Anna Karenina

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Zweiter Teil

1

Gegen Ende des Winters fand bei Schtscherbazkis eine ärztliche Beratung statt, durch die festgestellt werden sollte, wie es mit Kittys Gesundheit stehe und was zur Hebung ihrer dahinschwindenden Kräfte zu unternehmen sei. Sie war krank, und mit dem Herannahen des Frühlings verschlimmerte sich ihr Gesundheitszustand nur noch mehr. Der Hausarzt hatte ihr Lebertran, dann Eisen, darauf Höllenstein verordnet; aber da weder das erste noch das zweite noch das dritte Mittel geholfen und da er geraten hatte, zum Frühjahr ins Ausland zu reisen, so wurde noch eine erste Kraft zu Rate gezogen. Dieser berühmte Arzt, ein noch nicht alter, sehr schöner Mann, forderte eine Untersuchung der Patientin. Energisch und, wie es schien, mit besonderem Vergnügen sprach er seine Ansicht aus, daß mädchenhafte Scham nur ein Überrest altbarbarischer Vorurteile sei, und es erschien ihm als die natürlichste Sache von der Welt, daß ein noch nicht bejahrter Mann den nackten Körper eines jungen Mädchens betaste. Er fand das natürlich, weil er es jeden Tag tat und dabei, seiner Ansicht nach, weiter nichts Schlimmes fühlte und dachte, und darum hielt er Schamhaftigkeit bei einem jungen Mädchen nicht nur für einen Überrest von Barbarentum, sondern auch für eine gegen ihn gerichtete Beleidigung.

Man mußte sich ihm fügen; denn obgleich alle Ärzte dieselben Universitätskurse durchmachen und aus denselben Büchern dieselbe Wissenschaft studieren und obgleich manche Leute behaupteten, diese erste Kraft sei ein schlechter Arzt, so galt es doch bei der Fürstin wie in ihrem ganzen Bekanntenkreise aus nicht näher nachweisbaren Gründen als ausgemacht, daß einzig und allein dieser berühmte Arzt etwas Tüchtiges verstehe und daß nur er Kitty retten könne. Nach eingehender Besichtigung und längerer Beklopfung der vor Scham ganz verstörten und wie betäubten Patientin wusch sich der berühmte Arzt sorgfältig die Hände und ging dann in den Salon und sprach mit dem Fürsten. Der Fürst zog ein finsteres Gesicht und räusperte sich wiederholt, während er dem Arzt zuhörte. Als ein Mann von Lebenserfahrung, von gutem Verstande und vortrefflicher Gesundheit glaubte er nicht an die medizinische Wissenschaft und war in tiefster Seele ergrimmt über diese ganze Komödie, und zwar um so mehr, als er vielleicht der einzige war, der die Ursache von Kittys Krankheit völlig erkannt hatte. ›Du Blaffköter!‹ dachte er, indem er im stillen diesen Ausdruck der Jägersprache auf den berühmten Arzt übertrug, dessen Geschwätz über die Krankheitsmerkmale bei seiner Tochter er anhörte. Unterdessen hielt der Arzt seinerseits nur mühsam auf seinem Gesichte einen Ausdruck der Geringschätzung gegen diesen rückständigen alten Junker zurück und ließ sich nur ungern zu dem tiefen Stand seiner Fassungskraft herab. Er war sich darüber klar, daß es eigentlich keinen Zweck habe, mit dem Alten zu reden, und daß die Hauptperson in diesem Hause die Mutter sei. Vor ihr beabsichtigte er seine Perlen auszuschütten. Da trat die Fürstin mit dem Hausarzt in den Salon. Der Fürst trat zur Seite, bemüht, es sich nicht merken zu lassen, wie lächerlich ihm diese ganze Komödie vorkam. Die Fürstin war verlegen und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte Kitty gegenüber ein Schuldbewußtsein.

»Nun, Doktor, entscheiden Sie über unser Schicksal!« sagte die Fürstin. »Sagen Sie mir alles!« Sie wollte noch hinzufügen: »Ist noch Hoffnung?«, aber ihre Lippen bebten, und sie brachte es nicht fertig, diese Frage auszusprechen. »Nun, wie steht es, Doktor?«

»Ich werde mich sofort mit meinem Kollegen besprechen, Fürstin, und dann die Ehre haben, Ihnen meine Ansicht vorzutragen.«

»Dann sollen wir die beiden Herren also wohl allein lassen?«

»Wenn es Ihnen so gefällig ist.«

Seufzend ging die Fürstin hinaus; auch der Fürst verließ das Zimmer.

