Anna Karenina | Krieg und Frieden

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6



Nachdem die Verlobung beendet war, breitete ein Kirchendiener vor dem Chorpulte in der Mitte der Kirche ein Stück rosa Seidengewebe aus, der Chor stimmte einen kunstvoll vertonten Psalm an, bei dem Baß und Tenor einander antworteten, und der Geistliche wandte sich zu den Verlobten um und deutete auf das rosafarbene Zeug. So oft und so viel sie nun auch schon beide von dieser Vorbedeutung gehört hatten, daß, wer zuerst auf den Teppich trete, der Herr im Hause sein werde, so war doch weder Ljewin noch Kitty, während sie diese wenigen Schritte vortraten, imstande, daran zu denken. Ebensowenig hörten sie die lauten Bemerkungen und den Streit darüber, ob, was einige beobachtet haben wollten, er zuerst daraufgetreten sei oder, wie andere meinten, beide zugleich.



Nach den üblichen Fragen, ob sie den Wunsch hätten, miteinander die Ehe zu schließen, und ob sie sich nicht schon anderen versprochen hätten, und nach ihren Antworten, die ihnen selbst sonderbar klangen, begann der zweite Teil der Feier, die Trauung. Kitty hörte auf die Worte des Gebetes hin und hätte gern ihren Sinn verstanden; aber sie war nicht imstande dazu. Ein Gefühl des Triumphes und der hellen Freude erfüllte, je weiter die heilige Handlung fortschritt, immer mehr und mehr ihre Seele und machte ihr eine eindringende Aufmerksamkeit unmöglich.



Es wurde gebetet: »Verleihe ihnen Keuschheit und Frucht des Leibes zu ihrem Besten und laß sie sich erfreuen am Anblick ihrer Söhne und Töchter.« Es kam darin auch vor, daß Gott das Weib aus der Rippe Adams geschaffen habe, und: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch«, und: »Dies ist ein hohes Geheimnis«. Da war auch die Bitte, Gott möge ihnen Fruchtbarkeit und Segen verleihen, wie Isaak und Rebekka, Joseph, Moses und Zipporah, und ihnen vergönnen, noch Söhne ihrer Söhne zu sehen. ›Alles das ist wunderschön‹, dachte Kitty, als sie diese Worte hörte, ›und so, und nicht anders, muß auch alles sein‹, und ein Lächeln der Freude, das sich unwillkürlich allen mitteilte, die sie ansahen, leuchtete auf ihrem strahlenden Gesicht.



»Setzen Sie sie ihr ganz auf!« rieten flüsternd einige der Umstehenden, als zunächst der Geistliche ihnen die Kronen aufgesetzt hatte und nun der junge Schtscherbazki mit zitternder, in einem dreiknöpfigen Handschuh steckender Hand Kittys Krone hoch über ihrem Kopfe hielt.



»Setzen Sie sie mir auf«, flüsterte sie lächelnd.



Ljewin blickte zu ihr hin und war von dem freudigen Glanze überrascht, der auf ihrem ganzen Gesicht lag; und dieses Gefühl teilte sich ihm unwillkürlich mit. Ebenso wie ihr wurde auch ihm hell und froh zumute.





Es machte ihnen Freude, zuzuhören, wie aus den Apostelbriefen vorgelesen wurde, und bei dem letzten Verse, auf den das fremde Publikum mit größter Ungeduld gewartet hatte, rollte die Stimme des Protodiakons wie Donner. Es machte ihnen Freude, aus der flachen Schale den warmen, mit Wasser vermischten Rotwein zu trinken, und noch höher stieg ihre Freude, als der Geistliche sein Meßgewand zurückschlug, beider Hände in die seinigen nahm und sie, während die Baßstimme dröhnend den Hymnus auf die Mutter Gottes: »Jauchze, Jesaias!« anstimmten, um das Chorpult herumführte. Der junge Schtscherbazki und Tschirikow, die die Kronen über den Häuptern des Brautpaares hielten und gleichfalls lächelten und sich über irgend etwas freuten, blieben manchmal zurück und prallten ein paarmal, wenn der Geistliche stehenblieb, gegen die Brautleute an. Der Freudenfunke, der bei Kitty aufgeflammt war, schien bei allen in der Kirche Anwesenden weitergezündet zu haben. Ljewin hatte die Vorstellung, als ob auch der Geistliche und der Protodiakon ebensolche Lust zu lächeln hätten wie er selbst.



