Ich bin das Volk

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Ich bin das Volk
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Leopoldine Evelyne Kwas:

Ich bin das Volk

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-245-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Weil ich euch liebe

Inhalt

Die Suppe geht über

Wer bin ich?

Armut, die Sie nicht sehen

Beschäftigung in Österreich

Sie nennen es »Arbeitsmarktservice«

Für dumm verkauft

Wir, die Nazis

Wir sind die Wirtschaft

Die Politik des Volkes

Die Suppe geht über

Es hätte ein schöner Tag für mich werden sollen. Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Vormittag ausnahmsweise nicht in meinen Laden zu gehen. Ich wollte mir selbst ein paar gute Stunden gönnen. In solchen Fällen steht Kochen ganz weit oben auf meiner persönlichen To-do-Liste.

Eine Freundin hatte mir ein Kochbuch voll mit bodenständigen Gerichten geschenkt. Es sollte eine Kartoffelsuppe nach Wiener Art werden. In der Luft lagen schon die Aromen der frischen Kräuter. Dazu würde ich selbst Brot backen.

Beim Kartoffelschälen schaltete ich den Fernseher an und landete bei einer Live-Übertragung des ORF aus dem österreichischen Parlament. Sie, meine Damen und Herren in der Politik, hatten sich ein paar Tage zuvor auf Neuwahlen geeinigt und nun ging es um die Form der Zusammenarbeit in den nächsten Wochen. Probleme zu lösen gab es in unserem Land ja genug.

Ich drehte den Ton etwas lauter, um nichts zu verpassen, während ich meine Zutaten wusch. Eigentlich hätte ich einen konstruktiven Dialog erwartet. Stattdessen hörte ich immer lautere Auseinandersetzungen. Ich spürte, wie mich diese merkwürdige Dynamik erfasste. Wo, verdammt noch einmal, war dieser blöde Kochtopf bloß wieder?

Genervt durchstöberte ich meine Küchenschränke, während Sie sich im Parlament gegenseitig als Versager beschimpften. Irgendwie hieß das ja wohl, dass wir, die wir diese Versager gewählt haben, auch Versager waren.

Es war kaum auszuhalten, wie Sie sich auslachten und beschimpften. Hätte es sich um ein Theaterstück gehandelt, wäre das nicht gar so tragisch gewesen. Dann hätte ich am Ende mein Eintrittsgeld zurück verlangt, und fertig. Doch hier standen Sie auf der Bühne, die Spitzen der Bundesregierung und der Großteil der Abgeordneten zum Nationalrat. Es war Ihnen offensichtlich egal, dass Sie Ihr mieses Stück vor laufenden Kameras inszenierten. Sie äfften einander sogar nach. Einer von Ihnen verwendete das Wort »Schmierentheater«. Es kam mir vor, als würden die Kameras Sie erst recht zu Bosheiten animieren. Als seien Gemeinheit und Niedertracht die Maßstäbe für die Qualität Ihrer Politik.

Mir wurden Ihre erhitzten Gesichter zu viel und ich drehte den Fernseher ab. Lasst mich doch in Ruhe, dachte ich. Wenn es heute überhaupt noch etwas werden sollte mit meiner Suppe, dann sollte ich mich jetzt besser aufs Kochen konzentrieren. Doch es gelang mir nicht so recht.

Ich fragte mich, wem Sie mit solchen Stücken imponieren wollen. Wem helfen Sie damit? Während Sie als Bestverdiener einander verbale Ohrfeigen verpassen, nehmen viele betrübliche Schicksale in diesem Land ihren Lauf, die so nicht sein müssten.

Haben Sie an diesem Tag zum Beispiel auch nur einen einzigen Job für einen einzigen jungen Menschen geschaffen? Das wäre doch eigentlich eine Ihrer Aufgaben, oder nicht? Und was ist mit denen, die morgen einen dringenden Arzttermin haben und schon heute wissen, dass sie schwarzfahren müssen, weil sie sich die Fahrkarte nicht mehr leisten können?

Wem haben Sie, die wir in die hohen Ämter gewählt haben, heute geholfen? Wem haben Sie das Leben erleichtert? Wie haben Sie sich heute für uns eingesetzt, damit wir in diesen schwierigen Zeiten auf Besserung hoffen können?

