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Anna Karenina, 2. Band

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2

Sergey Iwanowitsch und Katawasoff hatten kaum die heute besonders von Menschen belebte Station der Kursker Eisenbahn erreicht, und sich beim Verlassen des Wagens nach dem mit dem Gepäck nachkommenden Diener umgesehen, als in vier Mietkutschen Freiwillige anlangten. Damen mit Bouquets kamen ihnen entgegen, und sie betraten im Geleite von Scharen hinter ihnen drein strömender Menschen die Station.

Eine von den Damen, welche die Freiwilligen begrüßten, wandte sich, indem sie den Saal verließ, an Sergey Iwanowitsch.

„Seid Ihr auch gekommen, ihnen das Geleite zu geben?“ frug sie auf französisch.

„Nein; ich reise für mich, Fürstin, um mich bei meinem Bruder zu erholen. Ihr gebt wohl fortwährend Geleit?“ frug Sergey Iwanowitsch mit einem kaum merklichen Lächeln.

„Das ginge ja nicht,“ antwortete die Fürstin, „aber freilich haben wir selbst bereits achthundert befördert. Malwinskiy glaubte es mir nicht.“

„Mehr als achthundert! Wenn man diejenigen mitzählt, welche nicht direkt von Moskau expediert worden sind, so wären es schon mehr als tausend,“ sagte Sergey Iwanowitsch.

„Da haben wir's. Das habe ich ja gesagt!“ pflichtete die Dame freudig bei. „Und nicht wahr, es ist jetzt ungefähr eine Million dafür geopfert worden?“

„Mehr noch, Fürstin.“

„Was ist denn heute für ein Telegramm gekommen? Wieder die Türken geschlagen?“

„Ja, ich habe es gelesen,“ antwortete Sergey Iwanowitsch. Sie unterhielten sich nun über die neueste Depesche, welche bestätigte, daß während dreier aufeinanderfolgender Tage die Türken auf allen Punkten geschlagen worden seien und sich auf der Flucht befänden, und daß morgen die Entscheidungsschlacht erwartet werde.

„Da hat sich auch ein junger, hübscher Mann gemeldet. Ich weiß nicht, weshalb man Schwierigkeiten gemacht hat, und da wollte ich Euch bitten – ich kenne ihn – daß Ihr doch gefälligst ein Billet schriebt. Er ist von der Gräfin Lydia Iwanowna geschickt.“

Nachdem sich Sergey Iwanowitsch nach den Einzelheiten erkundigt hatte, welche die Fürstin über den jungen Mann, welcher sich gestellt hatte, kannte, schrieb er, in die erste Klasse tretend, ein Billet an die Persönlichkeit, von welcher die Sache abhing und übergab es der Fürstin.

„Ihr wißt wohl, Graf Wronskiy, der bekannte – fährt auch mit diesem Zug,“ sagte die Fürstin mit triumphierendem und vielsagendem Lächeln, als er wieder zurückgekommen war und ihr das Schreiben übergab.

„Ich habe wohl gehört, daß er auch fortginge, aber nicht gewußt, wann. Mit diesem Zuge also fährt er?“

„Ich habe ihn gesehen. Er ist hier. Nur seine Mutter begleitet ihn. Es war dies doch immer noch das beste, was er thun konnte.“

„Gewiß. Versteht sich.“

Während sie sprachen, strömte der Haufe an ihnen vorüber zur Mittagstafel. Sie gingen gleichfalls mit und vernahmen dabei die laute Stimme eines Herrn, welcher, den Pokal in der Hand, eine Rede an die Freiwilligen hielt. „Für den Glauben dient, für die Menschlichkeit und unsere Mitbrüder,“ sprach der Herr mit erhöhter Stimme, „zum erhabenem Werke segne euch unsere Matuschka Moskwa! Zhivio!“ – schloß er dröhnend und mit thränenerstickter Stimme.

Alles rief „Zhivio“! und eine neue Schar, die die Fürstin beinahe über den Haufen geworfen hätte, wälzte sich in den Saal.