Als die beiden Ärzte miteinander allein geblieben waren, begann der Hausarzt schüchtern seine Meinung darzulegen, die dahin ging, daß hier der Beginn eines tuberkulösen Prozesses vorliege, daß aber ... und so weiter. Der berühmte Arzt hörte ihm zu und sah auf einmal während der Auseinandersetzungen des anderen auf seine dicke goldene Uhr.

»Ja«, sagte er. »Aber ...«

Der Hausarzt verstummte achtungsvoll mitten in seiner Darlegung.

»Den Beginn eines tuberkulösen Prozesses genau festzustellen, sind wir, wie Sie wissen, nicht imstande; vor dem Auftreten von Kavernen läßt sich nichts Zuverlässiges sagen. Aber wir können Vermutungen hegen. Und Merkmale sind ja vorhanden: schlechte Ernährung, nervöse Erregtheit und so weiter. Die Frage ist die: Was ist bei Verdacht eines tuberkulösen Prozesses zu tun, um die Ernährung zu fördern?«

»Aber Sie wissen ja, daß da immer geistige, seelische Ursachen dahinterstecken«, erlaubte sich der Hausarzt mit einem feinen Lächeln einzuschalten.

»Ja, das versteht sich von selbst«, erwiderte der berühmte Arzt und sah dabei wieder nach der Uhr. »Verzeihung, ist die Jauski-Brücke schon fertig, oder muß man immer noch den Umweg fahren?« fragte er. »So! Sie ist fertig. Nun, dann kann ich in zwanzig Minuten da sein. Also wir sagten, daß die Aufgabe so zu stellen sei: die Ernährung fördern und die Nerven stärken. Eines hängt mit dem anderen zusammen; wir müssen von beiden Seiten her zu wirken suchen.«

»Wie wäre es mit einer Reise ins Ausland?« fragte der Hausarzt.

»Ich bin ein Gegner solcher Reisen ins Ausland. Und beachten Sie, bitte, dies: Wenn wirklich der Beginn eines tuberkulösen Prozesses vorliegt, was wir nicht wissen können, so hilft eine Reise ins Ausland nichts. Es ist unbedingt ein Mittel erforderlich, das die Ernährung fördert und nicht schädlich wirkt.«

Und nun setzte der berühmte Arzt seinen Plan einer in Moskau durchzuführenden Kur mit Sodener Brunnen auseinander; bei der Entscheidung für diesen Brunnen war offenbar der Hauptgesichtspunkt der, daß er nicht schaden könne.

Der Hausarzt hörte ihm aufmerksam und achtungsvoll bis zu Ende zu. Dann bemerkte er:

»Zugunsten einer Reise ins Ausland möchte ich doch auf die Veränderung der gewohnten Lebensweise hinweisen sowie auf die Entfernung aus einer Umgebung, die mancherlei Erinnerungen wachruft. Und dann wünscht es die Mutter«, fügte er hinzu.

»Ah so! Nun, wenn es so ist, schön, dann mögen sie meinetwegen reisen. Nur werden diese deutschen Pfuscher Schaden anrichten. Die Leute müssen sich streng an unsere Weisungen halten. – Nun, dann mögen sie reisen.«

Er sah wieder nach der Uhr.

»Oh, es wird für mich Zeit!« Und er ging zur Tür.

Der berühmte Arzt erklärte der Fürstin (sein Gefühl für ärztlichen Anstand veranlaßte ihn dazu), er müsse die Kranke noch einmal sehen.

»Wie, noch eine Untersuchung?« rief die Mutter erschrocken.

