Anna Karenina | Krieg und Frieden

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35

Der Fürst steckte alle Leute mit seiner fröhlichen Stimmung an: seine Angehörigen, seine Bekannten und sogar den deutschen Wirt, bei dem Schtscherbazkis wohnten.

Als er mit Kitty vom Brunnen zurückgekehrt war, wo er auch den Obersten, Marja Jewgenjewna und Warjenka eingeladen hatte, den Kaffee bei ihm zu Hause zu trinken, ließ der Fürst einen Tisch und Stühle in das Gärtchen unter einen Kastanienbaum bringen und dort das Frühstück auftragen. Auch der Wirt und die Dienerschaft wurden unter der Einwirkung seiner frohen Laune ganz munter und lebendig. Sie kannten seine Freigebigkeit, und eine halbe Stunde später blickte der kranke Hamburger Doktor, der im oberen Stockwerk wohnte, mit Neid durch das Fenster nach dieser lustigen russischen Gesellschaft von gesunden Menschen hinunter, die sich da unter dem Kastanienbaum versammelt hatte. In dem geringelten, zitternden Schatten des Laubwerks stand der weißgedeckte Tisch, besetzt mit dem Kaffeegeschirr, mit Brot, Butter, Käse und kaltem Wildbret. An dem einen Ende saß die Fürstin in einem Häubchen mit lila Bändern und verteilte die Tassen und die Butterbrötchen. Am anderen Ende saß, tüchtig essend und heiter plaudernd, der Fürst; neben sich hatte er seine Einkäufe ausgebreitet: geschnitzte Kästchen, Berlocken, Papiermesser der verschiedensten Art, kurz einen ganzen Haufen von Dingen, die er in allen Badeorten erstanden hatte, nach denen er gekommen war, und verschenkte sie nun nach allen Seiten; auch das Dienstmädchen Lieschen wurde bedacht, ebenso wie der Wirt, mit dem er in seinem komischen schlechten Deutsch scherzte, nicht das Brunnentrinken habe Kitty gesund gemacht, sondern seine vorzügliche Beköstigung, ganz besonders die Suppe mit Backpflaumen. Die Fürstin zog ihren Mann ein bißchen auf wegen seiner russischen Gewohnheiten, war aber so lebhaft und vergnügt, wie sie es während des ganzen Badeaufenthaltes noch nicht gewesen war. Der Oberst lächelte, wie immer, zu den Späßen des Fürsten; nur in der Beurteilung des nichtrussischen Europas, das er seiner Ansicht nach genau studiert hatte, stand er auf seiten der Fürstin. Die gutmütige Marja Jewgenjewna schüttelte sich vor Lachen bei allem, was der Fürst Komisches vorbrachte, und Warjenka war, was Kitty noch nie gesehen hatte, ganz matt geworden von dem leisen, aber anhaltenden Lachen, zu dem die Späßchen des Fürsten sie reizten.

Auch Kitty hatte an alledem ihre Freude, ohne daß sie jedoch vermocht hätte, ihre sorgenvolle Stimmung loszuwerden. Sie konnte das Rätsel nicht lösen, das ihr der Vater, ohne es eigentlich zu beabsichtigen, durch seine lustige Ansicht über ihre Freunde und über die ihr so liebgewordene Lebensweise aufgegeben hatte. Zu diesem Rätsel trat noch die Veränderung ihres Verhältnisses zu Petrows, die heute in so zweifelloser und unangenehmer Weise zutage getreten war. Alle waren heiter, nur Kitty konnte nicht heiter sein, und das quälte sie noch mehr. Sie hatte eine ähnliche Empfindung, wie sie sie als Kind gehabt hatte, wenn sie zur Strafe in ihr Zimmer eingeschlossen war und das vergnügte Lachen ihrer Schwestern hörte.

»Wozu hast du denn eigentlich diese Unmenge von Sachen gekauft?« fragte die Fürstin lächelnd und reichte ihrem Manne eine Tasse Kaffee hin.