„Ah, Fürstin, wie geht es!“ rief freudestrahlend Stefan Arkadjewitsch, der plötzlich inmitten derselben erschien. „Hat er nicht herrlich, feurig gesprochen? Bravo! – Und Sergey Iwanowitsch, Ihr müßtet gleichfalls sprechen – einige Worte, Ihr wißt, so eine Anfeuerung. Ihr versteht dies ja so gut,“ fügte er mit mildem, ehrerbietigem und aufmerksamem Lächeln hinzu, Sergey Iwanowitsch am Arme vorwärtsbewegend.

„Nein, ich fahre sogleich.“

„Wohin denn?“

„Auf das Land zu meinen Bruder,“ antwortete Sergey Iwanowitsch.

„Da seht Ihr ja meine Frau. Ich habe ihr geschrieben, aber Ihr werdet sie schon eher sehen; sagt ihr doch, bitte, daß Ihr mit mir gesprochen habt und alles allright ist. Sie wird es schon verstehen. Habt auch die Güte, ihr mitzuteilen, daß ich zum Mitglied der Kommission der vereinigten – Ihr wißt ja, les petites misères de la vie humaine,“ wandte er sich wie zur Entschuldigung an die Fürstin.

„Die Mjachkaja – nicht Lisa, sondern Bibisch – schickt tausend Gewehre und zwölf Schwestern. Ich hatte es Euch wohl gesagt?“

„Ja, ich hörte davon,“ antwortete Koznyscheff widerwillig.

„Es ist eigentlich schade, daß Ihr abreist,“ fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, „wir geben morgen ein Essen für zwei mit Abgehende – Dimjor Bartejanskiy von Petersburg und unseren Wjeslowskiy, Grischa. Sie gehen beide. Wjeslowskiy hat unlängst geheiratet. Das ist ein braver Bursch. Nicht so, Fürstin?“ wandte er sich zu der Dame.

Die Fürstin blickte ohne zu antworten Koznyscheff an; daß Sergey Iwanowitsch sowohl wie die Fürstin fast wünschten, von ihm loszukommen, brachte Stefan Arkadjewitsch nicht im geringsten in Verlegenheit. Lächelnd blickte er bald auf die Hutfeder der Fürstin, bald seitwärts, als besinne er sich etwas. Als er eine vorüberschreitende Dame mit einer Sammelbüchse bemerkte, rief er sie heran und legte ein Fünfrubelpapier in die Büchse.

„Ich kann diese Sammelbüchsen nicht mit ruhigem Blute sehen, so lange ich Geld habe,“ sagte er. „Was für eine Depesche haben wir denn heute? Die Tschernogorzen sind doch wackere Kerle!“ —

– „Was Ihr sagt!“ rief er aus, als ihm die Fürstin mitteilte, daß Wronskiy mit diesem Zug abfahre. Für einen Augenblick drückte das Gesicht Stefan Arkadjewitschs Trauer aus, aber nach Verlauf einer Minute hatte er, nachdem er leicht mit jedem Fuße einige Male gezuckt, und sich dann den Backenbart gestrichen hatte, das Zimmer, in welchem Wronskiy war, betretend, schon völlig sein verzweifeltes Schluchzen über dem Leichnam der Schwester vergessen, und sah in Wronskiy nur den Helden und alten Freund.

„Bei all seinen Mängeln kann man nicht anders, als ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen,“ sagte die Fürstin zu Sergey Iwanowitsch, sobald Oblonskiy sie beide verlassen hatte. „Es ist das so eine echt russische, slavische Natur! Nur fürchte ich, es wird Wronskiy nicht angenehm sein, ihn zu sehen. Was Ihr auch sagen mögt, mich rührt das Geschick dieses Mannes. Ihr werdet wohl mit ihm während der Fahrt sprechen,“ sagte die Fürstin.

„Ja vielleicht, wenn sich Gelegenheit bietet.“

„Ich habe ihn nie gern gehabt. Aber dieser Entschluß macht vieles wieder gut. Er reist nicht nur für sich allein, sondern führt eine Eskadron auf eigne Rechnung mit.“

„Ja, ich habe davon gehört.“

Die Glocke ertönte; alles drängte sich nach den Thüren.

„Da ist er!“ fuhr die Fürstin fort, auf Wronskiy weisend, welcher, im langen Überrock und schwarzem Hut mit breitem Rande, seine Mutter am Arm führte. Oblonskiy ging lebhaft sprechend neben ihm.

