoria“, d. h. sich vor seinem Gedächtnis Ruhe schaffen – immer ist es die Reaktion der oft zauberhaften, manchem der Mittel eingeborenen Kraft auf das Gehirn, die alles weitere veranlasst, was sich danach im Körper von dem bis zur Sehnsucht anschwellenden Verlangen des Weitergebrauches an bis zu den dadurch veranlassten krankhaften Störungen abspielt.

Ich sah Männer, die zuerst aus Neugierde ein narkotisches Mittel nahmen und von der Wirkung desselben erfasst, zu Gewohnheitsgebrauchern desselben wurden. Verderbliche Popularisierung von Wissensstückchen über die Eigenschaften solcher Stoffe schuf und schafft Adepten in verhängnisvollem Umfange. Davon weiß die neueste Zeit zu klagen, in der die Narkomanie zu einer ungeahnten Höhe anschwoll – so hoch, dass selbst diejenigen, die in Bezug auf die Verbreitung solcher Leidenschaften Pessimisten waren, davon überrascht worden sind.

An mich wandten sich Männer mit nicht ganz unbekanntem Namen um einen Stoff zu erhalten, von dem sie erfahren hatten, dass er auffällige Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen erzeuge. Sie hofften, von den letzteren angenehme Empfindungen zu erhalten, ja, einer meinte, sie sogar für dichterische Produktionen etwa höherer Ordnung verwerten zu können.

Und so könnte noch mancher andere Umstand als erster Veranlasser des in die Alltagsgewohnheit eintretenden Gebrauches betäubender oder erregender Mittel angeführt werden, denn das Leben und nur die Einzelleben mit ihren unübersehbaren zahlreichen, theoretisch gar nicht auszudenkenden Gestaltungsmöglichkeiten schaffen jene so oft überraschenden, für das Einzelindividuum entscheidend werdenden Ursachen für Normalsein, Kümmerlichsein oder Nichtsein.

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3. Die Bedeutung der persönlichen Veranlagung in Bezug auf fremde Reize, die den Körper treffen.

Legte ich in dem Vorstehenden den letzten Grund der Sucht, solche Stoffe gewohnheitsmäßig zu gebrauchen, in deren oft wunderbare Wirkungseignung für das Gehirn, so ist damit zwar der wesentliche Anteil, den diese an der Entstehung auch der körperlichen Folgen hat, bezeichnet, unbeantwortet bleiben jedoch dadurch eine Reihe von schwerwiegenden Fragen, die auch sonst für das individuelle Leben des Menschen von höchster Bedeutung sind. Vor allem diejenigen, die sich auf die verschiedenartige Reaktion der Menschen unter dem Einflusse nicht nur solcher Betäubungsstoffe überhaupt, sondern auch anderer chemischer sowie andersartiger Einflüsse und auf die Möglichkeit beziehen, sie lange Zeit hindurch, scheinbar ungestraft, auch in Mengen zu vertragen, die, in kurzen Intervallen genommen, für andere körperliches Verderben zu bringen geeignet erscheinen. Schon das primitivste Wissen über sie lehrt ja, dass der größere Teil von ihnen Träger hoher Energie ist, die sich fast ausschließlich auf das Nervensystem erstreckt.

 

