Literatur? Skandal!

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Literatur? Skandal!
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Literatur – Medium – Praxis.

Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Georg Witte

Band I

Leonie Langer

Literatur? Skandal!

Mechanismen der Skandalisierung

am Beispiel von Christian Krachts Roman Imperium

und Günter Grass’ Gedicht Was gesagt werden muss

Die Untersuchung wurde im Wintersemester 2012/13 als Abschlussarbeit im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht.

Impressum

Copyright: © 2014 Leonie Langer

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1327-2

Satz: Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme

Weitere Informationen: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/agwlit

Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis“ – Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft

Die vorliegende Arbeit wurde als Abschlussarbeit im weiterbildenden Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin eingereicht.

Der im Wintersemester 2003/04 eröffnete Studiengang bereitet auf beruf-liche Tätigkeiten im Bereich der Literaturvermittlung und -förderung vor und macht mit der Funktionsweise des Literaturbetriebs vertraut. Durch die Vermittlung branchenspezifischen Wissens und praktischer Fähigkeiten sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, ihre literaturwissenschaftlichen Fachkenntnisse in der außeruniversitären beruflichen Praxis anzuwenden. Die Lehrveranstaltungen des Studiengangs verbinden praktische Arbeit mit der theoretischen Reflexion auf die Bedingungen und Funktionen dieser Praxis. Darüber hinaus ist die Hinführung auf die Berufspraxis im Literaturbetrieb kombiniert mit der Vermittlung von vertieftem Fachwissen und Urteilsvermögen über (vor allem zeitgenössische) Literatur und ihre medialen Umsetzungen. Der Studiengang verfügt über ein enges Netzwerk an Kooperationen mit den Medien und Institutionen des literarischen Lebens, aus denen sich auch ein Großteil des Lehrpersonals rekrutiert. Dadurch ist neben dem Praxisbezug auch die stetige Aktualisierung der Lehrinhalte gewährleistet.

Die inzwischen weit über 100 Masterarbeiten des Studiengangs untersuchen unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Literaturvermittlung in Verlagen, Medien, Agenturen, Literaturhäusern, Festivals und anderen Institutionen. Sie analysieren Werke der Gegenwartsliteratur, die mediale (Selbst-)Inszenierung von Autorinnen und Autoren in einem zunehmend kommerzialisierten Literaturbetrieb, den Einfluss der digitalen Revolution auf alle Akteure des Betriebs – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verfasser der Masterarbeiten leisten dabei oftmals Pionierarbeit, da es zu den Themen der Angewandten Literaturwissenschaft häufig kaum oder keine Forschungsliteratur gibt.

Um diese Pionierleistungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Reihe initiiert. Sie veröffentlicht vom Wintersemester 2014/15 an in regelmäßigen Abständen eine Auswahl aus den besten Masterarbeiten des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft.

Wir danken allen, die an der Vorbereitung der Publikationen mitgearbeitet haben, und dem Verlag Epubli für seine Kooperationsbereitschaft.

Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm

(Institut für Deutsche und Niederländische Philologie

der Freien Universität Berlin)

Prof. Dr. Georg Witte

(Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin)

Kurzzusammenfassung

Der Journalismus befindet sich in einem ständigen Kampf um Auflagen, Quoten und Klickzahlen; die Medien werden von einer zunehmenden Lust an Skandalen und Krisen beherrscht. Die im Rahmen des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin im Februar 2013 eingereichte Masterarbeit analysiert am Beispiel zweier Literaturdebatten die neue Empörungsbereitschaft im Journalismus: Im Frühjahr 2012 beschäftigen die Debatten um Christian Krachts Roman Imperium und um Günter Grass’ israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muss wochenlang die Medien. Inwiefern diese Skandale von den Medien produziert werden und welche Mechanismen dabei greifen, wird in dieser Arbeit untersucht.