Meine Gedanken schwappten mitsamt der Suppe über, in der ich mittlerweile zu heftig rührte. Rauch und der Geruch von Verbranntem stiegen auf. Ich kann lüften und frischen Wind hereinlassen, dachte ich, während ich das Küchenfenster öffnete. Aber Sie, die feinen Damen und Herren in den guten Kleidern? Wann lassen Sie den frischen Wind, den Sie vor Wahlen so gerne beschwören, endlich wirklich einmal ins Land? Wann gedenken Sie, endlich wirklich einmal für uns da zu sein?

Wer bin ich?

Ich bin das Volk. Ich bin irgendeine Wählerin. Ich bin diejenige, die Sie, meine Damen und Herren in der Politik, fragen, ob ich Ihnen vertrauen möchte. Ich bin diejenige, für die Sie Ihre Parteiprogramme schreiben. Ich bin die Stimme, um die Sie in Ihren Wahlkämpfen buhlen. Ich bin die Person, die den Kugelschreiber, die Kappe, die Autogrammkarte oder den roten Apfel bekommt.

Sie wollen meinen Beifall, mein wohlwollendes Nicken, Sie schütteln gerne meine Hand und sehen mir dabei professionell in die Augen. Sie versuchen, mir die Worte aus dem Mund zu nehmen. Oft, indem Sie über andere schimpfen. Sie wollen mir damit klar machen, dass Sie meine Anliegen kennen und dass Sie genau für diese Anliegen bis ans Ende Ihrer politischen Tage kämpfen werden, weil es ja auch die Ihren sind.

Ich bin die, der Sie sich vorstellen als die Retter meines Haushaltsbudgets, der abstürzenden Mittelschicht, der Umwelt, der Außenseiter und von allem, das ich sonst noch gerettet haben möchte.

Ich bin die, der Sie gerne erzählen, Sie wüssten ganz genau, wie es da unten ist bei uns, dem Volk. Wie es sich anfühlt, kämpfen zu müssen. Ich brauche Sie bloß zu wählen, dann wird alles gut. Und wissen Sie was? Es funktioniert sogar. Bei jeder Wahl tue ich, worauf Sie so scharf sind wie Nachbars Lumpi auf den neuen Postler. Ich mache in der Wahlzelle mein Kreuzchen für einen von Ihnen.

Ich bin auch diejenige, die mit ihren Steuern Ihre Limousinen bezahlt, deren Felgen wahrscheinlich mehr kosten, als ich jemals in einem Monat verdient habe. Ich bin diejenige, die Ihre Gehälter bezahlt und damit für das Wohlergehen Ihrer Familien sorgt. Ich bin diejenige, die damals Ihre Schulbildung und Ihr Studium mitfinanziert hat, damit Sie jetzt, als Politiker, für mich da sein können. So etwas Ähnliches haben Sie ja auch bei Ihrer Angelobung versprochen, oder nicht? Für mich da zu sein.

Gut, Sie haben dieses Versprechen bisher nicht gehalten. Aber dann, vor der Wahl, haben Sie wieder einmal wirklich alles getan, um mich von Ihren Qualitäten als Führungspersönlichkeiten zu überzeugen. Also denke ich jedes Mal in der Wahlzelle: Lassen Sie uns nach vorne blicken. Schwamm drüber, was die Vergangenheit betrifft. Genauso, wie Sie das von mir erwarten.

Ich bin aber auch diejenige, die nach jeder Wahl noch frustrierter ist als davor, und die sich dann immer zwei Fragen stellt:

Geht es mir am Ende doch nicht so gut, wie Sie es mir vor der Wahl eingeredet haben?

Kann die schöne Zukunft, die Sie mir ausgemalt haben, mit Ihnen an der Macht vielleicht doch nicht Realität werden?

Warum zum Beispiel ist mein Gefühl von Wohlstand und Sicherheit soweit aus meinem Alltag verschwunden, dass ich es nur noch mit meiner Jugend in Verbindung bringe? Warum ist es Nostalgie geworden, ein »Damals-Gefühl« aus den 1970er-, 1980er- und auch noch den 1990er-Jahren?

Dann denke ich: Sie sehen und hören uns nicht, weil Sie uns gar nicht sehen und hören wollen. Irgendjemand muss Sie aufwecken. Irgendjemand muss Ihnen sagen, was wirklich los ist in diesem Land.

Genau das werde ich jetzt tun.