Die Beantwortung dieser Fragen ist seit Jahrtausenden oft versucht und nie gegeben worden. Sie zwingt auf ein biologisches Gebiet hin, das zu den dunkelsten der vielen gehört, die Menschen so gern aufhellen möchten, das Gebiet der Individualität, der Persönlichkeit, der persönlichen Veranlagung, zu dem auch das der Gewöhnung gehört. Kein Problem des menschlichen reaktiven Lebens drängt sich wie dieses dem Geiste auf. Auf Schritt und Tritt sperrt es den Weg und quält den, der auch nur bis zur Schwelle der Erkenntnis seines ganzen Inhalts vordringen möchte, seelisch mehr als irgendein anderes der vielen Wissensbegehrnisse, die nur als Fragen und Fragen aus dem Chaos dunkler, undeutbarer Vorgänge, die wir Leben nennen, zum Lichte, zur Erfüllung emporstreben wollen und – doch [13] immer nur Erkenntnisprobleme bleiben werden. Man leidet hier unter der faustischen Qual des Nichterkennenkönnens und bedauert tief, was gerade in unserer Zeit sich unangenehm bemerkbar macht und schon Molière wiederholt satirisch gegeißelt hat: die Sucht, das, was man nicht wissen kann, in ein nichtssagendes griechisches oder lateinisches Fremdwort zu kleiden oder eine erklügelte Vermutung so oft zu wiederholen, bis törichte medizinische und nichtmedizinische Adepten, des eigenen Denkens unfähig, die Phrase als Wahrheit zu stempeln unternehmen. Nicht gar so selten trifft man heute noch auf Deutungen von Arznei- und Giftwirkungen, die nichts anderes als gelehrt ausschauende Umschreibungen der Wirkungen sind. Man erinnert sich dabei der burlesken Szene in Molières „Le malade imaginaire“, in der Fakultätsmediziner auftreten und in einem lateinisch-französischen Kauderwelsch den als Arzt aufzunehmenden Baccalaureus examinieren. Auf die Frage nach dem letzten Grunde der schlafmachenden Opiumwirkung:

Demandabo causam et rationem quare

Opium facit dormire

antwortet der Examinand:

Quia est in eo

Virtus dormitiva

Cujus est natura

Sensus assoupire

d.h. weil in ihm eben schlafmachende und die Sinne betäubende Eigenschaften lägen. Und der Chor der Examinatoren ruft:

Bene, bene, bene, bene respondere

Dignus, dignus est intrare

In nostro docto corpore.

[14] Gerade Pharmakologie und Toxikologie werden auf diese Weise leider oft zum Tummelplatz auch von Verteilern metaphysischer Ungereimtheiten. Diese Lehren vertragen keine Philosopheme und von solchen ist kein Aufklärungserfolg zu erwarten. Arzneimittel und Gifte wurzeln mit ihrer Energie und Energieübertragung in einer stofflichen Welt, welche Wirkungserscheinungen kommen, aber nach dem Wie? vergebens fragen lässt.

Die in gewissen Grenzen bei Menschen zutage tretende Widerstandskraft oder Widerstandslosigkeit gegen manche mit potentieller Energie, auch von außen an sie gelangte Stoffe ist unerklärbar. Die einzige Annahme besteht, dass es eine verschiedene, das ganze körperliche Leben umfassende Energetik gibt. Diese kann man Lebenskraft nennen. Ich verstehe darunter die Summe aller chemischen, physikalischen und vom Willen beherrschten mechanischen Fähigkeiten, die reaktiv in nicht immer gleicher Form bei Individuen zur Betätigung kommen.

Diese eingeborene, an jeden Teil des Körpers, gleichgültig ob Gehirn oder Nerven oder Muskeln, Drüsen oder Eingeweide, Knochen oder Schleimhäute – an alles, was zellhaltig und nicht zellartig zur Konstitution des Gesamtorganismus gehört – sich knüpfende Energie ist nicht jene mystische Kraft, die man als Spiritus rector, als Archaeus in früheren Jahrhunderten in der Theorie des Körperlebens eine Rolle hat spielen lassen, sondern eine im Körper von Ort zu Ort, in Art und Stärke verschiedenartige, zerstörende, aufbauende, lösende, festigende, unübersehbar kompliziert und trotz aller auch individueller Verschiedenheiten immer gesetzmäßig waltende Arbeitsordnung, von der die schließlich verwirklichte Arbeitsleistung abhängt.

Sie äußert sich aktiv oder passiv in erhöhter oder verminderter Arbeit oder in den verschiedenen Gestaltungen des Ertragens, Nichtertragens oder Andersertragens von [15] Forderungen, die durch innerliche oder von außen kommende fremde Einflüsse reizartiger oder anderer Natur gestellt werden. Die Reaktionsformen auf solche Reize können von Mensch zu Mensch sehr weit, bis zur Unähnlichkeit auseinandergehen.