»Ja, man geht so spazieren, und da kommt man an einen Laden, und da fordern einen die Leute auf, man möchte doch etwas kaufen: ›Erlaucht, Exzellenz, Durchlaucht!‹ Na, und wenn sie erst sagen: ›Durchlaucht!‹, dann kann ich nicht mehr widerstehen, und so sind zehn Taler hin.«

»Das kommt nur davon, daß du dich langweilst«, meinte die Fürstin.

»Natürlich, nur davon. Man langweilt sich so, daß man gar nicht weiß, was man anfangen soll.«

»Wie kann man sich überhaupt nur langweilen, Fürst? Es gibt jetzt so viel Interessantes in Deutschland«, bemerkte Marja Jewgenjewna.

»Aber ich kenne alles Interessante schon: die Suppe mit Backpflaumen kenne ich, und die Erbswurst kenne ich, alles kenne ich.«

»Nein, aber das müssen Sie doch selbst sagen, Fürst, die gesamte Einrichtung des Lebens hier in Deutschland ist wirklich interessant«, sagte der Oberst.

»Was ist denn daran interessant? Alle sind sie hier mit sich zufrieden wie ein Kupferdreier; sie haben alle ihre Gegner besiegt. Aber was habe ich denn für einen Grund zur Zufriedenheit? Ich habe niemanden besiegt; wohl aber muß ich mir hier die Stiefel allein ausziehen und sie obendrein noch selbst vor die Tür stellen. Am Morgen heißt es früh aufstehen, sich schleunigst anziehen und in den Speisesaal gehen, um scheußlich schlechten Tee zu trinken. Wie anders bei uns zu Hause! Man wacht auf, ohne sich damit im geringsten zu beeilen; dann ärgert man sich ein bißchen über irgend etwas; man brummt ein bißchen; dann sammelt man so allmählich seine Gedanken; man überlegt sich alles in Ruhe; man überhastet sich nicht.«

»Aber Sie vergessen: Zeit ist Geld!« wandte der Oberst ein.

»Ja, ja! Aber es kommt darauf an, was es für Zeit ist. Manche Zeit ist von der Art, daß man einen ganzen Monat davon gut und gern für einen halben Rubel hingeben möchte; und dann wieder manchmal ist einem eine halbe Stunde für alle Schätze der Welt nicht feil. Meinst du nicht auch, Katjenka? Was hast du denn? Du siehst ja so trübselig aus?«

»Mir fehlt nichts.«

»Wo wollen Sie denn schon hin? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!« wandte er sich an Warjenka.

»Ich muß nach Hause«, antwortete Warjenka und stand auf; sie mußte immer noch von neuem lachen. Indessen zwang sie sich zu einer ruhigen Haltung, empfahl sich und ging in das Haus, um ihren Hut zu holen. Kitty begleitete sie. Sogar Warjenka erschien ihr jetzt als eine andere. Sie war zwar in ihren Augen nicht schlechter geworden; aber sie war jetzt doch eine andere als die, die sie früher in Kittys Vorstellung gewesen war.

»Ach, ich habe schon seit langer Zeit nicht mehr so gelacht!« sagte Warjenka, indem sie ihren Sonnenschirm und ihr Täschchen zusammensuchte. »Wie nett Ihr Papa ist!«

Kitty schwieg.

»Wann sehen wir uns wieder?« fragte Warjenka.

»Maman wollte nachher zu Petrows gehen. Werden Sie nicht auch da sein?« fragte Kitty, um Warjenka auszuhorchen.