Der Geistliche nahm die Kronen von ihren Häuptern herab, las das letzte Gebet und beglückwünschte das junge Paar. Ljewin blickte auf Kitty und hatte sie noch nie so schön gesehen wie jetzt. Sie war entzückend in dem neuen Glanze von Glückseligkeit, der auf ihrem Antlitz lag. Ljewin hätte ihr gern etwas gesagt, wußte aber nicht, ob auch wirklich alles zu Ende sei. Der Geistliche half ihm aus dieser Schwierigkeit heraus. Indem ein gutmütiges Lächeln seinen Mund umspielte, sagte er leise: »Küssen Sie Ihre Gattin, und Sie Ihren Gatten«, und nahm ihnen die Kerzen aus den Händen.



Ljewin küßte behutsam Kittys lächelnde Lippen, reichte ihr den Arm und ging, indem er sich in neuer, eigenartiger Weise ihr nahe fühlte, aus der Kirche. Er glaubte nicht, konnte nicht glauben, daß das alles Wirklichkeit war. Nur wenn seine und ihre verwunderten, schüchternen Blicke einander trafen, nur dann glaubte er daran, weil er fühlte, daß sie beide schon eins waren.



Nach dem Hochzeitsessen fuhr das junge Paar noch in derselben Nacht nach dem Gute.





7



Wronski und Anna reisten schon seit drei Monaten zusammen in Europa umher. Sie hatten Venedig, Rom und Neapel besucht und waren soeben im Hotel einer kleineren italienischen Stadt angekommen, wo sie eine Zeitlang sich aufzuhalten gedachten.



Der schöne Oberkellner, durch dessen dichtes, wohlpomadisiertes Haar sich ein vom Nacken anfangender Scheitel zog, im Frack und mit breiter, weißer, batistner Hemdbrust, mit einem ganzen Bündel Berlocken auf dem rundlichen Bauche, hatte die Hände in den Taschen und kniff geringschätzig die Augen zusammen, während er einem vor ihm stehenden Herrn in wenig höflichem Tone eine Antwort gab. Als er aber von der andern Seite, vom Eingang her, Schritte vernahm, die die Treppe heraufkamen, wandte er sich um, und sobald er den russischen Grafen erblickte, der bei ihnen im Hotel die besten Zimmer inne hatte, nahm er ehrerbietig die Hände aus den Taschen und meldete in vorgebeugter Haltung, der Kurier sei dagewesen, und die Angelegenheit mit dem Mieten eines Palazzos sei in Ordnung gebracht. Der Intendant sei bereit, den Vertrag zu unterzeichnen.



»Ah, das ist mir sehr angenehm«, antwortete Wronski. »Ist die gnädige Frau zu Hause?«



»Die gnädige Frau war spazierengegangen, ist aber jetzt bereits zurückgekehrt«, erwiderte der Oberkellner.



Wronski nahm den weichen, breitkrempigen Hut vom Kopf und fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn und über das Haar, das er sich halb über die Ohren hatte wachsen lassen, aber zurückgekämmt trug, damit es seine Glatze verdeckte. Mit einem zerstreuten Blick auf den Herrn, der noch dastand und ihn aufmerksam betrachtete, wollte er vorbeigehen.



»Der Herr ist Russe und hat nach Ihnen gefragt«, berichtete der Oberkellner.