In diese Verschiedenheiten des individuellen Gesamtlebens bzw. des Reagierens von Körperteilen auf Reaktion heischende Potenzen stofflicher oder nichtstofflicher Natur sind auch einzuschließen der Ausgleichstrieb bzw. die Ausgleichsfähigkeit für Unordnungen, die in dem körperlichen Leben durch körperfremde Einflüsse entstanden sind. Jedes Lebewesen verfügt gegenüber einem es treffenden Schaden über ein gewisses Maß abwehrender und regulatorischer Energie, deren Größe einen ebenso schwankenden Wert darstellt, wie die Energie der normalen Lebensvorgänge. Die Betätigung der Selbsthilfe sehe ich als für das Wohl des Individuums erfolgende Zweckmäßigkeitsakte und nicht als zweckfreie innere Notwendigkeiten an. Ich stimme der Auffassung bei, die Pflüger in seiner teleologischen Mechanik zum Ausdruck gebracht hat: „Die Ursache jeden Bedürfnisses eines lebendigen Wesens ist zugleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses“, wobei als Ursache des Bedürfnisses jeder veränderte Zustand der lebendigen Organismen, der im Interesse der Wohlfahrt des Individuums in einen anderen Zustand erfolgt, zu verstehen ist. Die Selbsthilfe erfolgt stets in irgendeinem Umfange, kann aber – wenn es sich z. B. um Gifte einschließlich der Krankheitsgifte handelt – aufhören, wenn deren chemisch-reaktive Kraft die vitale Energie, die Lebenskraft, am Orte der Giftwirkung oder allgemein ausschaltet. Auch die den Geweben innewohnende Reservekraft vermag nicht unter solchen Umständen einen Ausgleich eines abnormen körperlichen Vorganges herbeizuführen.

Vielleicht wäre hier auch die geeignete Stelle auf eine Überlegung kurz hinzuweisen, die ich seit vielen Jahren zum [16] Gegenstand der Darlegung in meinen Vorlesungen gemacht habe. Man könnte nämlich daran denken, dass der Antrieb und die Verwirklichung von Ausgleichsvorgängen gegenüber gewissen körperfremden Einflüssen, die den menschlichen Organismus treffen, nach einem naturwissenschaftlichen Prinzip vor sich gehen, das unter dem Namen des Prinzips vom Widerstand gegen den Zwang oder des Prinzips vom kleinsten Zwang von d’Alembert, Gauss und später von Le Chatelier für chemische bzw. physikalische Vorgänge angegeben wurde. Es heißt: Jeder Zwang, der auf ein im Gleichgewicht befindliches System ausgeübt wird, ruft denjenigen Vorgang hervor, der den Erfolg des Zwanges zum Teil aufhebt (Widerstand der Rückwirkung gegen die Wirkung). Man kann auch sagen: Wird das Gleichgewicht in einem System durch einen äußeren Einfluss gestört, so entstehen Wirkungen, welche diesem Einflüsse entgegenarbeiten. Das Gleichgewicht wird in dem Sinne verschoben, dass der Zwang aufgebraucht wird. Systeme, die den angetanen Zwang nicht vermindern sondern vergrößern, sind nicht im stabilen sondern im labilen Gleichgewicht. Der menschliche Körper besitzt beide Arten. Die Folgerungen, die sich aus der Übertragung des genannten Prinzips auf chemisch-reaktive Vorgänge im menschlichen Körper, z. B. nach Einbringung von narkotischen Stoffen, ziehen lassen, im Einzelnen darzulegen ist hier nicht der Ort. Es mag genügen zu sagen, dass schon jetzt durch diese Betrachtungsweise die Vorstellungen über manche solcher reaktiven vitalen Erscheinungen erleichtert werden können.

Innerhalb der beiden extremsten Möglichkeitsgrenzen der gesamten regulatorischen Kräfte des Gesamtorganismus oder einzelner seiner Teile, von Erfolg bis zum Nichterfolg, gibt es zahlreiche von der Energie des Individuallebens abhängige Unterschiede.