»Ja, ich werde da sein«, antwortete Warjenka. »Sie machen sich zur Abreise fertig, und da habe ich versprochen, ihnen beim Einpacken behilflich zu sein.«

»Nun, dann will ich auch hinkommen.«

»Ach, nicht doch, wozu denn das?«

»Warum nicht? Warum nicht? Warum nicht?« rief Kitty mit weit geöffneten Augen und hielt Warjenka, um sie nicht wegzulassen, an ihrem Sonnenschirm fest. »Nein, warten Sie, warum nicht?«

»Ach, ich meinte nur so. Ihr Papa ist doch angekommen, und dann ist es Petrows auch nur peinlich, wenn Sie da helfen wollen.«

»Nein, sagen Sir mir, warum mögen Sie es nicht, daß ich Petrows öfter besuche? Nicht wahr, Sie mögen es nicht? Warum also nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Warjenka ruhig.

»Nein, bitte, antworten Sie mir!«

»Soll ich alles sagen?« fragte Warjenka.

»Jawohl! Alles, alles!« antwortete Kitty hastig.

»Etwas Besonderes ist ja eigentlich gar nicht zu sagen. Es ist nur dies: Michail Alexejewitsch (so hieß der Maler) hatte ursprünglich die Absicht, schon früher abzureisen, und jetzt möchte er am liebsten gar nicht fort«, antwortete Warjenka lächelnd.

»Weiter, weiter!« drängte Kitty und blickte Warjenka finster an.

»Ja, und da hat nun Anna Pawlowna, ich weiß nicht, wie das gekommen ist, aber sie hat gesagt, er wolle nur deswegen nicht fort, weil Sie hier wären. Das hätte sie ja natürlich nicht sagen sollen; aber daher ist der Streit gekommen. Ihretwegen. Sie wissen ja, wie reizbar solche Kranke sind.«

Kitty machte ein immer finstreres Gesicht und schwieg; Warjenka sprach allein weiter, bemüht, sie zu besänftigen und zu beruhigen; denn sie sah, daß sich ein Ausbruch, sie wußte nicht wovon, ob von Tränen oder von Worten, vorbereitete.

»Es ist also wohl besser, wenn Sie nicht hingehen ... Und Sie verstehen mich gewiß und nehmen es mir nicht übel ...«

»Es geschieht mir recht, es geschieht mir recht!« stieß Kitty hastig hervor, riß ihrer Freundin den Sonnenschirm aus den Händen und starrte an ihr vorbei.

Warjenka wollte lächeln, als sie den kindischen Zorn ihrer Freundin sah, fürchtete aber, sie dadurch zu beleidigen.

»Inwiefern geschieht Ihnen recht? Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte sie.

»Jawohl, ich habe das verdient, weil das alles von mir nur Heuchelei war, weil das alles nur kläglich ausgesonnen war und nicht von Herzen kam. Was ging mich dieser fremde Mensch an? Und das Ergebnis ist nun, daß ich schuld an einem Streite geworden bin und getan habe, worum mich kein Mensch gebeten hatte. Weil eben alles nur Heuchelei war, jawohl, Heuchelei, Heuchelei ...«

»Aber wozu sollten Sie denn geheuchelt haben?« fragte Warjenka leise.

»Ach, wie dumm, wie schändlich von mir! Und ich hatte es ja gar nicht nötig ... Alles nur Heuchelei!« rief sie und machte dabei den Sonnenschirm immer auf und zu.

»Aber wozu denn? Wozu denn also?«

»Um besser zu scheinen vor den Menschen und vor mir selbst und vor Gott, um alle zu betrügen. Nein, nie wieder lasse ich mich auf so etwas ein. Wenn ich auch schlecht bin, aber wenigstens will ich keine Lügnerin, keine Betrügerin sein.«

»Aber wer ist denn hier eine Betrügerin?« fragte Warjenka vorwurfsvoll. »Sie reden ja so, als ob ...«

Aber Kittys Anfall von jäher Hitze war noch nicht zu Ende; sie ließ Warjenka nicht ausreden.