Wronskiy blickte finster vor sich hin, als höre er nicht, was Stefan Arkadjewitsch sprach.

Wahrscheinlich auf eine Weisung Oblonskiys hin, schaute er nach der Seite, auf welcher die Fürstin und Sergey Iwanowitsch standen und lüftete schweigend den Hut. Sein gealtertes, und Leiden ausdrückendes Gesicht erschien wie versteinert.

Nachdem Wronskiy über den Bahnsteig gegangen war, stieg er, die Mutter loslassend, in das Coupé des Waggons.

Auf dem Bahnsteig erschallte es „Boshe Zarja chrani!“ und „Hurrah“ und „Zhivio!“

Einer der Freiwilligen, ein hochgewachsener, sehr junger Mann, mit eingefallener Brust, grüßte besonders bemerkbar, indem er seinen Filzhut und ein Bouquet über dem Kopfe schwang. Hinter ihm schauten, gleichfalls grüßend, zwei Offiziere und ein älterer Mann mit großem Barte und in einer fettigen Mütze heraus.

3

Nachdem sich Sergey Iwanowitsch von der Fürstin verabschiedet hatte, stieg er mit dem herangetretenen Katawasoff in den zum Brechen vollgepfropften Waggon, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Auf der Station Tarizyn wurde der Zug von einem schönen Chor junger Leute, welche das „Slavsja“ sangen, bewillkommnet. Wieder dankten die Freiwilligen grüßend, und legten sich heraus, doch schenkte ihnen Sergey Iwanowitsch keine Beachtung. Er hatte soviel mit den Freiwilligen zu thun, daß er ihren Durchschnittstypus schon kannte und ihn dies nicht mehr interessierte. Katawasoff hingegen, der bei seinen Arbeiten nicht Gelegenheit gehabt hatte, die Freiwilligen zu beobachten, wurde sehr von ihnen interessiert, und erkundigte sich bei Sergey Iwanowitsch über sie.

Sergey Iwanowitsch empfahl ihm, sich doch in die zweite Klasse zu setzen, und dort selbst einmal mit ihnen zu reden, und auf der folgenden Station befolgte Katawasoff diesen Rat.

Beim ersten Aufenthalt siedelte er in die zweite Klasse über, und machte sich mit den Freiwilligen bekannt. Sie saßen in einer Ecke des Waggons in lautem Gespräch und wußten augenscheinlich recht wohl, daß die Aufmerksamkeit der Passagiere und des eingetretenen Katawasoff auf sie gerichtet sei.

Lauter als alle anderen sprach der hochgewachsene Jüngling mit der flachen Brust. Er war offenbar berauscht und erzählte eine Geschichte, die sich auf ihrem Transport zugetragen hatte. Ihm gegenüber saß ein schon nicht mehr junger Offizier im Rocke der österreichischen Garde. Er hörte lächelnd dem Erzähler zu und hielt ihn in Schranken. Ein Dritter, in Artillerieuniform, saß auf einem Koffer neben ihnen. Ein Vierter schlief.

Ein Gespräch mit dem Jüngling anknüpfend, erfuhr Katawasoff bald, daß dieser ein reicher Moskauer Kaufmann gewesen sei, welcher sein großes Vermögen bis zum zweiundzwanzigsten Jahre durchgebracht hatte. Er gefiel Katawasoff nicht, weil er verweichlicht, verzärtelt, und von schwacher Gesundheit war; augenscheinlich hatte er die Überzeugung, namentlich jetzt, im Rausche, daß er eine Heldenthat vollbringen werde, und flunkerte in unangenehmster Weise.

 

Ein anderer, ein verabschiedeter Offizier, machte auf Katawasoff gleichfalls einen unangenehmen Eindruck. Er war, wie man sah, ein Mensch, der schon alles versucht hatte. Er war an der Eisenbahn gewesen, dann Geschäftsführer eines Handlungshauses, und hatte Fabriken angelegt. Er sprach über alles, ohne jede Veranlassung, und wendete unpassend gelehrte Ausdrücke an.