Mit einem Gefühl, in dem sich der Ärger darüber, daß man doch nirgends seinen Bekannten entgehen könne, mit dem Wunsche vermischte, irgendwelche Zerstreuung in der Einförmigkeit seines Lebens zu erhalten, blickte Wronski noch einmal nach dem Herrn hin, der zur Seite getreten und dort stehengeblieben war. Und in ein und demselben Augenblick leuchteten die Augen des einen wie des andern auf.



»Golenischtschew!«



»Wronski!«



Es war wirklich Golenischtschew, Wronskis ehemaliger Kamerad im Pagenkorps. Golenischtschew hatte im Korps zur Fortschrittspartei gehört; er hatte das Korps mit einem Zivilrang verlassen, aber nirgends ein Amt übernommen. Mit dem Abgang aus dem Korps hatten die wechselseitigen Beziehungen der beiden Kameraden aufgehört, und sie waren nachher nur noch einmal zusammengetroffen.



Bei jener Begegnung hatte Wronski gemerkt, daß Golenischtschew sich ein hochgeistiges Wirken für die liberalen Ideen zur Lebensaufgabe gemacht hatte und infolgedessen geneigt war, auf Wronskis Beruf und Tätigkeit mit Geringschätzung herabzublicken. Daher hatte Wronski bei jener Begegnung mit Golenischtschew sich gegen ihn mit der kalten, stolzen Zurückhaltung benommen, die er Leuten dieser Art gegenüber zum Ausdruck zu bringen verstand und deren Sinn dieser war: ›Ihr könnt meine Art zu leben billigen oder mißbilligen; haltet das, wie ihr wollt; mir ist es völlig gleichgültig. Wollt ihr aber mit mir verkehren, so müßt ihr mich achten.‹ Golenischtschew seinerseits hatte diesem Tone Wronskis gegenüber eine geringschätzige Gleichgültigkeit gezeigt. Man hätte meinen sollen, diese Begegnung hätte sie einander noch mehr entfremden müssen. Und doch leuchteten jetzt ihre Gesichter auf, und sie stießen einen Ruf freudiger Überraschung aus, als sie einander erkannten. Wronski hätte nie geglaubt, daß er sich über ein Wiedersehen mit Golenischtschew so freuen könnte; aber er war sich wohl selbst nicht klar darüber geworden, wie sehr er sich in Wirklichkeit langweilte. Den unangenehmen Eindruck ihres letzten Zusammenseins vergessend, streckte er seinem früheren Kameraden mit offener, froher Miene die Hand entgegen. Und der gleiche Ausdruck von Freude trat auf Golenischtschews Gesicht an die Stelle der bisher sichtbaren Unsicherheit.





»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen!« sagte Wronski mit einem freundschaftlichen Lächeln, das seine kräftigen, weißen Zähne sichtbar machte.



»Ich hatte gehört: ›Wronski‹, wußte aber nicht, welcher. Ich freue mich sehr, wirklich sehr!«



»Komm doch mit herein. Nun, wie geht es dir denn?«



»Ich wohne hier schon über ein Jahr lang. Ich arbeite.«



»Ah!« machte Wronski interessiert. »Komm doch herein.«



Und statt das, was er die Dienerschaft nicht wollte verstehen lassen, hier gerade auf russisch zu sagen, begann er nach der den Russen geläufigen Gewohnheit, französisch zu sprechen.



»Bist du mit Frau Karenina bekannt? Wir reisen zusammen. Ich gehe eben zu ihr«, sagte er auf französisch und blickte dem andern aufmerksam ins Gesicht.



»Ah! Das wußte ich gar nicht« (er wußte es recht wohl), antwortete Golenischtschew gleichmütig. »Bist du schon lange hier?« fügte er hinzu.

 



»Ich? Es ist heute der vierte Tag«, erwiderte Wronski und sah seinen ehemaligen Kameraden noch einmal forschend an.