»O nicht doch, ich brauche nur noch ein paar Einzelheiten, Fürstin.«

»Dann bitte, kommen Sie!«

Von dem Arzte begleitet, ging sie zu Kitty. Mit eingesunkenen, geröteten Wangen und einem eigentümlichen Glanz in den Augen infolge der ausgestandenen Schmach, stand Kitty mitten im Zimmer. Beim Eintritt des Arztes wurde sie dunkelrot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre ganze Krankheit und deren ärztliche Behandlung erschienen ihr als etwas so Dummes, als etwas geradezu Lächerliches. Diese Bemühungen der Ärzte kamen ihr ebenso lächerlich vor, wie wenn jemand die Scherben einer zerbrochenen Vase wieder zusammensetzen wollte. Ihr Herz war zerbrochen. Und da wollten sie es mit Pillen und Pulvern heilen? Aber sie durfte die Mutter nicht kränken, um so weniger, da diese sich schuldig fühlte.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Prinzessin!« sagte der berühmte Arzt.

Er setzte sich lächelnd ihr gegenüber, fühlte ihren Puls und begann wieder seine lästigen Fragen zu stellen. Sie antwortete ihm; aber plötzlich stand sie zornig auf.

»Entschuldigen Sie, aber das hat wirklich keinen Zweck. Sie fragen mich zum dritten Mal dasselbe.«

Der berühmte Arzt zeigte keine Spur von Empfindlichkeit.

»Krankhafte Gereiztheit«, bemerkte er der Fürstin gegenüber, als Kitty hinausgegangen war. »Übrigens bin ich fertig.«

Und nun setzte er der Fürstin, der er damit zu verstehen gab, daß er sie als eine Dame von ganz ungewöhnlicher geistiger Begabung betrachte, den Zustand der Prinzessin in wissenschaftlicher Form auseinander und schloß mit einer genauen Anweisung, wie der Brunnen getrunken werden müsse, der doch in Wirklichkeit vollständig unnütz war. Auf die Frage, ob wohl eine Reise ins Ausland zweckmäßig sein werde, versank der Arzt in tiefes Nachdenken, wie wenn es sich um die Lösung eines sehr schwierigen Rätsels handele. Endlich verkündete er die Entscheidung, zu der er gelangt war: sie sollten reisen, möchten sich aber nicht den deutschen Pfuschern anvertrauen, sondern sich in allem an ihn wenden.

Es war, als hätte sich mit dem Wegfahren des Arztes etwas Erfreuliches ereignet. Die Mutter war, als sie zu ihrer Tochter zurückkehrte, wieder wesentlich heiterer geworden, und Kitty stellte sich, als sei bei ihr das gleiche der Fall. Sie sah sich jetzt häufig, fast dauernd, dazu genötigt, sich zu verstellen.

»Wirklich, ich bin gesund, maman. Aber wenn Sie gern reisen möchten, so könnten wir es ja tun«, sagte sie, und um ihr Interesse für die bevorstehende Reise an den Tag zu legen, begann sie von den dazu nötigen Vorbereitungen zu sprechen.

2

Bald nachdem der Arzt fort war, kam Dolly. Sie wußte, daß an diesem Tage eine Beratung der beiden Ärzte stattfinden sollte, und obwohl sie erst vor kurzem vom Wochenbett aufgestanden war (sie war gegen Ende des Winters von einem Mädchen entbunden worden) und obwohl sie viel eigenen Kummer und eigene Sorgen hatte, verließ sie ihr Baby und ein anderes erkranktes Töchterchen und kam, um sich nach Kittys Schicksal zu erkundigen, das sich heute entscheiden sollte.

 

»Nun, wie steht es?« fragte sie, als sie in den Salon trat; sie hatte den Hut gar nicht abgenommen. »Ihr seid ja alle so fröhlich. Da steht es gewiß gut?«

Man versuchte nun, ihr zu erzählen, was der Arzt gesagt habe; aber obgleich dieser sehr lange und in wohlgesetzter Rede gesprochen hatte, erwies es sich doch als ein Ding der Unmöglichkeit, das, was er nun eigentlich gesagt hatte, wiederzugeben. Das Interessanteste war ohne Zweifel, daß die Reise ins Ausland beschlossene Sache war.