[17] Dieses Stück von meist vererbtem Individualleben, die persönliche Veranlagung, die sich durch kein erkennbares äußerliches Körperverhalten und durch keine Gewebs- oder Säfteverschiedenheit verrät, muss für jeden reaktionsmöglichen Einfluss bewertet werden. Sie besteht nicht nur, sondern drängt sich meistens sogar auf. Ihre große Bedeutung leugnen, ist ein Zeichen medizinischer Unbildung, sie unterschätzen kann verhängnisvoll werden, in ihrem Wesen sie zu erklären wird nie einem Sterblichen gegeben sein. Sie wirkt und ist doch in allen ihren Teilen ein Mysterium. Der Versuch, für ihre Deutung nun gar die inkretorischen Drüsen heranzuziehen, muss, schon weil er eine allzubeschränkte Auffassung der Persönlichkeit verrät, zurückgewiesen werden. Sie stellt eine Gleichung mit so vielen unbekannten Größen dar, dass ihre Auflösung unmöglich erscheint.

Sie bringt es auch zuwege, dass normale körperliche Verrichtungen individuell so verschieden sind. Kaum eine Funktion von Körperorganen, von der Gehirn- und Rückenmarkstätigkeit an bis zu der Arbeit der Drüsen, der Assimilation von Nahrung, den allgemeinen Stoffwechselvorgängen, der Bewegung innerer Organe, der Kraftentfaltung muskulöser Teile, vollzieht sich bei den verschiedenen Menschen in gleich starker Weise. Diesen Verschiedenheiten in der Höhe physiologischer Leistung gleichzustellen sind diejenigen der reaktiven Äußerungen auf körperfremde Einflüsse. Nichts hat, von der ältesten Zeit bis heute, Ärzte und Laien biologisch so in Erstaunen gesetzt, wie die Tatsache, dass Krankheitsursachen, einschließlich der Arzneistoffe, Gifte und Genussmittel einen so verschiedenen Resonanzboden bei gewissen Menschen und Tieren finden.

So wird schon in früher Menschheitsgeschichte mitgeteilt, wie Verwundungen den einen töteten und schwerere den anderen freiließen, wie gewisse Tiere giftige Pflanzen in Mengen aufnähmen, durch die ein Mensch und andere Tiere vergiftet werden könnten. Galen, der große medizinische [18] Geist, dem man viel mehr als ein Jahrtausend in seinen Anschauungen nachging und der dann von manchem, der ihn nicht kannte, als Irreführer bezeichnet wurde, hat über Toleranz für Schädlichkeiten auf der Grundlage der Gewöhnung und Nichtgewöhnung Betrachtungen angestellt, die mehr wert sind, als die modernen, für den Kundigen bedeutungslosen Umschreibungen der einfachen, aber unerklärlichen Wahrheit, dass eben die wechselvolle reaktive Kraft chemischer Stoffe bei gewissen Individuen oder Rassen unter sonst erkennbar gleichen Verhältnissen kleiner oder größer ist als bei anderen oder überhaupt sich bricht an einer bestimmten eigenartigen Organisation des Betroffenen. Dies gilt auch für die Wiederherstellung von Krankheiten, gleichgültig ob es Wunden oder innere Störungen sind. So kann man es z. B. für wahr halten, dass Neger eine größere Heilungsenergie als Weiße für die ersteren haben. Dieser Erfolg ist nicht auf klimatische Bedingungen, sondern auf ihnen innewohnende Eigenschaften zurückzuführen.