Armut, die Sie nicht sehen

Vergangenen Winter hatte ich auf einem Weihnachtsmarkt eine schmerzliche Begegnung. Eine schmächtige alte Frau mit faltigem Gesicht sah mich lieb an und zeigte auf den Kartoffelpuffer in meiner Hand, den ich mir geleistet und von dem ich schon abgebissen hatte.

Sie war keineswegs eine verkommene Alte, wie Sie jetzt vielleicht denken, eine, die wegen Trunksucht oder einer psychischen Erkrankung aus den sozialen Netzen gefallen ist. Sie war alles andere als eine typische Schnorrerin. Sie sah aus, wie vielleicht auch meine Mutter ausgesehen hätte, wenn sie nicht schon in jungen Jahren gestorben wäre. Sie war einfach eine betagte Österreicherin, zurückhaltend und etwas betreten. Eine betagte Österreicherin, die Hunger hatte.

Natürlich gab ich ihr meinen Kartoffelpuffer und natürlich lief ich und kaufte ihr noch einen zweiten, obwohl ich ehrlich gesagt auch ein bisschen aufs Geld schauen muss. Sie bedankte sich höflich und zog sich zurück, um ihre Mahlzeit zu genießen.

Wann, meine Damen und Herren, sind Ihnen das letzte Mal die Tränen in die Augen gestiegen, weil Sie erkannt haben, wie bitter es für manche ist, ihr Leben in unserem Land fristen zu müssen?

 

Ach ja, ich vergaß. Die Bettler gehören ja alle organisierten Banden an, die in Wahrheit in Schlössern wohnen und sich nur deswegen arm stellen, weil sie einfach faul sind.

Ich weiß.

Österreich war einmal so reich. Hier herrschten einmal nahezu amerikanische Verhältnisse. Vom Tellerwäscher zum Fabrikanten oder von der Stewardess zur Spitzenmanagerin. Solche Aussichten machten das Leben lebenswert. Dass die Wenigsten je so weit kamen, machte gar nichts. Alleine das Wissen um die Möglichkeit, mit Fleiß, Mut und guten Ideen alles erreichen zu können, schuf dieses Gefühl, ein vollwertiger Mensch zu sein.

Österreich war einmal so stark. Wir waren ein humorvolles und geeintes Volk mit pausbackigem Nachwuchs, das sich Zeit für seine Traditionen nahm. Die Alten mussten uns damals nicht verschämt um einen Bissen bitten. Wir hatten Respekt vor ihnen. Wir hörten auf sie, wenn sie uns vom Krieg erzählten und uns warnten. Wir standen in der Straßenbahn und im Bus auf, wenn einer von ihnen einstieg.

Auch damals ging es nicht allen gut, wenden Sie jetzt wahrscheinlich ein. Auch damals gab es Bettler. Doch damals fühlte sich das mit den Armen noch anders an.

Ich wuchs in einem Wiener Gemeindebau mit dem dort typischen dörflichen Charakter auf. Jeder kannte jeden, ob wir wollten oder nicht. Bestimmte Menschen sorgten beharrlich dafür, dass alle mit den neuesten Informationen über alle anderen versorgt waren. So wussten wir dann zum Beispiel, dass auf Stiege 4, Tür 2, eine alte und anscheinend ärmliche Frau eingezogen war. Also schickte die Gemeindebaugemeinschaft eine von den Frauen vor, um in einem freundlichen Gespräch die Lage zu sondieren. Mindestens zwei Mal die Woche brachte in der Folge jemand warmes Essen zu der alten Frau, und dies höchst diskret. Die Erwachsenen achteten darauf, ob sie die Vorhänge regelmäßig auf- und zuzog, und wir Kinder waren angehalten, ihr den Einkauf heim zu tragen, wenn wir sie auf der Straße trafen.

Und heute? Wenn uns jemand um Hilfe bittet, müssen sich viele von uns beschämt abwenden, weil sie selber nicht wissen, wie sie mit ihrem Haushaltsbudget auskommen sollen.

Ich übertreibe? Wenn Sie in Ihren Limousinen an uns vorbeirauschen, fällt Ihnen das nicht auf. Denn vielen von uns sehen Sie die Armut nicht an, meine Damen und Herren. Sie können nicht auf den ersten Blick erkennen, in welcher Sackgasse jemand steckt und wie viele Sorgen er hat.

Jüngst hat mir eine Frau erzählt, dass sie bereits seit einem halben Jahr ohne Strom lebt, weil sie ihn sich nicht mehr leisten kann. Niemals hätte ich vermutet, dass sie in so einer traurigen Situation ist, denn sie war sauber gekleidet und frisiert.