Im Februar 2012 erscheint Christian Krachts Roman Imperium über den Aussteiger August Engelhardt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Kolonien nach Deutsch-Neuguinea aufbricht. Die Geschichte spielt vor dem Horizont der deutschen Kolonialmacht und zweier Weltkriege; der Protagonist trifft auf Antisemiten und wird später selbst zu einem. Im Magazin Der Spiegel unterstellt der Journalist Georg Diez dem Autor Sympathien für das antisemitische und rechtsradikale Denken seiner Figuren. Dieser Kurzschluss vom Protagonisten auf den Autor wird von anderen Medien als Skandal bezeichnet.

Bei Günter Grass hingegen ist der Primärtext, das Gedicht Was gesagt werden muss, der direkte Auslöser des Skandals. In dem reimlosen Prosagedicht, im April 2012 in der Süddeutschen Zeitung publiziert, warnt ein Lyrisches Ich vor einem geplanten atomaren Angriff Israels auf den Iran, thematisiert gleichzeitig das eigene lange Schweigen über die von Israel ausgehende Gefahr und begründet das Schweigen mit der Angst, als Antisemit bezeichnet zu werden. Zu einem Skandal wird das Gedicht in erster Linie dadurch, dass die Medien Grass als Lyrisches Ich identifizieren. Besonders durch diese Gleichsetzung von Autor und Sprecher wird nach Meinung der Medien das Gedicht zu einem Skandal, bei dem es primär um den Verfasser geht: Grass, der lange seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwieg, setze sich nun als Israelkritiker, Tabubrecher und Mahner in Szene.

Welche kontroversen Debatten diese beiden Texte in den Medien auslösen und was das über den Journalismus im 21. Jahrhundert verrät, damit setzt sich diese Arbeit kritisch auseinander.

Es werden fünf Thesen in Bezug auf die Mechanismen der Skandalisierung aufgestellt: Skandale werden von den Medien selbst erzeugt, Skandaldebatten sind sprachlich emotional aufgeladen, sie vereinfachen Sachverhalte und drehen sich nicht primär um Inhalte, sondern um Personen, bei Skandaldebatten handelt es sich stets um selbstreferentielle Metadebatten. Es wird untersucht, inwiefern sich diese Thesen an den Skandalen um Christian Kracht und Günter Grass verifizieren lassen.

Darüber hinaus werden die Folgen der Skandalisierung erörtert. Am Beispiel der Debatten um Kracht und Grass wird aufgezeigt, inwiefern Skandale Diskurse anstoßen können, die über die reine Skandalberichterstattung hinausgehen. Bei den beiden untersuchten Fällen sind das drei zentrale Themen: die Diskussion über die Bedeutung von Literatur, Literaturkritik und die Rolle des Schriftstellers, die Diskussion über Faschismus und Antisemitismus sowie über den Journalismus im 21. Jahrhundert.

Die beiden Fälle wurden nicht nur aufgrund ihrer Aktualität als Analysegrundlage ausgewählt, sondern weil durch die differierenden Ausgangssituationen die Analogien der Mechanismen besonders deutlich werden. Denn so unterschiedlich die beiden Fälle auch sind, es lassen sich bestimmte Parallelen in Bezug auf den Umgang der Medien mit ihnen feststellen. Am Beispiel der beiden Debatten wird gezeigt, dass Skandale keine natürlichen Reaktionen auf einen Missstand, sondern die Folge der Mechanismen öffentlicher Kommunikation sind, bei denen die eigentlichen Inhalte allzu schnell sekundär werden.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Ausgangssituation und Eigenheiten der zwei Skandale