Dolly mußte unwillkürlich seufzen bei dem Gedanken, daß ihre beste Freundin, ihre Schwester, nun reisen sollte. Und ihr eigenes Leben war so wenig heiter. Ihr Verhältnis zu Stepan Arkadjewitsch hatte sich nach der Versöhnung noch unwürdiger gestaltet. Die von Anna vorgenommene Zusammenkittung hatte sich nicht als dauerhaft erwiesen, und die Eintracht des Familienlebens war an derselben Stelle von neuem zerbrochen. Etwas Bestimmtes lag nicht vor, aber Stepan Arkadjewitsch war fast nie zu Hause; Geld war gleichfalls kaum je vorhanden, und Dolly wurde beständig von dem Verdacht gemartert, daß er ihr wohl wieder untreu sei; nur suchte sie diesen Verdacht jetzt absichtlich zu verscheuchen, um nicht von neuem die Qualen der Eifersucht durchmachen zu müssen. Der erste Anfall von Eifersucht konnte, nachdem er einmal überstanden war, sich allerdings nicht in gleicher Heftigkeit wiederholen, und nicht einmal die tatsächliche Entdeckung einer neuen Untreue hätte auf sie so wirken können wie das erste Mal. Eine solche Entdeckung hätte aber doch eine Störung in ihre gewohnte häusliche Tätigkeit hineingebracht, und so ließ sie sich denn betrügen und verachtete ihn und noch mehr wegen dieser Schwäche sich selbst. Überdies quälten sie fortwährend allerlei Sorgen um die große Familie: bald wollte die Ernährung des Säuglings nicht recht vonstatten gehen, bald ging ein Kindermädchen ab, bald wurde, wie das gerade jetzt der Fall war, eines der Kinder krank.

»Nun, wie geht es bei dir zu Hause?« fragte die Mutter.

»Ach, maman, wir haben viel Kummer. Lilly ist krank geworden, und ich fürchte, es ist Scharlach. Darum bin ich gleich jetzt hergekommen, um mich nach Kitty zu erkundigen; denn wenn die Krankheit sich wirklich zu Scharlach entwickeln sollte, was Gott verhüten möge, so kann ich das Haus nicht mehr verlassen.«

Auch der alte Fürst kam jetzt, nachdem der Arzt weggefahren war, aus seinem Arbeitszimmer, hielt seiner Tochter Dolly seine Backe zum Kusse hin, wechselte mit ihr ein paar Worte und wandte sich dann an seine Frau:

»Was habt ihr denn beschlossen? Werdet ihr reisen? Nun, und ich? Was wollt ihr mit mir anfangen?«

»Ich möchte meinen, du bleibst am besten hier, Alexander«, antwortete seine Frau.

»Wie ihr wollt.«

»Maman, warum soll denn Papa nicht mit uns fahren?« fragte Kitty. »Dann hat er mehr Vergnügen und wir auch.«

Der alte Fürst stand auf und strich mit der Hand freundlich über Kittys Haar. Sie hob das Gesicht in die Höhe und blickte, sich zu einem Lächeln zwingend, ihn an. Sie hätte immer die Empfindung, daß er sie besser als alle anderen in der Familie verstehe, obgleich er meist nur wenig mit ihr sprach. Als die Jüngste war sie des Vaters Lieblingstochter, und es schien ihr, als mache seine Liebe zu ihr ihn scharfblickend. Als ihr Blick jetzt seinen guten, blauen Augen begegnete, die sie prüfend ansahen, da war es ihr, als durchschaue er sie durch und durch und verstehe alle ihre traurigen Gedanken. Errötend reckte sie sich zu ihm auf, in Erwartung eines Kusses; aber er streichelte ihr nur ein paarmal das Haar und bemerkte:

»Diese dummen Chignons! Bis zu seiner wirklichen Tochter kommt man gar nicht durch; man liebkost nur die Haare toter Weiber. Nun, wie ist's, liebe Dolly?« wandte er sich an seine älteste Tochter. »Was macht dein Matador?«

»Es ist nichts Besonderes davon zu sagen, Papa«, antwortete Dolly, die verstand, daß er ihren Mann meinte. Und sie konnte sich nicht enthalten, mit einem spöttischen Lächeln hinzuzufügen: »Er ist immer außer dem Hause; ich bekomme ihn fast gar nicht mehr zu sehen.«