Sie zeigte mir ein kleines Stofftier, das sie verbilligt bei einem Diskonter gekauft hatte. Sie hatte keine zwei Euro dafür bezahlt, für sie ein Betrag von Bedeutung, doch sie hatte einfach nicht widerstehen können, ihrem neugeborenen Enkelkind ein Geschenk mitzubringen. Ich sah ihr an, wie sie die Bescheidenheit dieses Geschenkes grämte, aber sie hielt sich tapfer.

Ich fragte sie, wie sie in der Nacht ohne Licht das Klo findet, denn sie fuhr einen Rollator, mit dem das wahrscheinlich besonders schwierig war. Sie meinte, es wäre witzig, dass ich darauf zu sprechen komme, weil sie erst dieser Tage eine Lösung für dieses Problem gefunden habe.

Jeden Abend vor Einbruch der Dunkelheit würde sie einen Wollfaden vom Bett zur Toilettentür spannen, so straff wie möglich. An dem Faden würde sie sich dann entlangtasten. Das funktioniere prima.

Ich wollte nicht, dass sie sich bloßgestellt fühlt. Deshalb habe ich nicht gefragt, ob sie nicht wenigstens die Mindestsicherung bezieht, oder was sie sonst an Einnahmen und Ausgaben hat. Es gab bestimmt gute Gründe, wieso sie sogar auf den Strom verzichten musste und ihr Leben diesen Lauf genommen hat.

Sie wirkte, zumindest im Rahmen unseres Gespräches, gefasst. Ihr Schicksal bejammerte sie nicht, und das möchte ich ihr zuliebe hier auch nicht tun. Doch wenn ich daran denke, dass Sie, meine Damen und Herren, vor jeder Wahl auch hinter ihrer Stimme her sind, dass Sie dann auch ihr einen Kugelschreiber, eine Kappe, einen Apfel oder eine Autogrammkarte mit Ihrem lächelnden Gesicht darauf schenken, dann schäme ich mich, nicht nur für Sie, sondern auch für mich, die einigen von Ihnen mit meiner Stimme zu Ihren Ämtern verholfen hat. Und ich schäme mich dafür, dass ich ihr nicht diskret helfen kann, weil sich das bei mir einfach nicht ausgeht.

Gerade für meine Generation, die einen gewissen Überblick über die jüngere Geschichte hat, ist es grausam zu sehen, was aus uns geworden ist und wie sich Österreich entwickelt hat.

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten wir einen echten Sozialstaat. Es gab ein Anreizsystem, das uns motivierte, im Interesse des Landes zu handeln. Es gab zu wenige Eheschließungen, also kam das Hochzeitsgeld. Es gab zu wenig Bevölkerungszuwachs, also kam das Geburtengeld.

Die damaligen Regierungen gaben uns das Gefühl, dass es uns gut geht im eigenen Land. Die Kollektivverträge garantierten akzeptable Mindestlöhne und alle konnten beruhigt ihrem verdienten Ruhestand entgegensehen. Die Renten waren so gut wie gesichert.

Bruno Kreisky hat die Herzen seiner Wählerschaft erobert mit der Ansage, dass ihm ein paar Milliarden Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten würden als ein paar hunderttausend Arbeitslose. Volkswirtschaftlich betrachtet mag diese Aussage fragwürdig sein, aber Kreisky hat damit das vertreten, was sich die Mehrheit gewünscht hat.

Klar, die Manager der verstaatlichten Betriebe haben Geld verschwendet, die damaligen Politiker haben mit Posten geschachert und Fehlentscheidungen getroffen, es gab Missmanagement und es mangelte an Kontrolle und strategischer Weitsicht. Dieses System ist selbstverschuldet und zu Recht untergegangen. Jede Kritik daran ist rückblickend berechtigt. Dennoch stand es für eine Politik, in der es noch um die Menschen ging.

Ich weiß, was Sie jetzt denken. In vielen Ländern ist der Lebensstandard objektiv niedriger als bei uns in Österreich. Darauf weisen Sie gerne hin, nicht wahr? Klar, denn umso mehr wir auf die Not anderer schauen, umso nichtiger erscheinen uns unsere eigenen Probleme. Aber Statistiken, die sich immer so gestalten lassen, dass alles gut erscheint, machen unser Leben nicht besser.