2.1 Die Skandal-Literatur

2.2 Auslöser und Umfang des Skandals

2.3 Art der Skandale

3 Die Mechanismen der Skandalisierung in den Medien

3.1 Skandale werden von den Medien gemacht

3.1.1 Kracht

3.1.2 Grass

3.2 Skandale bedienen sich emotionaler Sprache

3.2.1 Kracht

3.2.2 Grass

3.3 Skandale vereinfachen Sachverhalte

3.3.1 Kracht

3.3.2 Grass

3.4 Bei Skandalen geht es um die Person

3.4.1 Kracht

3.4.2 Grass

3.5 Skandaldebatten sind Metadebatten

3.5.1 Kracht

3.5.2 Grass

4 Folgen der Skandalisierung

4.1 Bedeutung für Literatur, Literaturkritik und Rolle des Schriftstellers

4.2 Diskussion von Inhalten: Faschismus und Antisemitismus

4.3 Diskurs über Journalismus, Medium und Publikum

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Das zurückliegende Jahr hat einen dramatischen Wandel der Medienwelt offenbar werden lassen. Skandalisierung und Boulevardisierung, Krisensucht und Konformismus sind […] die vier apokalyptischen Reiter der Medien.“1 So fasst der Publizist Hans-Ulrich Jörges das Jahr 2012 rückblickend zusammen. Dass diese ‚apokalyptischen Reiter‘ nicht nur die Bereiche Politik – ein besonders großes Ausmaß nahm der Skandal um den nunmehr ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff an –, Wirtschaft oder Sport erreicht haben, sondern auch vor eher schöngeistigen Themen nicht Halt machen, zeigen zwei Literaturskandale, die im Frühjahr 2012 die Medien beschäftigten: der um Christian Krachts Roman Imperium und der um Günter Grass’ Gedicht Was gesagt werden muss. Dass Literatur, Lyrik gar – ansonsten nicht gerade ein Thema, dem die Öffentlichkeit besonders viel Aufmerksamkeit schenkt –, für solch einen Aufruhr sorgt, zeugt von einer Empörungsbereitschaft der Medien, die es im Folgenden zu untersuchen gilt.

 

Literaturskandale sind nichts Neues2; seit den Anfängen der Literatur gibt es „Skandale, Affären und Causes Célèbres“3. Sie können wichtige Diskussionen anregen und gesellschaftliche Fragen aufwerfen. Auch die beiden vorliegenden Fälle sind durchaus diskutierbar: Der Vorwurf des Spiegel-Journalisten Georg Diez, Christian Krachts Roman Imperium lasse das rechte Gedankengut des Autors erkennen, wirft Fragen etwa über das Verhältnis von Autor und seinen (Erzähler-)Figuren und über die Vorgehensweise der Literaturkritik auf. Die in Grass’ Gedicht Was gesagt werden muss geäußerte Israelkritik und die zur Schau gestellte Selbstinszenierung des Verfassers als Mahner und Tabubrecher geben Anlass zur Diskussion u.a. über Aufgaben und Grenzen von Literatur. Insofern kann man es durchaus als berechtigt erachten, dass in beiden Fällen Debatten entstanden sind. Allerdings rücken die inhaltlichen Fragen allzu schnell in den Hintergrund, vielmehr scheint es um das Herbeischreiben und Aufrechterhalten eines Skandals und um die Fokussierung auf die am Skandal beteiligten Personen zu gehen.

Die beiden Fälle wurden nicht nur aufgrund ihrer Aktualität als Analysegrundlage ausgewählt, sondern gerade weil durch die differierenden Ausgangssituationen die Analogien der Mechanismen besonders deutlich werden. Denn so unterschiedlich die beiden Fälle, die beiden Autoren und die beiden Texte selbst auch sind, es lassen sich bestimmte Parallelen in Bezug auf den Umgang der Medien mit ihnen feststellen. Am Beispiel der beiden vorliegenden Debatten soll gezeigt werden, dass Skandale „keine natürlichen Reaktionen auf Missstände, sondern die Folge von Mechanismen öffentlicher Kommunikation“4 sind, bei denen die eigentlichen Inhalte allzu schnell sekundär werden.

Im folgenden Kapitel werden die beiden Skandale in ihrer Verschiedenartigkeit kurz vorgestellt. Dabei soll die ‚Skandalliteratur‘, d.h. Krachts Roman und Grass’ Gedicht, bzw. ihr ‚Skandalpotential‘ vorgestellt werden, wobei auch der Umfang der jeweiligen Debatte beleuchtet wird. Die Frage, ob es sich bei den Skandalen um ‚echte‘ oder um ‚Pseudo‘-Skandale handelt, wird ebenfalls kurz erörtert. Auf dieser Grundlage soll in Kapitel 3 die Berichterstattung der deutschen Presse, insbesondere des Feuilletons, analysiert werden. Dabei werden fünf Thesen in Bezug auf die Mechanismen der Skandalisierung aufgestellt, die zu Beginn eines jeden Unterkapitels kurz allgemein erläutert werden.