›Ja, er ist ein anständiger Mensch und betrachtet die Sache in der richtigen Weise‹, sagte sich Wronski; er schloß dies aus Golenischtschews Gesichtsausdruck und auch aus der Art, wie dieser dem Gespräch eine andere Richtung gegeben hatte. ›Ich kann ihn mit Anna bekannt machen; er faßt die Sache richtig auf.‹



In diesen drei Monaten, die Wronski nun mit Anna im Ausland lebte, hatte er sich, sooft er mit neuen Menschen zusammentraf, immer die Frage vorgelegt, wie jede neue Persönlichkeit sein Verhältnis zu Anna beurteile, und hatte bei den Männern größtenteils die »richtige« Auffassung gefunden. Hätte man aber ihn und die Leute, die die Sache »richtig« auffaßten, gefragt, worin denn diese »richtige« Auffassung eigentlich bestehe, so würden sowohl er wie auch sie in großer Verlegenheit gewesen sein.



In Wirklichkeit hatten die Leute, die nach Wronskis Meinung die Sache richtig auffaßten, sich überhaupt kein Urteil darüber gebildet, sondern benahmen sich einfach so, wie sich wohlerzogene Menschen all den schwierigen und unlösbaren Fragen gegenüber benehmen, die uns im Leben von allen Seiten umgeben: sie benahmen sich anständig und vermieden Anspielungen und unerwünschte Fragen. Sie gaben sich den Anschein, als hätten sie für das Wesen und die innere Begründung dieser Lage ein volles Verständnis, als erkennten sie diese Lage an und billigten sie sogar, aber als hielten sie es für ungehörig und überflüssig, das alles auszusprechen.



Wronski fühlte sofort heraus, daß Golenischtschew zu dieser Menschengattung gehörte, und freute sich daher doppelt, ihn zu sehen. Und wirklich benahm sich Golenischtschew, sobald er Frau Karenina vorgestellt war, ihr gegenüber so, wie es Wronski nur irgend wünschen konnte. Er vermied offenbar, ohne daß es irgendwie gezwungen ausgesehen hätte, alle Gespräche, die unbehaglich hätten werden können.





Er hatte Anna vorher nicht gekannt und war überrascht von ihrer Schönheit und noch mehr von der schlichten Natürlichkeit, mit der sie sich in ihre Lage hineinfand. Sie errötete, als Wronski ihr Golenischtschew vorstellte, und dieses kindliche Erröten, das ihr schönes, offenes Gesicht überzog, gefiel ihm außerordentlich. Ganz besonders aber gefiel es ihm, daß sie gleich von vornherein, wie mit Absicht, daß bei dem Fremden kein Mißverständnis entstehen könne, Wronski einfach »Alexei« anredete und erwähnte, sie siedelten beide in ein Haus, hier Palazzo genannt, über, das sie soeben gemietet hätten. Dieses offene, schlichte Benehmen in ihrer Lage gefiel Golenischtschew. Wenn er jetzt Annas gutmütig heiteres, frisches Wesen sah, so glaubte er, der sowohl Alexei Alexandrowitsch wie auch Wronski kannte, vollständig zu verstehen, wie sie so hatte handeln können. Er meinte zu begreifen, was übrigens sie selbst durchaus nicht zu begreifen vermochte: nämlich wie es nur möglich war, daß sie, nachdem sie ihren Mann unglücklich gemacht, ihn und ihren Sohn verlassen und ihren guten Ruf eingebüßt hatte, sich nun doch frisch und munter und glücklich fühlte.



»Er ist auch im Reiseführer genannt«, bemerkte Golenischtschew über jenen Palazzo, den Wronski gemietet hatte. »Es ist da ein schönes Bild von Tintoretto; aus seiner letzten Periode.«



»Wissen Sie was? Es ist prächtiges Wetter, wir wollen hingehen und ihn uns noch einmal ansehen«, sagte Wronski, zu Anna gewendet.



»Sehr gern; ich will gleich gehen und mir den Hut aufsetzen. Ist es sehr heiß draußen?« sagte sie, indem sie an der Tür stehenblieb und Wronski fragend anblickte. Und wieder überzog eine dunkle Röte ihr Gesicht.