Ein dritter, ein Artillerist jedoch, gefiel Katawasoff recht wohl. Er war ein bescheidener, stiller Mensch, der sich offenbar vor den Kenntnissen des abgedankten Gardisten und der heroischen Selbstberäucherung des Kaufmanns beugte, und von sich selbst gar nicht sprach. Als ihn Katawasoff frug, was ihn veranlaßt hätte, nach Serbien zu gehen, antwortete er bescheiden:

„Nun, es gehen ja alle hin. Da gilt es, den Serben auch mit zu helfen. Es thut einem ja leid.“

„Ja; besonders Artilleristen sind ja auch nicht zahlreich dort,“ sagte Katawasoff.

„Ich habe freilich nur kurze Zeit in der Artillerie gedient und es ist möglich, daß man mich zur Infanterie oder Kavallerie bestimmt.“

„Weshalb denn zum Fußvolk, wenn man vor allem Artilleristen braucht?“ sagte Katawasoff, nach dem Alter des Artilleristen urteilend, daß er schon eine höhere Charge bekleiden müsse.

„Ich habe nicht lange in der Artillerie gedient, und bin als Junker entlassen,“ sagte er und begann nun auseinanderzusetzen, weshalb er das Examen nicht bestanden hätte.

Alles das zusammengenommen, machte auf Katawasoff einen unangenehmen Eindruck, und als die Freiwilligen auf der Station ausstiegen, um einmal zu trinken, wünschte Katawasoff, in einem Gespräch mit jemand diese unangenehmen Eindrücke auszutauschen. Ein mitreisender alter Herr in Uniform hatte die ganze Zeit dem Gespräch Katawasoffs mit den Freiwilligen zugehört. Nachdem ersterer mit diesem allein geblieben war, wandte er sich zu ihm.

„Wie groß doch der Unterschied der Verhältnisse aller dieser Leute ist, die nach dorthin abgehen,“ sagte Katawasoff unbestimmt, im Wunsche, seine Meinung auszusprechen und zugleich dabei diejenige des Alten zu erforschen. Der Alte war ein Militär, der zwei Feldzüge mitgemacht hatte. Er wußte was ein Soldat zu bedeuten habe, und hielt diese Leute nach ihrem Aussehen und Sprechen und nach dem Eifer, mit welchem sie unterwegs der Flasche zusprachen, für schlechte Soldaten. Er war auch Bewohner einer Kreisstadt und erzählte, daß aus seiner Vaterstadt einer unter die Soldaten gegangen sei, der Trunkenbold und Dieb gewesen, und den niemand mehr als Arbeiter hätte nehmen mögen. Da er indessen aus Erfahrung wußte, daß es unter der jetzigen Stimmung der Gesellschaft gefährlich sei, eine Meinung auszusprechen, welche der allgemein herrschenden entgegenliefe, und insbesondere, die Freiwilligen abfällig zu beurteilen, sondierte er gleichfalls Katawasoff.

„Ja, dort sind Leute nötig,“ sprach er, mit den Augen lachend. Sie begannen nun, von der letzten Nachricht vom Kriegsschauplatz zu sprechen, verbargen aber voreinander ihre Unwissenheit darüber, gegen wen sie morgen die Entscheidungsschlacht erwarteten, nachdem die Türken der letzten Nachricht gemäß auf allen Punkten geschlagen waren. So trennten sie sich denn beide, ohne ihre Meinung ausgesprochen zu haben.

Nachdem Katawasoff in seinen Waggon zurückgekehrt war, erzählte er, Sergey Iwanowitsch unwillkürlich ausweichend, von seinen Beobachtungen der Freiwilligen, die sich ihm als vorzügliche Burschen erwiesen hatten.

Auf der großen Station in einer Stadt begrüßte wieder Gesang und Zuruf die Freiwilligen, wieder erschienen Sammelnde beiderlei Geschlechts mit Büchsen, die vornehmen Damen des Gouvernements brachten den Freiwilligen Bouquets und begleiteten sie zum Büffett, doch war alles das bei weitem matter und in geringerem Maßstabe angelegt als in Moskau.

4

Während des Aufenthalts in der Gouvernementsstadt ging Sergey Iwanowitsch nicht ans Büffett, sondern schritt auf dem Bahnsteig auf und nieder.