Anschließend wird untersucht, inwiefern sich die Thesen in den Skandalen um Kracht und Grass verifizieren lassen. Das Hauptaugenmerk bei der Analyse liegt auf dem Printjournalismus, unter Berücksichtigung der Online-Ausgaben der jeweiligen Zeitungen; die politische Dimension des Skandals um Günter Grass soll weitgehend unberücksichtigt bleiben. Kapitel 4 dient der Erörterung der Folgen der Skandalisierung. Am Beispiel der Debatten um Kracht und Grass soll hier der Frage nachgegangen werden, inwiefern Skandale (Meta-)Debatten anstoßen können, die über die reine Skandalberichterstattung hinausgehen.

Da es im Folgenden in erster Linie nicht um die Beschaffenheit der Primärtexte, sondern um den medialen Umgang mit ihnen im deutschen Feuilleton geht, handelt es sich weniger um eine literatur- als um eine medienwissenschaftliche Arbeit.

1 Hans-Ulrich Jörges: „Wenn die Bestie erwacht.“ In: Stern, 27.12.2012.

2 Siehe dazu z.B. Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.): Literaturskandale. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009 und Stefan Neuhaus und Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Besonders in der Moderne gehört der Skandal zur Literatur dazu, er „liegt im Begriff der Moderne eingebettet und ist daher ein Qualitätsmerkmal moderner Literatur.“ Volker Ladenthin: „Literatur als Skandal.“ In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, S. 19.

3 Hans-Edwin Friedrich: „Literaturskandale. Ein Problemaufriss.“ In: ders. (Hrsg.): Literaturskandale, S. 8.

4 Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalisierung. Zu Guttenberg, Kachelmann, Sarrazin & Co.: Warum einige öffentlich untergehen – und andere nicht. München: Olzog 2012, S. 8.

2. Ausgangssituation und Eigenheiten der zwei Skandale

2.1. Die Skandal-Literatur

Bei einem Skandal handelt es sich um ein „Geschehnis, das Anstoß und Aufsehen erregt“5; eine zweite Wortbedeutung ist „Lärm, Radau“6. Dass es sich bei Christian Krachts Roman Imperium nicht um ein völlig offenkundiges ‚Skandalbuch‘ handelt, wird daran deutlich, dass die ersten Rezensionen in den großen Medien (abgesehen von der taz7) durchweg positiv ausfallen.8 Die Kritiker9 finden nichts Skandalöses an dem Roman über den Aussteiger August Engelhardt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Kolonien nach Deutsch-Neuguinea aufbricht. Die Geschichte spielt vor dem Horizont der deutschen Kolonialmacht und zweier Weltkriege; der Kokosnuss-Verehrer Engelhardt trifft auf Antisemiten und wird später selbst zu einem. Engelhardt ist eine reale historische Person, über ihn ist bereits 2011 ein Roman des eher unbekannten Schriftstellers Marc Buhl erschienen.10

Zwar können einige Passagen, etwa Anspielungen auf Hitler11 und den Holocaust12 sowie rassistische Äußerungen13, als Provokation verstanden werden, aber der Erzähler wahrt, durch die konsequente Verwendung der indirekten Rede und den Duktus eines Erzählers vom Anfang des 20. Jahrhunderts im Stile Thomas Manns, stets eine ironische Distanz zu den Ereignissen und zu dem Protagonisten Engelhardt. Umso konstruierter und dadurch skandalöser wirkt deshalb in den Augen vieler Journalisten der Artikel „Die Methode Kracht“14 des Spiegel-Redakteurs Georg Diez, der dem Autor Sympathien für das antisemitische und rechtsradikale Denken seiner Figuren unterstellt. Als Begründung beruft er sich auf einen E-Mail-Wechsel Krachts mit dem amerikanischen Komponisten David Woodard, der 2011 unter dem Titel Five Years in einem kleinen Verlag erschien.15 So ist es im Falle Krachts nicht der Primärtext, der für den Skandal sorgt, vielmehr wird der Roman durch den Text des Spiegel-Redakteurs skandalisiert und die Medien betrachten den Artikel von Diez als eigentlichen Skandal.