Wronski merkte an ihrem Blick, daß sie nicht recht wußte, auf welchem Fuß er mit Golenischtschew zu verkehren beabsichtigte, und daß sie daher im Zweifel war, ob sie sich auch so benommen habe, wie es seinen Wünschen entspräche.



Er sah sie mit einem langen, zärtlichen Blicke an.



»Nein, es ist nicht besonders heiß«, antwortete er.



Sie glaubte die Bedeutung dieses Blickes zu verstehen, namentlich auch, daß er mit ihr zufrieden sei; ihm zulächelnd, ging sie raschen Schrittes zur Tür hinaus.



Die Freunde blickten einander an, und auf den Gesichtern beider malte sich eine gewisse Verlegenheit, wie wenn Golenischtschew, auf den sie offenbar einen vorzüglichen Eindruck gemacht hatte, etwas über sie sagen wollte und nichts Passendes fand, Wronski aber eine Äußerung von dem anderen wünschte und zugleich fürchtete.



»Nun sieh einmal an«, begann Wronski, um irgendein Gespräch in Gang zu bringen. »Also du hast dich hier niedergelassen? Und du beschäftigst dich immer noch mit demselben Gegenstand?« fuhr er fort, da er sich erinnerte, daß ihm jemand gesagt hatte, Golenischtschew schreibe etwas.





»Ja, ich schreibe an dem zweiten Teil meiner ›Zwei Prinzipien‹«, erwiderte Golenischtschew, der bei dieser Frage vor Vergnügen ganz rot wurde, »das heißt, genau gesagt, ich schreibe noch nicht, sondern mache Vorarbeiten, sammle Stoff. Dieser Teil wird weit umfangreicher werden und fast alle Fragen dieses Gebietes behandeln. Bei uns in Rußland will man nicht begreifen, daß wir die Erben von Byzanz sind«, begann er in erregtem Ton eine längere Darlegung.



Wronski fühlte sich anfangs etwas unbehaglich, weil er den ersten Teil der »Zwei Prinzipien« nicht gelesen hatte, von dem der Verfasser mit ihm wie von etwas Bekanntem sprach. Aber als dann Golenischtschew seine Ideen auseinanderzusetzen begann und Wronski ihnen zu folgen vermochte, da hörte er, auch ohne die »Zwei Prinzipien« zu kennen, mit Teilnahme zu, zumal Golenischtschew wirklich gut sprach. Aber mit Erstaunen und Bedauern erfüllte ihn die gereizte, erregte Stimmung, in die Golenischtschew geriet, während er über den Gegenstand, der ihn beschäftigte, diese Mitteilungen machte. Je länger er sprach, um so mehr glühten seine Augen, um so eifriger entgegnete er seinen angenommenen Gegnern und um so unruhiger und erbitterter wurde sein Gesichtsausdruck. Wronski hatte noch recht wohl in der Erinnerung, was für ein schmächtiger, lebhafter, gutmütiger, vornehm denkender Knabe Golenischtschew gewesen war, wie er im Pagenkorps immer den ersten Platz in seiner Abteilung innegehabt hatte, und er konnte den Grund dieser Gereiztheit nicht verstehen und hielt sie für einen Fehler. Besonders mißfiel es ihm, daß Golenischtschew, ein Mann von gutem Stande, sich mit irgendwelchen Literaten, die ihn angriffen, auf eine Stufe stellte und sich über sie ärgerte. War denn die Sache das wert? Das mißfiel Wronski, aber trotzdem bedauerte er Golenischtschew auch, da er fühlte, daß dieser unglücklich sei. Ein inneres Leid, beinah etwas wie Geistesstörung, gab sich auf diesem beweglichen, ganz hübschen Gesicht zu erkennen, als er, ohne Annas Eintritt überhaupt zu bemerken, hastig und hitzig seine Ideen zu entwickeln fortfuhr.