In Wirklichkeit sind wir schon lange nicht mehr die »Raunzer auf hohem Niveau«, die wir vielleicht einmal waren. Und zwar deswegen nicht, weil das Niveau unserer Lebensqualität in Österreich empfindlich weit gesunken ist.

Sie werden mir vielleicht entgegenhalten, dass Österreich heute objektiv viel reicher ist, als in der Zeit, auf die ich so nostalgisch zurückblicke. Dann frage ich Sie: Welches Österreich meinen Sie?

Ich bin Anfang der 1960er Jahre zur Welt gekommen und ich erinnere mich gerne an die Zeit, in der die besseren Möglichkeiten den niedrigeren Wohlstand bei weitem aufwogen. Wissen Sie, ein entscheidender Punkt fehlt in Ihren Statistiken immer.

Armut fühlt sich für jemanden, der auf dem Weg nach unten ist, ganz anders an als für jemanden, der auf dem Weg nach oben ist.

Nicht die Tausender auf unserem Konto, sondern unsere Aussichten haben uns damals reich gemacht, und wer, wenn nicht Sie, meine Damen und Herren, wäre dafür zuständig, diese Aussichten mit Entschlossenheit wieder herzustellen?

Es kann immer passieren, dass ein Land auch einmal durch magere Zeiten gehen muss, aber doch bitte nicht so, wie es hier im Österreich des Jahres 2017 der Fall ist. Die Industrie zeigt uns die schönsten Produkte, die wir uns nicht mehr kaufen können, oder wenn doch, dann mit Krediten, die wir kaum noch zurückzahlen können.

Rund um die Uhr laufen Kochsendungen, aber immer weniger von uns können mitkochen, weil uns das entsprechende Haushaltsbudget fehlt. Wir haben Zugriff auf tolle Rezepte und bahnbrechende ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse, bloß ist das für viele von uns eine andere Welt mit zu hohem Eintrittspreis.

Vor zwei Jahrzehnten war ein schöner Urlaub einmal im Jahr unser Luxus. Heute ist es für viele von uns Luxus, einmal im Jahr richtig schick essen zu gehen.

Einige junge Frauen, die ich von einem früheren Job kenne, luden mich einmal ein, mit ihnen auf die Wiener Mariahilferstraße shoppen zu gehen.

Nun bin ich keine große Einkäuferin, weil ich Menschenansammlungen lieber meide und mein Geld nicht wahllos ausgeben kann.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie viel ein kleiner Brauner kostet? Ich tue es regelmäßig. Obwohl ich es liebe, im Sommer in Gastgärten zu sitzen, muss ich manchmal vorbei gehen. Auch wenn ein Platz unter einem Sonnenschirm noch so verlockend aussieht. Und falls Sie das lesen und nächstes Mal in einem Ihrer Stammlokale darauf achten, wie viel ein kleiner Brauner kostet: Dort wo ich ihn gerne trinken würde, würde er sogar nur ein Drittel davon kosten.

Daher wusste ich anfangs nicht, wie ich mit der wirklich lieb gemeinten Einladung zum Shoppen umgehen sollte. Eigentlich wollte ich ablehnen. Aber es ehrte mich, dass die Mädels sich in ihrer Freizeit mit mir, der viel Älteren, abgeben wollten, und so sagte ich, wenn auch mit leichtem Bauchweh, dann doch zu.

Wir trafen uns also in der Mariahilferstraße, ein lustiges und buntes Grüppchen, wild entschlossen, uns hier und jetzt die Stadt zu unterwerfen. Lachend betraten wir einen Laden nach dem anderen und schauten uns um. Jedes Mal, wenn wir ein Geschäft verließen und niemand von uns etwas gekauft hatte, atmete ich auf, denn so fiel ich nicht aus der Rolle.

Als aber auch nach Stunden niemand etwas gekauft hatte und trotzdem alle weiterhin bei bester Laune zu sein schienen, wurde ich stutzig. Zu guter Letzt beendeten wir den Tag in einem Lokal, um vor dem Heimfahren noch etwas zu trinken.

Komisch, dachte ich. Keines der Mädels hat etwas gekauft, obwohl wir in richtig trendigen Läden waren, in denen sich für junge Frauen der Modehimmel auftut. Lag es etwa an mir, der Alten, dass sie sich beim Einkaufen gestört gefühlt haben? Dachten sie etwa, ich würde wie Mutti mit verzogenen Mundwinkeln danebenstehen und den Kopf schütteln? Der Gedanke bescherte mir ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Dieses Gefühl musste ich loswerden. Und wie es halt meine Art ist, platzte ich gleich damit heraus. »Sagt mal, ihr Lieben, gibt es einen Grund, wieso ihr euch heute nichts gekauft habt?« Ich blickte in die Runde und erntete nur verständnislose Gesichter.