Bei Günter Grass hingegen ist der Primärtext, das Gedicht Was gesagt werden muss16, der direkte Auslöser des Skandals. In dem reimlosen Prosagedicht, das in der Süddeutschen Zeitung publiziert wird, warnt ein Lyrisches Ich vor einem geplanten atomaren Angriff Israels auf den Iran, thematisiert gleichzeitig das eigene lange Schweigen über die von Israel ausgehende Gefahr und begründet das Schweigen mit der Angst, als Antisemit bezeichnet zu werden. Dabei kritisiert es nicht nur Israel, sondern auch die deutschen U-Boot-Lieferungen und fordert eine Waffenkontrolle. Es finden sich viele provokante Formulierungen in dem Gedicht, wie „Erstschlag“, „Volk auslöschen“ oder die den iranischen Diktator Ahmadinedschad verharmlosende Bezeichnung als „Maulheld“. Darüber hinaus ist der Inhalt auf politischer Ebene problematisch, da Vermutungen, wie etwa über die Nuklearbestände Israels und Irans, als Tatsachen formuliert werden.

Zu einem Skandal wird das Gedicht aber in erster Linie erst dadurch, dass sämtliche Medien Günter Grass als Lyrisches Ich identifizieren. Besonders durch diese Gleichsetzung von Autor und Sprecher wird nach Meinung der Medien das Gedicht zu einem Skandal, bei dem es primär um den Verfasser geht: Grass, der lange seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwieg, setze sich nun als Israelkritiker, Tabubrecher und Mahner in Szene.

Dafür, dass Was gesagt werden muss so hohe Wellen schlägt, sorgen außerdem das Genre und das Medium: Ein Gedicht in einer Tageszeitung zu veröffentlichen, ist an sich schon ungewöhnlich. Da es ein besonders aktuelles, tagespolitisches Anliegen hat und darüber hinaus bestimmte Charakteristika eines Gedichts – jedenfalls für den Laien – wie Reim und ein klar identifizierbares Versmaß vermissen lässt, stattdessen aber ein sprechendes Ich mit einer eindeutigen Meinung hat, wäre es naheliegend gewesen, einen sachlichen Leitartikel oder Meinungsessay zu schreiben. Eben dies geschieht allerdings nicht. Dass der Verfasser vielmehr den Eindruck erweckt, er wolle sich mit der kunstvollen Form in Szene setzen und möglicher Kritik aus dem Wege gehen, da er sich mit der gewählten Gedichtform stets auf die Kunstfreiheit berufen könne, auch das trägt zum Skandal bei. Das Medium ist darüber hinaus insofern von Bedeutung, als dass davon ausgegangen werden kann, dass das Gedicht nicht so eine große Aufmerksamkeit erlangt hätte, wenn es nicht in einer großen Zeitung, sondern in einem Gedichtband publiziert worden wäre.

2.2. Auslöser und Umfang des Skandals

Beide Skandale beschäftigen die Medien über mehrere Wochen hinweg, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Der Skandal um Christian Kracht wird durch den am 13.2.12 im Spiegel erscheinenden Artikel „Die Methode Kracht“ von Georg Diez ausgelöst. Der Artikel ist mit vier Seiten außergewöhnlich lang für eine Rezension. Er wird drei Tage vor Erscheinen des Romans publiziert, die Leser sowie einige Kritiker kennen das Buch zu diesem Zeitpunkt also noch nicht. Eine Woche ist die Debatte um Imperium Dauerthema im Feuilleton, danach lässt die Berichterstattung deutlich nach. Ab dem 7. März erhält die Debatte noch einen letzten Aufschwung, als sich Kracht mit der Premierenlesung in der Schweiz erstmals seit Beginn des Skandals wieder der Öffentlichkeit präsentiert. Es folgen Aufritte bei der LitCologne, auf der Leipziger Buchmesse und in der Literatursendung Druckfrisch.