Als Anna mit Hut und Umhang wieder ins Zimmer trat und, mit der schönen Hand in schnellen Bewegungen an ihrem Sonnenschirm herumspielend, neben Wronski stehengeblieben war, machte sich dieser mit einem Gefühl der Erleichterung von Golenischtschews unverwandt auf ihn gerichteten, mißmutig klagenden Blick los und schaute mit neuer Liebe auf seine reizende, lebensfrische, frohe Gefährtin. Golenischtschew gewann nur mit Mühe seine Fassung wieder und war zunächst sehr niedergeschlagen und finster; aber Anna, die es mit allen Menschen gut und freundlich meinte (so war sie eben damals), wußte ihn durch ihr einfaches, munteres Wesen bald aufzuheitern. Nachdem sie es mit verschiedenen Gesprächsstoffen versucht hatte, brachte sie ihn auf die Malerei, über die er sehr gut sprach, und hörte ihm aufmerksam zu. Sie gingen zu Fuß nach dem gemieteten Hause und besichtigten es.





»Eins macht mir ganz besondere Freude«, sagte Anna zu Golenischtschew, als sie bereits wieder auf dem Heimweg waren: »Alexei wird hier ein gutes Atelier haben. Nimm dir dazu unter allen Umständen das Zimmer, von dem wir sprachen«, sagte sie zu Wronski auf russisch und redete ihn dabei mit du an, da sie bereits voraussah, daß Golenischtschew bei ihrer Vereinsamung ihnen nähertreten werde und sich deshalb sagte, daß man sich vor ihm nicht zu verstellen brauchte.



»Malst du denn?« fragte Golenischtschew, sich schnell an Wronski wendend.



»Ja, ich habe mich vor langer Zeit damit beschäftigt und es jetzt wieder ein bißchen hervorgeholt«, versetzte Wronski errötend.



»Er hat großes Talent«, fügte Anna mit freudigem Lächeln hinzu. »Ich vermag es ja natürlich nicht zu beurteilen; aber sachverständige Beurteiler haben dasselbe gesagt.«





8



Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und ihrer schnellen Genesung in unverzeihlicher Weise glücklich und voll Lebensfreude. Die Erinnerung an die unglückliche Lage ihres Mannes trübte ihr Glück nicht. Einerseits war diese Erinnerung gar zu schrecklich, als daß sie mit ihren Gedanken dabei hätte verweilen mögen; und anderseits war das Unglück ihres Mannes für sie die Quelle eines zu großen Glückes geworden, als daß sie es hätte bereuen können, ihn unglücklich gemacht zu haben. Die Erinnerung an alles, was mit ihr nach ihrer Krankheit geschehen war: die Versöhnung mit ihrem Mann, die Entzweiung, die Nachricht von Wronskis Verwundung, sein Wiedererscheinen, die Vorbereitungen zur Scheidung, der Abschied von ihrem Sohn, die Wegfahrt von dem Hause ihres Mannes – alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus dem sie erst erwachte, als sie sich allein mit Wronski im Ausland befand. Die Erinnerung an das Leid, das sie ihrem Manne zugefügt hatte, erregte bei ihr ein Gefühl von Widerwillen, ein Gefühl, wie es jemand empfinden mag, der in Gefahr war zu ertrinken und einen andern Menschen, der sich an ihn anklammerte, von sich gestoßen hat. Dieser Mensch ist ertrunken. Selbstverständlich, das war unmoralisch gehandelt; aber es war die einzige Rettung, und nun ist es das beste, man denkt an diese furchtbaren Einzelheiten nicht mehr.