Als er zum erstenmal am Coupé Wronskiys vorüberkam, bemerkte er, daß das Fenster zugezogen war, bei nochmaligem Passieren desselben indessen erblickte er die alte Gräfin am Fenster, welche Koznyscheff zu sich rief.

„Ich fahre auch mit und begleite ihn bis Kursk,“ sagte sie.

„Ich habe schon gehört,“ antwortete Sergey Iwanowitsch, an ihrem Fenster stehen bleibend und in dasselbe hineinblickend. „Welch schöner Zug von ihm,“ fügte er hinzu, nachdem er bemerkt hatte, daß Wronskiy nicht im Coupé war.

„Ja, was blieb ihm nach seinem Unglück zu thun übrig?“

„Welch furchtbares Ereignis!“ sagte Sergey Iwanowitsch.

„O, was habe ich durchgemacht; aber bitte, tretet doch ein! – O, was habe ich durchgemacht!“ wiederholte sie, nachdem Sergey Iwanowitsch eingetreten war und sich neben ihr auf das Polster gesetzt hatte. „Das vermag sich niemand vorzustellen. Sechs Wochen hat er mit niemand gesprochen und nur erst dann gegessen, wenn ich ihn darum angefleht. Nicht eine Minute durfte man ihn allein lassen. Wir haben alles weggenommen, womit er sich hätte ein Leids anthun können; wir wohnten in der niederen Etage; es ließ sich eben nichts voraussehen. Ihr wißt ja, daß er sich schon einmal ihretwegen geschossen hat,“ sprach sie, und die Brauen der alten Frau zogen sich finster zusammen bei dieser Erinnerung. „Ja; sie hat geendet, wie solch ein Weib enden mußte. Selbst den Tod hat sie sich gemein und niedrig erwählt!“ —

„Wir dürfen nicht richten, Gräfin,“ sagte Sergey Iwanowitsch seufzend, „doch ich begreife, wie schwer dies für Euch gewesen sein muß.“

„O, sprecht nicht davon! Ich wohnte auf meinem Gute, und er war gerade bei mir. Da bringt man ein Billet. Er schreibt Antwort und sendet sie ab. Wir ahnten nicht, daß sie schon da auf der Station war. Abends – ich hatte mich soeben zurückgezogen – erzählt mir meine Mary, daß sich auf der Station eine Dame unter den Eisenbahnzug gestürzt hätte. Dies traf mich wie ein Donnerschlag! Ich erkannte das müsse sie gewesen sein, und das erste, was ich sagen konnte war: Nur ihm nichts mitteilen! – Doch hatte man es ihm schon gesagt. Sein Kutscher war dort gewesen und hatte alles gesehen. Als ich auf sein Zimmer kam, war er nicht mehr bei Sinnen – er war furchtbar anzusehen. Kein Wort hat er gesprochen und ist fortgesprengt. Was dort geschehen ist, ich weiß es nicht, aber sie haben ihn wie einen Toten gebracht. Ich hätte ihn nicht erkannt. – ‚Prostration complète!‘ erklärte der Arzt. Dann brach fast eine Tobwut aus. Doch, was soll ich da erzählen!“ sprach die Gräfin mit der Hand abwehrend. „Eine entsetzliche Zeit! Nein, was Ihr auch sagen mögt, es war ein schlechtes Weib! Und was waren das auch für verzweifelte Leidenschaften! Das mußte auf etwas Absonderliches hinauslaufen und sie hat es auch bewiesen. Sie hat sich vernichtet und zwei edle Männer – ihren Gatten und meinen unglücklichen Sohn!“

„Was sagt denn ihr Gatte dazu?“ frug Sergey Iwanowitsch.

„Er hat ihr Kind zu sich genommen. Mein Aleksander war in der ersten Zeit mit allem einverstanden, doch jetzt quält es ihn furchtbar, daß er einem fremden Menschen seine Tochter übergeben hat. Sein Wort zurücknehmen aber kann er nicht. Karenin kam auch zum Begräbnis, doch bemühten wir uns, ihn nicht Aleksander begegnen zu lassen. Für ihn, den Ehemann, war es immerhin doch noch leichter zu ertragen. Sie hat ihn ja erlöst, aber mein armer Sohn hatte sich ihr so ganz dahingegeben. Alles hatte er für sie aufgegeben, seine Carriere, mich, und dabei hatte sie noch nicht einmal Mitleid mit ihm, sondern hat ihn mit Berechnung noch völlig gemordet. Nein, was Ihr auch sagen mögt, selbst ihr Tod – ist nur der Tod eines abscheulichen Weibes, das keine Religion besaß! Möge Gott mir verzeihen, aber ich muß ihr Angedenken hassen, wenn ich auf den Untergang meines Sohnes schaue.“