Wesentlich länger dauert der Skandal um Günter Grass an. Am 4.4.12 erscheint das Gedicht als Aufmacher in der Süddeutschen Zeitung17, einer der führenden überregionalen Tageszeitungen, die täglich Millionen Leser erreicht. „Ein Aufschrei“ titelt die SZ auf der ersten Seite, auf der ein großes Foto von Günter Grass zu sehen ist; im Feuilleton ist das Gedicht kommentarlos abgedruckt.18 Schon diese Aufmachung und die Wortwahl „Aufschrei“ zeigen: Hier geschieht etwas Großes, Aufsehenerregendes, ja Skandalöses; der Skandal ist also durchaus erwünscht und einkalkuliert. Auch dass das Gedicht nicht nur in Deutschland, sondern darüber hinaus in der italienischen Tagesszeitung La Repubblica und der spanischen El País abgedruckt wird, zeugt von seiner internationalen politischen Dimension.19 Am selben Tag erscheint ein Artikel des Publizisten Henryk M. Broder in der Welt, in dem er das Gedicht heftig kritisiert, Grass beschimpft und ihn als Antisemiten bezeichnet.20 Bei diesem Skandal dauert die Hochphase rund zwei Wochen, während derer die gesamte mediale Aufmerksamkeit deutlich größer ist als bei der Debatte um Imperium. Dass es sich bei Grass um eine andere Größenordnung handelt, wird auch daran deutlich, dass die Bild-Zeitung rege darüber berichtet, während über Kracht nur gemeldet wird, dass er seine Premierenlesung in Berlin absagt.21 Des Weiteren ist die Debatte um Kracht, anders als die um Grass, kein Thema in den Nachrichten.

Dies hat verschiedene Gründe: Christian Kracht ist zwar ein sehr bekannter, allerdings längst kein annähernd so berühmter Autor wie der Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Letzterer hat sich schon immer in den politischen Diskurs eingemischt, er gilt als einer der letzten großen und streitbaren Intellektuellen der Bundesrepublik. Zuletzt sorgte sein Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, für einen Skandal. Ein weiterer wesentlicher Grund für den unterschiedlichen Verlauf der Debatten liegt im Verhalten der Autoren. Christian Kracht reagiert mit konsequentem Schweigen und Rückzug, während Grass die Debatte durch seine Äußerungen in den wichtigen Medien, darunter neben der SZ22 auch die TV-Sendungen Tagesthemen, heute journal, aspekte und kulturzeit, und durch seine Kritik am medialen Umgang mit seiner Person weiter befeuert23. Kracht dagegen lässt seinen Verlag die für den 22.2.2012 geplante, ausverkaufte Premierenlesung im Deutschen Theater in Berlin absagen und schließt für ein paar Wochen sein Facebook-Profil.24