»Sie meine ich nicht, Sie meine ich ganz und gar nicht. Sie sind ein Wesen von idealer Vollkommenheit. Ja, ja, ich weiß, daß Sie ein solches Wesen sind; aber was ist dagegen zu machen, daß ich schlecht bin? Das wäre alles nicht geschehen, wenn ich nicht schlecht wäre. Nun, dann will ich eben sein, wie ich bin; aber heucheln will ich nicht mehr. Was geht mich Anna Pawlowna an? Mögen sie leben, wie sie wollen; und ich will auch leben, wie ich will. Ich kann mich nicht anders machen, als ich bin ... Und all das ist nicht das Richtige, nicht das Richtige ...«

 

»Was ist denn nicht das Richtige?« fragte Warjenka verständnislos.

»Das alles ist nicht das Richtige. Ich kann nicht anders leben, als mein Herz es mir eingibt; aber Sie und die andern leben nach Regeln und Grundsätzen. Ich habe Sie liebgewonnen, ganz einfach, ohne jede Absicht, Sie aber mich wohl nur, um mich zu retten und zu belehren!«

»Sie sind ungerecht«, versetzte Warjenka.

»Ich sage ja nichts über andere; ich rede nur von mir.«

»Kitty!« erscholl die Stimme der Mutter. »Komm doch einmal her und zeige dem Papa deine Blutapfelsinen!«

Mit stolzer Miene nahm Kitty, ohne sich mit ihrer Freundin versöhnt zu haben, das Körbchen mit den Blutapfelsinen vom Tische und ging zu ihrer Mutter hin.

»Was ist dir? Warum bist du so rot?« fragten Vater und Mutter wie aus einem Munde.

»O nichts!« antwortete sie. »Ich komme gleich wieder!« Damit lief sie zurück.

›Sie ist noch da!‹ dachte sie. ›Was soll ich ihr nur sagen, o mein Gott! Was habe ich getan, was habe ich gesagt? Warum habe ich sie so gekränkt? Was soll ich nun machen? Was soll ich ihr sagen?‹ dachte Kitty und blieb an der Tür stehen.

Warjenka saß mit dem Hute auf dem Kopfe am Tische; in den Händen hatte sie den Sonnenschirm und betrachtete die Feder, die Kitty zerbrochen hatte. Sie hob den Kopf in die Höhe.

»Warjenka, verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir!« flüsterte Kitty, zu ihr tretend. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich ...«

»Ich hatte Sie wirklich nicht kränken wollen«, meinte Warjenka lächelnd.

Der Friede war geschlossen. Aber mit der Ankunft des Vaters hatte sich für Kitty jene ganze Welt, in der sie zuletzt gelebt hatte, verändert. Sie sagte sich zwar nicht von allem los, was sie kennengelernt hatte; aber sie sah ein, daß sie sich getäuscht hatte, als sie geglaubt hatte, sie könne das sein, was sie sein wollte. Sie erwachte gleichsam aus einer Betäubung; sie wurde sich der ganzen Schwierigkeit bewußt, sich ohne Heuchelei und Prahlerei auf der Höhe zu erhalten, zu der sie sich hatte erheben wollen. Außerdem drückte auf ihr Gemüt diese ganze Umgebung voller Kummer, Krankheiten und Sterbender, in der sie jetzt lebte. Die Anstrengungen, mit denen sie sich hatte zwingen wollen, all dies zu lieben, erschienen ihr als eine Qual, und sie sehnte sich danach, so bald wie möglich wieder in frische Luft zu kommen, nach Rußland, nach Jerguschowo, wohin, wie sie aus einem Briefe erfahren hatte, ihre Schwester Dolly mit den Kindern bereits übergesiedelt war.

Aber ihre Liebe zu Warjenka hatte sich nicht vermindert. Beim Abschied bat Kitty sie inständig, doch zu ihnen nach Rußland zu Besuch zu kommen.

»Ich komme, wenn Sie verheiratet sein werden«, erwiderte Warjenka.

»Ich heirate nie.«

»Nun, dann komme ich auch niemals.«

»Nun, dann will ich nur deswegen heiraten. Aber denken Sie auch an Ihr Versprechen! Hören Sie wohl?« betonte Kitty.