Die Icheigenschaft kann für jede Art von Einwirkung: mechanische, chemische oder geistige, bestehen und sich durch Über- oder Unterempfindlichkeit kennzeichnen, die ihrerseits wieder die weitestgehenden Äußerungsformen haben können. Ein körperstarker Mensch kann gegen eine bestimmte stoffliche Einwirkung überempfindlich, ein schwacher unter- oder sogar unempfindlich sein. Die persönliche Eigenart schafft auch jene regelwidrigen Verlaufsarten von Vergiftungskrankheiten, auch durch betäubende oder erregende Stoffe, die, da sie einmal möglich sind, keine Voraussage gestatten. Keine Formel und kein Schema gibt es hier, die einen festen Rahmen für die Beurteilung bieten, denn alle gewollte Begrenzung des Urteils durchbricht die Individualität. Wie der Astronom für die Wahrnehmung mit seinem Auge eine „persönliche Gleichung“ hat, so gibt es wahrscheinlich für jeden Menschen, wie ich es [19] nannte – und kleine literarische Diebe es nachschrieben – eine „toxische Gleichung“, d. h. eine verschiedene Empfindlichkeitsgröße des Gesamtkörpers oder einzelner Organe gegenüber verschiedenen chemischen Stoffen. Sie bringt es zuwege, dass die funktionelle Reaktion auf einen solchen Stoff bei dem einen quantitativ, bisweilen auch qualitativ anders verläuft als bei einem anderen. Das Unfassliche wird auf diesem Gebiete zum Ereignis, dass z. B. von zwei Menschen, die in dem gleichen Räume der gleichen Einwirkung von Kohlenoxyd ausgesetzt sind, der eine leicht erkrankt, der andere stirbt oder mit einem unheilbaren Gehirnleiden oder einer Lungenentzündung oder einem Lungenzerfall oder anderen geweblichen Ernährungsstörungen dem Gifte seinen Tribut zahlt.

 

Die Umsetzung der Wirkungs- bzw. Gefährdungsmöglichkeit in die Schädigungswirklichkeit vollzieht sich durch alle den menschlichen Körper treffende Einflüsse nicht einheitlich gleich. Keinem Menschen war es bisher gegeben, zu erkennen, warum dies letzten Endes so ist. Auch für alles solches Geschehen gilt noch immer und wird in aller Zeit das Wort Albrechts v. Haller Geltung haben:

Ins Innere der Natur

Dringt kein erschaffener Geist,

Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist.

Mit einer sehr viel geringeren sachlichen Berechtigung als es vielleicht einmal von einem Berufenen, am Forschungswerke Beteiligten, geschehen könnte, hat Goethe versucht diesen Ausspruch zurückzuweisen. Für den Dichter „hat Natur weder Kern noch Schale – alles ist sie ihm mit einem Male“. Was aber Haller meinte, ist leider nur zu wahr. In der Biologie und allem anderen, was die Natur als Lösungsproblem von Unverständlichem und Unverstehbarem dar-[20]bietet, gibt es wirklich Schale und Kern: das Sichtbare und das dem Wesenheitserkennen Verschlossene. Vor allem in der Biologie. Wir erblicken allenthalben nur das Zifferblatt des Geschehens, mit seinen Zeigern, allein das Werk mit seiner treibenden Kraft zu erkennen, vermögen wir nicht. Es besteht hier die gleiche Kluft wie auf dem Gebiete des kausalen Erkennenwollens und Nichterkennenkönnens der Entstehung von Lebewesen oder eines ihrer Gewebe oder auch nur einer ihrer Zellen. Die Überzeugung von Kant in dieser Beziehung wird immer wahr bleiben: „Eher wird die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues eingesehen werden können, ehe die Erzeugung eines einzigen Krautes oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund wird“. Auch „chemische Gründe“ werden nie zum Ziele führen.

Jeder Mensch trägt seine eigenen, individuellen biologischen Gesetze in sich und jeder ist der Träger seiner eigenen psychologischen Komplexe. Mithin gibt es auch keine psychologischen Konstanten. Jeder Versuch solche zu konstruieren, trägt a priori den Stempel der Unfruchtbarkeit in sich. Es ist aus diesem Grunde eine sichere aprioristische Beurteilung dessen, was an Wechselwirkung zwischen einem Stoff und dem Körper eintreten wird, unmöglich. Es ist bezeichnend, dass auch ein Mann wie Kant die hohe Bedeutung der Individualverschiedenheiten so erkannt hat, dass er an einen Arzt, Marcus Herz, schreiben konnte: „Studieren Sie doch ja die große Mannigfaltigkeit der Naturen.“