»Was meinst du Evelyne? Wolltest du etwas kaufen?«, fragte eine von ihnen.

Ich versuchte, die Situation zu retten. »Naja, eigentlich nicht.«

Die Mädels jedoch hatten mich durchschaut und klärten mich darüber auf, dass »Shoppen« in ihrem Jargon etwas anderes bedeutet als »Einkaufen«. Wer »shoppt« braucht kein Geld, und zwar deswegen, weil er nichts kauft. Es geht ums Schauen und Probieren. »Shoppen« ist das Einkaufen der Mittellosen.

Nun verstehe ich die Unternehmer in den Innenstädten, die trotz hoher Frequenz über niedrige Umsätze jammern. Ich war bei meinem letzten Job Filialleiterin bei einer Modekette und weiß deshalb aus Erfahrung, dass auch die beste Verkäuferin keine Chance hat, wenn einem Kunden das nötige Geld fehlt.

Die traurige Wahrheit, die sich hinter dieser Geschichte verbirgt, ist nicht nur, dass immer mehr Menschen gerne einkaufen würden und es nicht mehr können. Sie gewöhnen sich bereits daran.

Die Kultur des Mittelstandes verbindet sich derzeit mit einer neuen Kultur der Mittellosigkeit, bei der alle verlieren. Es passiert direkt vor unseren Augen. Und es wird uns allen noch sehr leidtun, wenn wir weiter aus Stolz darüber schweigen.

Es gab immer Menschen, die sich gerne etwas gekauft hätten, das sie sich nicht leisten konnten, meinen Sie? Das sei ein ganz normaler Effekt der Konsumgesellschaft? Ich will Ihnen anhand von zwei Beispielen zeigen, wie falsch Sie schon wieder liegen.

Als erstes Beispiel meine Nachbarn im Jahre 1998. Er, ein kleiner Angestellter bei der Gemeinde, sie stundenweise Reinigungsfrau in einem kleinen Unternehmen. Zwei Kinder.

Ich habe diese Familie nie großspurig erlebt. Sie hatten ein Mittelklasseauto. Einmal im Jahr fuhren alle damit nach Italien. Der Urlaub war drin, wie es so schön heißt. Zwei Wochen bella Italia und gut war es wieder für ein Jahr.

Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie alle ihre Anschaffungen bezahlen konnten. Ein paar Mal im Jahr bekamen alle neue modische Kleidung, nichts richtig Teures, aber immerhin.

 

Sie gingen nicht großartig aus, aber dafür kamen Freunde zu ihnen, die sie auch bewirten konnten.

Die Eltern zahlten für sich je einen kleinen Bausparer ein und für jedes Kind gab es ein Sparbuch zur Finanzierung des Führerscheins. Daran durfte sich gerne auch die Verwandtschaft beteiligen.

Ansonsten hatten die Kinder alles, was andere auch hatten. Fahrräder, Skateboards und was eben gerade angesagt war. Dazu besaß die ganze Familie eine Saisonkarte fürs Freibad. Jeder Schulbeginn war punkto Anschaffungen gesichert und die Schulmilch für das ganze Jahr war auch kein Thema. Genauso wenig wie diverse Schulausflüge, Schullandwochen und Schikurse. Es ging sich eben aus, wenn auch manchmal mit einem kleinen Schnaufer. Mensch, was willst du mehr?

Leben müssen wir können, auch wenn wir mit dem, was wir haben, haushalten müssen.

Eine Studie hat gezeigt, dass es die kleinen Freuden sind, die uns glücklich machen. Wenn wir uns ab und zu ohne schlechtes Gewissen eine Kleinigkeit leisten können. Einen neuen Nagellack oder einen schönen Schal. Manchmal eine Flasche Lieblingsbier zur Feier des Tages. Vielleicht auch einmal eine fesche Hose. Die Möglichkeit zu haben, ab und zu mal ein paar Freunde daheim zum Essen und Trinken einzuladen. Ein Eis für die Familie am Sonntag oder ein kleiner Brauner im Kaffeehaus, das reicht schon.