„Und wie trägt er es jetzt?“

„Gott hat uns geholfen – dieser serbische Feldzug ist gekommen. Ich bin ein greises Weib, und verstehe nichts davon, aber Gott hat ihm dies gesandt. Mir als Mutter ist es natürlich entsetzlich, und, was die Hauptsache ist, man sagt ce n'est pas trèsbien vu à Pétersbourg – aber – was thun! Dies allein nur konnte ihn wieder aufrichten. Jaschwin – sein Freund – hat alles verspielt und sich nach Serbien begeben; er ist zu ihm gekommen und hat ihn überredet. Jetzt beschäftigt ihn die Sache doch. Unterhaltet Euch, bitte, mit ihm, ich will ihn zerstreuen. Er ist so schwermütig. Unglücklicherweise hat er auch noch Zahnschmerzen bekommen. Über Euch wird er sich recht sehr freuen. Bitte sprecht mit ihm; dort drüben geht er.“

Sergey Iwanowitsch sagte, es würde ihm Freude machen und begab sich auf die andere Seite des Zuges.

5

In dem schrägen Abendschatten von Säcken, welche auf dem Bahnsteig aufgetürmt lagen, ging Wronskiy in seinem langen Überrock, mit bedecktem Kopfe und die Hände in den Taschen hin und her, wie ein wildes Tier im Käfig, sich alle zwanzig Schritte schnell wieder wendend. Als Sergey Iwanowitsch sich Wronskiy näherte, schien ihm, als ob ihn dieser sehe, sich jedoch stelle, als bemerke er ihn nicht. Sergey Iwanowitsch war dies ganz gleichgültig. Er stand außerhalb aller persönlicher Beziehungen mit Wronskiy.

In dieser Minute war Wronskiy in seinen Augen ein wichtiger Faktor in dem großen Werke und Koznyscheff hielt es für seine Pflicht, ihn anzufeuern und aufzumuntern. Er trat zu ihm.

Wronskiy blieb stehen, blickte auf, erkannte Sergey Iwanowitsch und drückte demselben, indem er ihm einige Schritte entgegentrat, warm die Hand.

„Ihr habt vielleicht nicht mit mir sprechen wollen,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „aber kann ich Euch nicht nützlich sein?“

„Mit niemand könnte es mir angenehmer sein, zusammenzutreffen, als mit Euch,“ sagte Wronskiy, „entschuldigt mich, aber Erfreuliches giebt es für mich nicht mehr im Leben.“

„Ich verstehe; ich wollte Euch meine Dienste anbieten,“ sagte Sergey Iwanowitsch, Wronskiy in das sichtlich leidende Gesicht blickend. „Habt Ihr nicht einen Brief für Ristitsch, oder an Milan nötig?“

„O nein!“ antwortete Wronskiy, fast als werde es ihm schwer, zu verstehen: „Wenn es Euch gleich ist, so spazieren wir ein wenig. In den Waggons herrscht eine solche Schwüle! Ob ich ein Schreiben brauche? Nein; ich danke Euch, zum Sterben braucht man keine Empfehlungen. Nur gegen die Türken“ – sagte er lächelnd, mechanisch. Seine Augen hatten noch immer ihren Ausdruck von Erregtheit und Leiden.