Die Voraussage des Arztes hatte sich bewahrheitet. Kitty kehrte in die Heimat, nach Rußland, geheilt zurück. Sie war zwar nicht mehr so sorglos und heiter wie früher; aber sie war ruhig in ihrem Gemüte. Der Moskauer Kummer war nur noch eine Erinnerung.

Dritter Teil
1

Sergei Iwanowitsch Kosnüschew wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und reiste daher, statt sich nach seiner Gewohnheit ins Ausland zu begeben, Ende Mai zu seinem Bruder aufs Land. Nach seiner Überzeugung war das Leben auf dem Lande das beste, das man sich überhaupt nur denken konnte. Um dieses Leben gründlich zu genießen, kam er jetzt zu seinem Bruder. Konstantin Ljewin war über seine Ankunft sehr erfreut, um so mehr, da er seinen Bruder Nikolai für diesen Sommer nicht mehr erwartete. Aber trotz all seiner Liebe und Verehrung für Sergei Iwanowitsch war ihm das Zusammenleben mit diesem auf dem Lande nicht recht behaglich. Es war ihm unbehaglich, ja geradezu peinlich, zu sehen, welche Stellung sein Bruder dem Landleben gegenüber einnahm. Für Konstantin Ljewin war das platte Land die Stätte seines Daseins, das heißt seiner Freuden, seiner Leiden, seiner Arbeit; für Sergei Iwanowitsch war das Landleben einerseits eine Erholung von der Arbeit, anderseits ein nützliches Gegengift gegen die städtische Verderbtheit, das er mit Genuß und mit dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm. Für Konstantin