»Ist er denn noch nicht auf das Gut gefahren, um den Wald zu verkaufen?«

»Nein, er hat es immer vor.«

»Soso!« murmelte der Fürst. »Soll ich mich also auch reisefertig machen? Ganz wie du befiehlst«, wandte er sich an seine Frau und setzte sich wieder hin. »Weißt du was, Katja?« fuhr er, sich seiner jüngsten Tochter zuwendend, fort. »Du solltest einmal eines schönen Tages beim Aufwachen zu dir sagen: ›Ach, ich bin ja ganz gesund und vergnügt; ich will wieder einmal mit Papa in der frischen, kalten Morgenluft einen Spaziergang machen.‹ Wie denkst du darüber?«

Was der Vater da sagte, klang durchaus harmlos; und doch geriet Kitty bei diesen Worten in die größte Verlegenheit und verlor völlig die Fassung wie ein ertappter Verbrecher. ›Ja, er weiß alles, er durchschaut alles und will mir mit diesen Worten sagen, daß, wenn man sich auch schämt, man doch seine Schmach überstehen muß.‹ Sie fand nicht den Mut, etwas zu antworten. Sie setzte dazu an, brach aber plötzlich in Tränen aus und stürzte aus dem Zimmer.

»Das kommt von deinen Späßen!« schalt die Fürstin ihren Mann ärgerlich. »Und so machst du es immer.« Und nun folgte eine Reihe von Vorwürfen.

Der Fürst hörte diese Vorwürfe ziemlich lange an, ohne ein Wort darauf zu erwidern, aber sein Gesicht wurde immer finsterer.

»Sie ist in einem so bedauernswerten Zustande, das arme Kind«, sagte die Fürstin; »aber du merkst gar nicht, daß ihr jede Anspielung auf die Ursache ihres Kummers schmerzlich ist. Ach, wie man sich in den Menschen irren kann!« An dem veränderten Tone, in dem sie die letzten Worte sprach, merkten Dolly und der Fürst, daß sie Wronski meinte. »Es ist mir unbegreiflich, daß es keine Gesetze gegen so schändliche, unedle Menschen gibt.«

»Ich mag das gar nicht mehr anhören!« erwiderte der Fürst finster und stand von seinem Sessel auf, als ob er hinausgehen wollte; aber an der Tür blieb er stehen. »Gesetze gibt es schon, Mütterchen; aber da du mich nun doch einmal dazu herausforderst, offen zu sein, so will ich dir sagen, wer an alledem schuld ist: du, du, du allein! Gesetze gegen solche Herrchen hat es immer gegeben und gibt es auch jetzt! Jawohl, wäre nicht von deiner Seite in einer Weise verfahren worden, wie nicht hätte verfahren werden dürfen, – ich bin ein alter Mann, aber ich würde ihn vor meine Pistole fordern, diesen Gecken. Ja, und jetzt kuriert nur an ihr herum und laßt diese Pfuscher von Ärzten kommen!«

Der Fürst hatte, wie es schien, noch vieles auf dem Herzen, was er sagen wollte; aber sobald die Fürstin diesen Ton von ihm hörte, ging es wie immer bei solchen ernsten Fragen: sie fügte sich ihrem Manne und sah reumütig ihr Unrecht ein.

»Alexander, Alexander!« flüsterte sie, trat einen Schritt auf ihn zu und brach in Tränen aus.

Sobald der Fürst sie weinen sah, wurde auch er ruhiger. Er ging zu ihr hin.

»Nun, wollen's gut sein lassen, wollen's gut sein lassen! Dir ist auch schwer ums Herz, das weiß ich. Aber was ist zu machen? So sehr groß ist ja das Unglück noch nicht. Gott ist barmherzig. – Danke, danke!« sagte er, ohne selbst recht zu wissen, was er sprach, als Antwort auf den tränenfeuchten Kuß der Fürstin, den er auf seiner Hand fühlte. Und der Fürst verließ das Zimmer.