Ein weiterer Grund für die unterschiedliche Größenordnung der beiden Fälle ist, dass der Skandal um Günter Grass auch eine politische Dimension hat, während es sich bei Christian Kracht um eine reine Feuilletondebatte handelt: Kracht hat einen Roman und Diez einen Artikel darüber geschrieben – Literatur ist Geschmackssache und von jeher eher ein Nischenthema gewesen. Ein Großteil der Deutschen interessiert sich erstens nicht besonders für Literatur im Allgemeinen und zweitens nicht ausgerechnet für den neuen Roman von Christian Kracht. Der Artikel von Diez erschien auf den im hinteren Teil des Blattes zu findenden Literaturseiten des Wochenmagazins Spiegel, das zwar viele Menschen erreicht und hohes Ansehen genießt, dies aber eher im Bereich des politischen Journalismus und weniger als führende Instanz der Literaturkritik. Auch der Journalist Georg Diez hat längst nicht das Ansehen und die Autorität bekannter Literaturkritiker oder Journalisten wie z.B. Marcel Reich-Ranicki oder Frank Schirrmacher. Insofern ist es beinahe erstaunlich, dass das Thema dennoch so lange die Medien beherrscht. Das zeugt von der Skandal-Lust der Medien, die sich mit großem Eifer auf den Fall stürzen. Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Kracht-Debatte ein anderer, ungleich größerer Skandal die Medien beherrscht: der um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, der am 17.2.2012 seinen Rücktritt erklärt – also genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Debatte um Kracht und Diez bereits in vollem Gange ist. Auch wenn es sich bei Kracht ‚nur‘ um eine reine Feuilleton-Debatte und nicht um eine politische handelt, muss die Gleichzeitigkeit der Skandale erwähnt werden, denn es ist durchaus möglich, dass die mediale Aufmerksamkeit um Kracht größer gewesen wäre, hätte es die Debatte um Wulff nicht gegeben.

 

Da es sich im Fall von Grass um einen politischen Intellektuellen und ein tagespolitisches Gedicht handelt, ist der Skandal von vorneherein auch ein politischer, der neben dem Feuilleton auch Politikressorts und Nachrichtensendungen beherrscht und Äußerungen von Politikern, politische Diskussionen, etwa über das Verhältnis von Israel und Iran sowie Israel und Deutschland, und Reaktionen, wie das Einreiseverbot nach Israel für Günter Grass, evoziert.

2.3. Art der Skandale

Auch in der Art der beiden Skandale liegt ein wesentlicher Unterschied. Vieles spricht dafür, den Skandal um Imperium als Pseudo-Skandal zu betrachten, der von Bellers/Königsberg wie folgt definiert wird: „Ein Pseudo-Skandal soll hier verstanden werden als innerhalb oder außerhalb der medialen Sphäre konstruierter, in der Wirklichkeit keine Entsprechung findender Sachverhalt, der (massen-)medial transportiert sowie von einem breiten Rezipientenkreis wahrgenommen und kommuniziert wird und eine öffentliche Anstoßnahme hervorruft.“25 Da es sich bei Diez’ Kritik um seine persönliche und nicht hinreichend begründete Meinung handelt, die er als Tatsache darzustellen versucht, also um einen konstruierten Sachverhalt, kann man diese Definition als durchaus zutreffend bezeichnen. Des Weiteren heißt es bei Bellers/Königsberg: „Sollte ein Pseudo-Skandal ‚vorsätzlich‘, also ungerechtfertigterweise, willentlich und wider besseren Wissens (zur Erlangung eines eigenen Vorteils) konstru-iert werden, so wäre möglicherweise gerade in dieser Tatsache der ‚wirkliche‘ Skandal zu sehen.“26 Auch dies trifft für den Skandal um Imperium zu: Als das eigentlich Skandalöse wird nicht der Roman von Kracht, sondern das Vorgehen von Diez betrachtet, dem es lediglich um Aufmerksamkeitsgewinn gehe, so die Meinung vieler Journalisten.

Das Gedicht Was gesagt werden muss hingegen kann man nach der Skandaltypologie von Dürr/Zembylas als einen Skandal bezeichnen, der sich auf der Reibungsfläche „Literatur als Gesellschaftskritik – Wider den hegemonialen Konsens“27 abspielt: „Einzelne Literaten und Literatinnen, die sich aus ihrer Warte als ‚kritische Denker und Denkerinnen‘ wahrnehmen, wagen, Inhalte anzusprechen, mit dem Bewusstsein, dass sie auf geringe soziale Akzeptanz stoßen.“28 Der bewusste Tabubruch evoziere auf Seiten der Kritiker häufig einen moralisierenden Sprachduktus, da es sich bei den Tabus um gesellschaftliche Normen handele;29 darunter fällt beispielsweise auch die als Konsens geltende Ablehnung von Antisemitismus. Des Weiteren stilisieren sich die Provokateure als Seher und Mahner, während sie ihren Kritikern Konformismus und Feigheit vorwerfen.30 Sämtliche dieser Phänomene lassen sich im Skandal um Was gesagt werden muss beobachten. Ob es sich um einen ‚Pseudo‘-Skandal oder um einen ‚echten‘ handelt, spielt allerdings für die Medien kaum eine Rolle – in großem Stil berichtet wird über beide.