Nur eine einzige beruhigende Überlegung über das, was sie getan, war ihr damals im ersten Augenblick nach dem Bruch in den Sinn gekommen, und sobald sie jetzt an alles Vergangene dachte, erinnerte sie sich auch wieder an diesen einen Gedanken. ›Ich habe es nicht vermeiden können, diesen Menschen unglücklich zu machen‹, dachte sie, ›aber ich will aus diesem Unglück keinen Nutzen ziehen; auch ich leide und werde immer leiden; ich habe verloren, was mir das Teuerste war, meinen ehrlichen Namen und meinen Sohn. Ich habe schlecht gehandelt, und darum will ich kein Glück für mich; ich will keine Scheidung; die Schande und die Trennung von meinem Sohn, das wird mein Leid sein.‹ Aber wie aufrichtig auch Annas Wunsch war, selbst zu leiden: sie litt nicht. Von Schande war nichts zu spüren. Mit jenem Taktgefühl, das ihnen beiden in so hohem Maße eigen war, vermieden sie im Auslande Begegnungen mit russischen Damen, so daß sie sich nicht in eine falsche Stellung brachten, und verkehrten immer nur mit Leuten, die sich stellten, als hätten sie für ihr beiderseitiges Verhältnis ein völliges Verständnis, sogar ein noch weit besseres als sie beide selbst. Selbst die Trennung von ihrem Sohn, den sie so sehr liebte, bereitete ihr in der ersten Zeit keinen allzu großen Schmerz. Das kleine Mädchen, sein Kind, war so lieb und hatte Annas Zuneigung, seit ihr nur dieses eine Kind geblieben war, in dem Grade gewonnen, daß sie nur selten an ihren Sohn dachte.





Annas Lebenslust, die noch durch das Gefühl der Genesung gesteigert wurde, war so groß und ihre augenblicklichen Lebensverhältnisse waren so neu und so angenehm, daß sie sich in unverzeihlicher Weise glücklich fühlte. Je mehr Sie Wronski kennenlernte, um so mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe zu ihr. Das Bewußtsein, daß er ganz ihr gehörte, war ihr eine beständige Freude, seine Nähe ihr stets angenehm. Alle die einzelnen Züge seines Charakters, den sie immer genauer kennenlernte, erfüllten sie mit unsagbarem Entzücken. Sein Äußeres, durch die Zivilkleidung verändert, hatte für sie einen solchen Reiz wie für ein verliebtes junges Mädchen. In allem, was er sagte, dachte und tat, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes. Oft erschrak sie selbst darüber, mit welcher Schwärmerei sie ihn verehrte; sie suchte an ihm nach Fehlern, konnte aber keinen finden. Sie mochte es ihn nicht merken lassen, wie gering sie sich ihm gegenüber vorkam; denn sie hatte die Empfindung, er könne, wenn er das wüßte, schneller aufhören, sie zu lieben, und nichts fürchtete sie, obwohl sie dazu keinerlei Anlaß hatte, jetzt so sehr als den Verlust seiner Liebe. Aber sie konnte nicht anders als ihm dankbar sein für sein Verhalten ihr gegenüber, und sie konnte nicht anders als ihm zeigen, wie sehr sie dieses Verhalten zu schätzen wisse. Er, der ihrer Meinung nach einen so entschiedenen Beruf zu staatsmännischer Tätigkeit hatte und auf diesem Gebiete sicherlich eine bedeutende Rolle gespielt hätte, er hatte ihr seinen Ehrgeiz zum Opfer gebracht, ohne jemals das geringste Bedauern darüber zu bekunden. Er war gegen sie noch liebevoller und ehrerbietiger als früher und mit unermüdlicher Sorge darauf bedacht, daß sie das Peinliche ihrer Lage nur ja nicht empfinden möge. Er, dieser mannhafte Charakter, hatte ihr gegenüber niemals ein Wort des Widerspruchs, ja überhaupt keinen eigenen Willen und schien auf nichts anderes zu sinnen, als wie er ihren Wünschen zuvorkommen könne. Und sie konnte nicht umhin, ihm dieses Verhalten hoch anzurechnen, obwohl gerade dieser hohe Grad seiner zarten Rücksichtnahme auf sie, diese stetige liebevolle Fürsorge, mit der er sie umgab, ihr mitunter drückend wurden.