Ljewin war das platte Land deswegen so schön, weil es ihm ein Arbeitsfeld darbot, und zwar ein Feld für eine unzweifelhaft nützliche Arbeit; für Sergei Iwanowitsch besonders deswegen, weil es einem dort möglich, ja sogar eine Art Pflicht war, sich dem Müßiggange hinzugeben. Außerdem war auch Sergei Iwanowitschs Verhältnis zum Landvolk nicht nach Konstantins Geschmack. Sergei Iwanowitsch pflegte zu sagen, er liebe das Landvolk und kenne es genau, und unterhielt sich oft mit den Bauern, was er sehr gut, ohne Verstellung und Heuchelei, fertig brachte, und aus jedem derartigen Gespräche zog er allgemeine Schlußfolgerungen zum Beweise der Vortrefflichkeit des Landvolkes und zum Beweise seiner genauen Kenntnis des Bauernlebens. Eine solche Stellungnahme dem Landvolk gegenüber mißfiel Konstantin Ljewin. Für ihn war das Landvolk nur der wichtigste Teilnehmer an der gemeinsamen Arbeit, und trotz seiner Achtung vor dem Bauernstande und seiner sozusagen verwandtschaftlichen Liebe zu ihm, die er, wie er selbst sagte, wahrscheinlich mit der Milch seiner bäuerlichen Amme eingesogen hatte, war er mit diesem Mitarbeiter keineswegs zufrieden: mitunter zwar geriet er in Entzücken über die Kraft, die Sanftmut und das Gerechtigkeitsgefühl dieser Leute; aber sehr oft, wenn bei der gemeinsamen Arbeit auch noch andere Eigenschaften erfordert wurden, packte ihn ein wahrer Ingrimm über dieses Volk wegen seiner Achtlosigkeit, Unordentlichkeit, Trunksucht und Verlogenheit. Hätte jemand Konstantin Ljewin gefragt, ob er das Landvolk liebe, so würde er entschieden nicht gewußt haben, was er darauf antworten solle. Er liebte das Landvolk und liebte es auch wieder nicht, gerade wie er es mit der Menschheit im allgemeinen tat. Selbstverständlich konnte man von ihm, einem so gutherzigen Menschen, mit größerem Rechte sagen, daß er die Menschheit liebte, als daß er sie nicht liebte; und geradeso war es deshalb auch mit seiner Stellung dem Landvolke gegenüber. Aber das Landvolk wie ein besonderes Wesen zu lieben oder nicht zu lieben, dazu war er nicht imstande, nicht nur weil er mit dem Landvolke lebte und alle seine Interessen mit denen des Landvolkes eng verknüpft waren, sondern auch weil er sich selbst als einen Teil des Landvolkes betrachtete, zwischen sich und dem Landvolke keinen eigentlichen Unterschied in bezug auf gute und schlechte Eigenschaften wahrnahm und seine Person dem Landvolke nicht als etwas grundsätzlich Verschiedenes gegenüberzustellen vermochte. Dazu kam noch folgendes: Obgleich er lange Zeit in den engsten Beziehungen mit den Bauern gelebt hatte, als Gutsherr und als Schiedsrichter und ganz besonders als Ratgeber (denn die Bauern hatten Vertrauen zu ihm und kamen von vierzig Werst weit her, um ihn um Rat zu fragen), so hatte er trotzdem ganz und gar kein bestimmtes Urteil über das Landvolk und würde durch die Frage, ob er das Landvolk kenne, ebenso in Verlegenheit gesetzt worden sein wie durch die Frage, ob er das Landvolk liebe. Zu behaupten, daß er das Landvolk kenne, hätte für ihn auf derselben Stufe gestanden, wie zu behaupten, daß er die Menschen kenne. Er stellte beständig seine Beobachtungen an und lernte Menschen von jeder Art kennen (darunter auch aus dem Bauernstande Leute, die er für brave, interessante Menschen halten mußte), entdeckte unaufhörlich an ihnen neue Charakterzüge, änderte sein früheres Urteil über sie und bildete sich ein neues. Ganz anders Sergei Iwanowitsch. Gerade wie er das Landleben liebte und pries im Gegensatz zu einem Leben, das er nicht liebte, genau ebenso liebte er auch das Landvolk im Gegensatze zu einer Menschenklasse, die er nicht liebte, und ebenso sah er das Landvolk als etwas der Menschheit im allgemeinen Gegenüberstehendes an. In seinem Geiste, der alles gern in einen gewissen Zusammenhang brachte, hatte er sich bestimmte, scharf umrissene Vorstellungen vom Leben des Landvolkes zurechtgemacht, die er allerdings zum Teil aus dem wirklichen Leben des Landvolkes abgeleitet, hauptsächlich aber aus dem Gegensatze gebildet hatte. Niemals änderte er seine Meinung über das Landvolk, und niemals geriet sein Wohlwollen für dieses ins Wanken.

Wenn zwischen den Brüdern Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung des Landvolkes zur Sprache kamen, so war Sergei Iwanowitsch seinem Bruder immer gerade dadurch überlegen, daß er fest bestimmte Begriffe vom Landvolke, von seinem Charakter, von seinen Eigenschaften und Bestrebungen hatte; Konstantin Ljewin hingegen besaß hiervon keine bestimmten, unveränderlichen Begriffe, so daß er bei diesen Erörterungen sich leicht auf Widersprüchen mit sich selbst ertappen ließ.

Nach Sergei Iwanowitschs Urteil war sein jüngerer Bruder ein prächtiger junger Mensch, der, wie er sich auf französisch ausdrückte, ›le cœur bien placé‹, das Herz auf dem rechten Flecke habe, dessen Denken aber, bei allerdings ziemlich rascher Auffassung, doch gar zu sehr von den Eindrücken des Augenblicks abhängig und darum nicht frei von Widersprüchen sei. Mit der freundlichen Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm manchmal die eigentliche Bedeutung der Dinge, konnte aber an einem Meinungsaustausch mit ihm kein Vergnügen finden, weil dieser ihm den Sieg gar zu leicht machte.