Der kleine Luxus. Wenn wir ihn uns leisten können, ohne jeden Euro dreimal umdrehen zu müssen, geht es uns gut. Zwischendurch Zeiten, in denen wir echt sparen und aus Vernunftgründen auf manches verzichten müssen, sind auch in Ordnung. Aber immer sparen? Ohne Hoffnung auf Veränderung?

Die gleiche Familienkonstellation zwanzig Jahre später.

Ich habe diese zweite Familie vor ungefähr einem Jahr kennengelernt und kann über sie nur sagen: Wirklich nette Leute. Ihr Herkunftsand ist das ehemalige Jugoslawien, aber sie leben seit dem dortigen Krieg hier und sind mittlerweile Österreicher. Alle sprechen fließend Deutsch und wenn ich nicht wüsste, woher sie stammen, würde ich nie vermuten, dass sie nicht schon immer hier gelebt haben.

Er verdient als Bauhelfer monatlich rund 1.200 Euro. Sie geht bei einem kleinen Unternehmen in der Nähe putzen und verdient damit rund 200 Euro dazu. Zweimal Kinderbeihilfe ergeben rund 390 Euro monatlich. Insgesamt lukriert diese vierköpfige Familie also etwa 1.790 Euro monatlich.

So, und jetzt geht’s los.

Miete: 620 Euro

Strom und Wasser: rund 80 Euro

Telefon: 40 Euro

Versicherungen: 50 Euro

Auto und Benzinkosten: 100 Euro

Kreditraten für die Möbel: 150 Euro

Essen für alle: 600 Euro.

Waschmittel, Zahnpaste, et cetera: 30 Euro.

Das sind in Summe 1.670 Euro. Bleiben für Schuhe, Kleidung, Schulsachen und Unvorhergesehenes 120 Euro.

Wehe ihnen, wenn die Waschmaschine eingeht. Nachhilfe, Sportverein, Klassenfahrten und sogar die Schulmilch sind für die Kinder gestrichen. Im Sommer mal ins Freibad ist nur ganz selten drin. Eis für die Kinder oder eine Limonade geht nur mit Zähneknirschen, und Urlaub, was ist das?

Urlaubs- und Weihnachtsgeld gehen für Heizkosten, Geburtstage und Weihnachten drauf. Bausparer hat die Familie keinen, Sparbücher auch nicht. Mit Freunden treffen sie sich hauptsächlich im Park. Das ist am billigsten. Kinder spielen lassen, plaudern und dann wieder nach Hause.

Letztens habe ich gerade von einer saftigen Nektarine abgebissen, als die Frau mit den Kindern auf einen Sprung bei mir vorbeischauten. Der Kleinsten wären wegen der Nektarine fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Ihre Mutter ermahnte sie deswegen. Mir war, als würde mir der Bissen im Hals stecken bleiben und natürlich teilte ich meine Nektarine mit ihr.

Ich weiß, dass Kinder manchmal gerne haben möchten, was sie gerade sehen, aber bei diesem Mädchen war es anders. Nektarinen stehen angesichts von zwanzig Euro Tagesbudget für die Ernährung von vier Menschen bestimmt ganz selten auf dem Einkaufszettel ihrer Mutti. Immerhin muss sie damit Frühstück für alle, Jause für die Kinder, Jause für den Ehemann sowie Mittag- und Abendessen bestreiten.

Glauben Sie mir bitte, meine Damen und Herren in der Politik, ich unke nicht herum, wenn ich sage, dass es dieser Familie im Verhältnis noch immer gut geht. Sie schafft es wenigstens, ihr Dach über dem Kopf zu behalten und sie hat es im Winter warm.

Andere Menschen in Österreich haben es weit weniger gut. Wie oft habe ich in den vergangenen Jahren gehört, dass die Krankenkassen Anträge behinderter und beeinträchtigter Menschen auf Zuschüsse zu notwendigen Hilfsmitteln und unterstützenden Therapien abgelehnt haben.

Traurig. Das sind keine Einzelfälle. Fragen Sie den erstbesten Passanten auf der Straße. Sie kennen die Straßen, auf denen wir, das Volk, unterwegs sind, doch noch, oder? Oder rauschen Sie in Ihren Limousinen nur vorbei und sind sonst nur dort unterwegs, wo die Schönen und Reichen wohnen? Bei uns jedenfalls kennt nahezu jeder jemanden, bei dem die Krankenkasse unverständlicherweise gespart hat.

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