5 Definition von „Skandal“ laut Online-Duden. Unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Skandal#Bedeutung1. Zuletzt aufgerufen am 20.1.13.

6 Ebd.

7 Andreas Fanzinadeh: „Die fabelhafte Welt des Christian Kracht.“ In: taz, 11./12.2.12.

8 Vgl. z.B. Richard Kämmerlings: „Literatur mit Sonnenkraft.“ In: Welt am Sonntag, 5.2.12; Adam Soboczynski: „Seine reifste Frucht.“ In: Zeit, 9.2.12; Paul Michael Lützeler: „Hitler und die Kokosnuss.“ In: Welt, 11.2.12; Felicitas von Lovenberg: „Ein kultischer Verehrer von Kokosnuss und Sonnenschein.“ In: FAZ, 11.2.12.

9 Aus Gründen der erleichterten Lesbarkeit werden im Text die weiblichen Formen nicht explizit genannt. Sie sind aber stets mitgemeint. Hier sei kurz angemerkt, dass eine auffällige Mehrheit derer, die sich zu den Skandalen äußern, Männer sind.

10 Marc Buhl: Das Paradies des August Engelhardt. Frankfurt am Main: Eichborn 2011.

11 Vgl. Christian Kracht: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012. S. 18f., S. 79.

12 Ebd., S. 231.

13 Z.B. über Emma Forsayth, ebd., S. 57.

14 Georg Diez: „Die Methode Kracht.“ In: Spiegel, 13.2.12.

15 David Woodard und Christian Kracht: Five Years. Hannover: Wehrhahn 2011.

16 Günter Grass: Was gesagt werden muss. In: SZ, 4.4.2012.

17 Im Folgenden durch SZ abgekürzt, auch der Verweis auf andere Zeitungen erfolgt mit den gängigen Kürzeln: FAZ, FAS, taz, NZZ.

18 Im Gegensatz zur La Repubblica, die dem Gedicht einen kritischen Kommentar beifügte.

19 Gerüchte, das Gedicht sei auch in der New York Times erschienen, stellen sich als falsch heraus.

20 Vgl. Henryk M. Broder: „Nicht ganz dicht, aber ein Dichter.“ In: Welt, 4.4.12.

21 „Autor Kracht sagt Lesung nach Vorwürfen ab.“ Unter: http://www.bild.de/regional/berlin/berlin-regional/autor-kracht-sagt-lesung-nach-vorwuerfen-22656516.bild.html (dpa), 15.2.12. Zuletzt aufgerufen am 20.1.13.

22 Günter Grass im Interview mit Heribert Prantl: „Ich kritisiere eine Politik, die Israel mehr und mehr Feinde schafft.“ In: SZ, 7./8./9.4.12.

23 Vgl. ebd.: „Es gibt einen Hordenjournalismus gegen mich, bis in die Formulierungen hinein.“

24 Dies geschah aus Angst vor Beschimpfungen, wie eine Anfrage der Verfasserin bei Marco Verhülsdonk, Leiter der Online-Kommunikation des KiWi Verlags ergab.

25 Jürgen Bellers und Maren Königsberg: Skandal oder Medienrummel? Starfighter, Spiegel, Flick, Parteienfinanzierung, AKWs, „Dienstreisen“, Ehrenworte, Mehmet, Aktenvernichtungen. Münster: Lit Verlag 2004, S. 7.

26 Bellers/Königsberg: Skandal oder Medienrummel?, S. 7.

27 Claudia Dürr und Tasos Zembylas: „Konfliktherde und Streithähne.“ In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal, S. 78.

28 Ebd.

29 Vgl. ebd.

30 Vgl. ebd.

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