Konstantin Ljewin hielt seinen Bruder für einen Mann von gewaltigem Verstande und hervorragender Bildung, für einen edlen Menschen im höchsten Sinne des Wortes, dazu noch mit der Fähigkeit ausgestattet, für das Wohl der Gesamtheit zu wirken. Aber je älter er wurde und je genauer er seinen Bruder kennenlernte, um so häufiger kam ihm im tiefsten Grunde der Seele der Gedanke, daß diese Fähigkeit, für das Wohl der Gesamtheit zu wirken (eine Fähigkeit, deren er sich selbst völlig bar wußte), vielleicht gar kein Vorzug, sondern im Gegenteil ein Mangel sei, nicht ein Mangel an guten, ehrlichen, edlen Wünschen und Bestrebungen, sondern ein Mangel an Lebenskraft, ein Mangel an dem, was man Herz nennt, ein Mangel an jenem Streben, das den Menschen zwingt, aus all den zahllosen sich darbietenden Lebenswegen einen einzigen zu wählen und diesem sein ganzes Interesse zuzuwenden. Je mehr er seinen Bruder kennenlernte, um so deutlicher nahm er wahr, daß Sergei Iwanowitsch (ganz ebenso wie viele andere Männer, die für das Beste der Gesamtheit wirkten) nicht durch sein Herz zu diesem Interesse am Besten der Gesamtheit hingeführt, sondern durch die Tätigkeit des Verstandes zu der Überzeugung von der Zweckmäßigkeit dieser Beschäftigung gelangt war und sich eben nur deshalb dieser Beschäftigung widmete. In dieser Auffassung wurde Ljewin noch durch die Beobachtung bestärkt, daß seinem Bruder die Fragen nach dem Besten der Gesamtheit und nach der Unsterblichkeit der Seele nicht in höherem Grade zu Herzen gingen als die Fragen, die eine Schachpartie oder die sinnreiche Bauart einer neuen Maschine betrafen.

Außerdem brachte für Konstantin Ljewin das Zusammenleben mit seinem Bruder auf dem Lande auch insofern eine Unbequemlichkeit mit sich, als Ljewin auf dem Lande, namentlich im Sommer, beständig mit der Wirtschaft zu tun hatte und der lange Sommertag nicht ausreichte, um alles, was nötig war, zu schaffen, Sergei Iwanowitsch dagegen sich ausruhte. Aber obgleich er sich jetzt ausruhte, das heißt nicht an seinem Buche arbeitete, so war er doch an geistige Tätigkeit dermaßen gewöhnt, daß er gern die Gedanken, die ihm kamen, in schöner, gedrängter Form aussprach und gern einen Zuhörer dafür hatte. Der gegebene und natürliche Zuhörer aber war sein Bruder. Und darum war es trotz der freundschaftlichen Zwanglosigkeit ihres Verkehrs Konstantin peinlich, ihn allein zu lassen. Sergei Iwanowitsch liebte es, sich in der prallen Sonne aufs Gras zu legen und, während er sich so braten ließ, gemächlich zu plaudern.

»Du glaubst gar nicht«, sagte er zu seinem Bruder, »welch ein Genuß dieses Faulenzerleben für mich ist. Im Kopfe habe ich keinen einzigen Gedanken; alles ist wie ausgefegt.«

 

Aber dem Jüngeren war es langweilig, so dazusitzen und ihm zuzuhören, besonders da er wußte, daß die Leute, wenn er nicht dabei wäre, den Dünger auf das Feld bringen würden, ohne das Feld vorher ordentlich in Beete abzuteilen, und ihn, wenn er es nicht beaufsichtigte, Gott weiß wie hinwerfen würden und daß sie die Pflugmesser an den neuen Pflügen nicht ordentlich anschrauben würden, so daß sie losgingen, und dann sagen würden, diese neuen Pflüge, das sei doch eine törichte Erfindung, da seien die alten Hakenpflüge eine ganz andere Sache, und so weiter.

»Lauf doch nicht soviel in der Hitze umher!« sagte Sergei Iwanowitsch zu ihm.

»Ach, ich möchte nur für einen Augenblick mal ins Kontor gehen«, antwortete Ljewin und lief aufs Feld.