Schon vorher, als Kitty weinend hinausgelaufen war, hatte Dolly mit dem geübten Blick der Mutter und Hausfrau sogleich erkannt, daß hier Frauenwerk zu tun sei, und sich vorgenommen, dieses Werk zu verrichten. Nun nahm sie den Hut ab, streifte sich, in geistigem Sinne gesagt, die Ärmel in die Höhe und rüstete sich zur Tat. Während die Mutter auf den Vater schalt, hatte Dolly, soweit das die kindliche Ehrerbietung erlaubte, die Mutter zurückzuhalten versucht. Während dann der Fürst seinem Ingrimm Luft machte, hatte sie geschwiegen und sich für ihre Mutter geschämt; mit zärtlicher Bewunderung hatte sie auf ihren Vater geblickt, als dieser so bald wieder gut und freundlich wurde. Aber als nun der Vater hinausgegangen war, da schickte sie sich an, das Wichtigste zu tun, was jetzt nötig war: zu Kitty zu gehen und sie zu beruhigen.

»Ich wollte Ihnen schon lange etwas sagen, maman: Wissen Sie wohl, daß Ljewin, als er das letzte Mal hier war, Kitty seine Hand anbieten wollte? Er hatte es vorher zu Stiwa gesagt.«

»Nun, und was weiter? Ich verstehe nicht ...«

»Da hat ihm Kitty vielleicht einen Korb gegeben? Hat sie Ihnen nichts davon gesagt?«

»Nein, sie hat nichts gesagt, weder über den einen noch über den anderen; dazu ist sie zu stolz. Aber ich weiß, daß alles davon hergekommen ist.«

»Sicherlich; aber denken Sie nur, wenn sie wirklich Ljewin abgewiesen hat ... Sie hätte das bestimmt nie getan, wenn nicht dieser andere gewesen wäre, das weiß ich. Und nun hat der sie so schändlich getäuscht!«

Der Fürstin war es gar zu peinlich, daran denken zu müssen, eine wie schwere Schuld sie ihrer Tochter gegenüber auf sich geladen hatte, und sie wurde zornig.

»Ach, ich verstehe die Welt gar nicht mehr! Heutzutage wollen die Kinder immer nach ihrem eigenen Kopfe leben; der Mutter wird nichts mehr gesagt, und dann, ehe man es sich versieht ...«

»Maman, ich will zu ihr gehen.«

»Nun, dann geh doch! Verbiete ich's dir?« erwiderte die Mutter.

3

Als Dolly in Kittys hübsches, rosafarbenes, mit Figürchen von vieux saxe geschmücktes Zimmerchen trat, das ebenso hübsch, rosig und heiter aussah, wie es Kitty selbst noch vor zwei Monaten gewesen war, da erinnerte sie sich daran, wie sie beide zusammen im vorigen Jahre dieses Zimmerchen eingerichtet hatten, mit welcher Lust und Liebe! Es war ihr, wie wenn eine eisige Hand nach ihrem Herzen griffe, als sie nun Kitty erblickte, die auf einem niedrigen Stuhle unmittelbar neben der Tür saß und ihre starren Augen auf eine Ecke des Teppichs gerichtet hielt. Kitty sah zu ihrer Schwester auf; aber der kalte, finstere Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht.

»Ich gehe jetzt und werde lange das Haus nicht verlassen können, und du wirst nicht zu mir kommen dürfen«, sagte Dolly und setzte sich neben sie. »Ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

»Worüber?« fragte Kitty hastig und hob erschrocken den Kopf in die Höhe.

»Worüber sonst als über deinen Kummer?«

»Ich habe keinen Kummer.«

»Rede nicht so, Kitty! Meinst du wirklich, das könnte mir verborgen bleiben? Ich weiß alles. Aber glaube mir, die Sache ist so geringfügig. Wir haben alle so etwas durchgemacht.«

Kitty schwieg; ihr Gesicht hatte einen strengen Ausdruck.

»Er ist nicht wert, daß du dich so um ihn grämst«, fuhr Dolly fort, um geradenwegs zur Sache zu kommen.

»Du meinst, weil er mich verschmäht hat«, erwiderte Kitty; ihre Stimme bebte. »Sprich nicht davon, bitte, sprich nicht davon!«

»Wer hat dir denn das gesagt? So etwas hat kein Mensch gesagt. Ich bin überzeugt, daß er in dich verliebt war und auch jetzt noch in dich verliebt ist; aber ...«

»Ach, am allerschrecklichsten ist mir dieses Bedauertwerden!« rief Kitty in plötzlich ausbrechendem Zorn. Sie drehte sich auf dem Stuhle hin und her, errötete und arbeitete hastig mit den Fingern, indem sie bald mit der einen, bald mit der anderen Hand an der Gürtelschnalle drückte, die sie fest gefaßt hielt. Dolly kannte diese Angewohnheit ihrer Schwester, mit den Händen um sich zu greifen, wenn sie in Hitze geriet; sie wußte, daß Kitty in solchen Augenblicken der Aufregung imstande war, sich zu vergessen und scharfe Worte zu gebrauchen, die besser ungesprochen blieben; so wollte denn Dolly sie beruhigen; aber es war bereits zu spät.