 



Wronski seinerseits fühlte sich trotz der vollen Verwirklichung dessen, was er so lange gewünscht hatte, doch nicht vollkommen glücklich. Er hatte bald die Empfindung, daß durch die Verwirklichung seines Wunsches ihm doch nur ein Sandkorn von jenem Berge von Glückseligkeit zuteil geworden war, den er erwartet hatte. Diese Verwirklichung brachte ihm jenen ewigen Irrtum zum Bewußtsein, den die Menschen begehen, indem sie von einer Verwirklichung ihrer Wünsche ihr Glück erhoffen. In der ersten Zeit, nachdem er sich mit Anna vereinigt und Zivilkleidung angelegt, hatte er den ganzen Reiz der Freiheit überhaupt, der ihm bis dahin unbekannt gewesen war, und der Freiheit in der Liebe im besonderen empfunden und war zufrieden gewesen; aber das hatte nicht lange gedauert. Er hatte bald gefühlt, daß sich in seiner Seele sozusagen das Verlangen nach einem Verlangen herausbildete: die Langeweile. Ohne es selbst zu wollen, begann er sich jeder augenblicklichen Laune zu überlassen, indem er sie für ein ernsthaftes Verlangen, für ein erstrebenswertes Ziel ansah. Die sechzehn Stunden des Tages mußten doch auf irgendwelche Art ausgefüllt werden, da er und Anna im Auslande in vollständiger Freiheit lebten, fern von jenem gesellschaftlichen Verkehr, der in Petersburg soviel Zeit beanspruchte. An Junggesellen-Vergnügungen, die Wronski sich auf früheren Auslandsreisen gestattet hatte, war nun schon gar nicht zu denken, da der einzige Versuch, den er nach dieser Richtung hin unternommen hatte, in ganz unerwarteter Weise auf Anna eine niederdrückende Wirkung ausgeübt hatte, eine unverhältnismäßig starke Wirkung für ein etwas länger dauerndes Souper mit ein paar Bekannten. Mit der einheimischen und der russischen Gesellschaft Beziehungen zu unterhalten, war bei der Unregelmäßigkeit ihres Verhältnisses gleichfalls unmöglich. Die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten hatte, ganz abgesehen davon, daß er alles schon früher gesehen hatte, für ihn als Russen und vernünftigen Menschen nicht jene unerklärliche Wichtigkeit, die die Engländer ihr beizulegen gewohnt sind.





Und wie ein hungriges Tier jeden Gegenstand, der ihm in den Wurf kommt, packt, in der Hoffnung, an ihm Nahrung zu finden, so stürzte sich Wronski ganz unbewußt bald auf die Politik, bald auf neue Bücher, bald auf Gemälde.



Da er von klein auf eine gewisse Befähigung zum Malen besessen und in der Zeit, wo er nicht wußte, was er mit seinem Gelde anfangen sollte, begonnen hatte, Kupferstiche zu sammeln, so blieb er jetzt bei der Malerei stehen, beschäftigte sich ziemlich viel mit ihr und verwandte auf sie jenen unbenutzt daliegenden Vorrat von Tätigkeitsdrang, der nach Befriedigung verlangte.



Er besaß die Fähigkeit, ein Kunstwerk zu verstehen, sowie die Fähigkeit, ein Kunstwerk treu und geschmackvoll nachzubilden; so meinte er denn, eben das zu besitzen, was ein Künstler nötig habe, und nachdem er einige Zeit geschwankt hatte, für welche Gattung der Malerei er sich entscheiden solle, für die religiöse, die historische, das Genre oder die realistische, machte er sich daran zu malen. Er hatte für alle diese Gattungen Verständnis und war imstande, sich sowohl für die eine wie auch für eine andere zu begeistern; er konnte sich aber nicht vorstellen, daß es möglich sein sollte, gar nicht zu wissen, welche Richtungen es in der Malerei gibt, und sich unmittelbar für das zu begeistern, was einem in der Seele lebt, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was man malen