„Es wird Euch aber leichter werden, mit vorbereiteten Persönlichkeiten die Beziehungen anzuknüpfen, welche doch jedenfalls erforderlich sind. Indes, wie Ihr wollt. Ich hatte mich sehr gefreut, von Eurem Entschluß zu hören. Giebt es doch schon so viele Angriffe auf die Freiwilligen, daß ein Mann wie Ihr, dieselben in der öffentlichen Meinung nur heben kann!“

„Ich bin als Mensch,“ sagte Wronskiy, „nur insofern brauchbar, als das Leben mir nichts mehr wert ist. Nur, daß physische Energie genug in mir ist, ein Carré zu sprengen, und es zu zerschmettern, oder zu fallen – das weiß ich! Ich freue mich darüber, daß es etwas giebt, wofür ich mein Leben opfern darf, das mir nicht allein überflüssig, nein, interesselos geworden ist. So kommt es doch noch jemand zu nutze.“

Er bewegte ungeduldig die Kinnbacken, infolge des beständigen, nagenden Zahnschmerzes, der ihn sogar daran hinderte, mit dem Ausdruck zu sprechen, den er beabsichtigte.

„Ihr werdet wieder genesen, ich prophezeie es Euch,“ sagte Sergey Iwanowitsch, mit einem Gefühl von Rührung. „Die Erlösung unserer Mitbrüder von einem Joch ist ein Ziel, würdig des Todes wie des Lebens. Verleihe Gott Euch äußeren Erfolg und inneren Frieden,“ fügte er hinzu und reichte ihm die Hand hin.

Wronskiy drückte warm die dargebotene Hand Sergey Iwanowitschs.

„Ja, als Waffe – kann ich noch zu etwas taugen. – Aber als Mensch – bin ich eine Ruine“ – sprach er in Absätzen.

Der quälende Schmerz des Zahnes, welcher ihm den Mund mit Speichel füllte, hinderte Wronskiy am Reden. Er schwieg, nach den Rädern eines langsam und gleichmäßig auf den Schienen hinrollenden Tenders blickend, und plötzlich ließ ihn eine andere Qual, nicht ein Schmerz, sondern ein allgemeines, inneres Unbehagen auf einen Augenblick seinen Zahnschmerz vergessen.

Der Anblick des Tenders und der Schienen, der Einfluß des Gesprächs mit einem Bekannten, welchen er nach dem Verhängnis, das ihn betroffen, nicht begegnet war, brachte ihm ihr Angedenken plötzlich wieder in die Erinnerung, oder vielmehr das, was ihm von ihr noch geblieben war, als er wie ein Wahnsinniger in den Schuppen der Eisenbahnstation gelaufen kam: Auf einem Tische in demselben, schmählich von den Händen Fremder ausgestreckt, ihr blutiger Leib, noch voll von dem kaum entflohenen Leben; der nach hinten geworfene, unversehrt gebliebene Kopf mit seinen schweren Flechten und wallenden Locken an den Schläfen, und auf dem reizvollen Antlitz, mit dem halbgeöffneten roten Munde, der erstarrte, seltsame, klägliche Ausdruck der Lippen, der furchtbar in den nichtgeschlossenen Augen lag, und wie mit Worten das furchtbare Wort aussprach, daß er bereuen solle – das Wort, welches sie während ihres Streites zu ihm gesagt hatte.

 

Und er bemühte sich, sie so in sein Gedächtnis zurückzurufen, wie sie gewesen, als er ihr zum erstenmale, gleichfalls auf der Eisenbahnstation, begegnet war, ihr, der Geheimnisvollen, der Reizenden, der Liebevollen, Glücksuchenden und – spendenden, aber nicht der hartherzig Quälenden, als die sie ihm aus der letzten Minute ins Gedächtnis kam.

Er suchte sich der seligsten Minuten mit ihr zu erinnern, doch diese waren ihm auf ewig vergiftet. Er rief sie sich nur als die Triumphierende ins Gedächtnis zurück, welche ihre Drohung ausgeführt hatte, die niemand nützte und durch Reue nicht auszugleichen war. Den Zahnschmerz fühlte er nicht mehr, aber Schluchzen verzerrte sein Gesicht.

Nachdem er zweimal wortlos an den Säcken vorübergeschritten war, wandte er sich, nachdem er seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, ruhig an Sergey Iwanowitsch.

„Habt Ihr keine Depesche seit der gestrigen erhalten? Der Feind ist zwar zum drittenmal geschlagen, aber morgen erwartet man die Entscheidungsschlacht.“

Nachdem sie noch über die Proklamation des Königs Milan und die weittragenden Folgen, welche dieselbe haben könne, gesprochen hatten, trennten sich beide nach dem zweiten Glockensignal und gingen nach ihren beiderseitigen Waggons.