»Ja, was ... was willst du mir denn damit zu verstehen geben?« sagte Kitty hastig. »Meinst du, ich hätte mich in einen Menschen verliebt, der nichts von mir wissen will, und ich stürbe nun an dieser Liebe zu ihm? Und das sagt mir meine Schwester und glaubt dabei, daß ... daß ... daß sie mir ihre Teilnahme ausdrückt! Ich mag dieses erheuchelte Mitleid nicht!«

»Kitty, du bist ungerecht.«

»Warum quälst du mich?«

»Aber ich will ja ganz im Gegenteil ... Ich sehe, du bist erbittert.«

Aber Kitty hörte in ihrer Aufregung gar nicht auf sie.

»Ich habe gar keinen Grund, mich zu grämen und mich trösten zu lassen. Ich besitze meinen Stolz, und es wird mir nie in den Sinn kommen, einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt.«

 

»Aber das sage ich ja auch gar nicht«, suchte Dolly sie zu beschwichtigen und ergriff ihre Hand. »Nur eines möchte ich dich fragen, aber sage mir die Wahrheit! Sag, hat Ljewin mit dir gesprochen?«

Diese Erinnerung an Ljewin schien der armen Kitty den Rest von Selbstbeherrschung zu rauben; sie sprang vom Stuhle auf, schleuderte die Schnalle auf den Boden und rief unter wilden Handbewegungen ihrer Schwester zu:

»Was soll dabei nun noch Ljewin? Ich verstehe nicht, was du davon hast, mich zu quälen! Ich habe dir schon gesagt und sage es noch einmal, daß ich meinen Stolz besitze und niemals, niemals imstande wäre, zu tun, was du tust: zu einem Manne zurückzukehren, der dir untreu geworden ist und sich in eine andere Frau verliebt hat. Dafür habe ich kein Verständnis! Du kannst das, aber ich kann es nicht!«

Nachdem sie diese Worte hervorgesprudelt hatte, warf sie einen Blick auf ihre Schwester, und als sie sah, daß diese schwieg und traurig den Kopf sinken ließ, da setzte sich Kitty, anstatt, wie sie beabsichtigt hatte, aus dem Zimmer zu gehen, wieder auf den Stuhl an der Tür, verbarg ihr Gesicht im Taschentuche und beugte den Kopf tief hinunter.

Das Schweigen dauerte mehrere Minuten. Dolly dachte an sich selbst. Ihre Demütigung, die sie stets empfand, war ihr dadurch, daß die Schwester sie daran erinnert hatte, besonders schmerzlich zum Bewußtsein gekommen. Eine solche Grausamkeit hatte sie von der Schwester nicht erwartet, und sie zürnte ihr deswegen. Aber plötzlich hörte sie das Rascheln eines Kleides und zugleich den Ton eines hervorbrechenden und dann verhaltenen Schluchzens; zwei Arme umschlangen von unten her ihren Hals. Kitty lag vor ihr auf den Knien.

»Liebe Dolly! Ich bin ja so unglücklich, so unglücklich!« flüsterte sie reumütig.

Und sie verbarg ihr liebes, von Tränen überströmtes Gesichtchen in Dollys Schoße.

Als ob die Tränen das unentbehrliche Öl wären, ohne das die Maschine des wechselseitigen Verkehrs zwischen den beiden Schwestern nicht ordentlich gehen könnte, setzten sie, nachdem sie sich ausgeweint hatten, ihr Gespräch fort, und obwohl sie nicht von dem sprachen, was ihnen das Wichtigste war, sondern von Nebendingen, so verstanden sie einander doch vollkommen. Kitty fühlte, daß das, was sie im Zorn über die Untreue von Dollys Mann und über deren Erniedrigung gesagt hatte, ihre arme Schwester im tiefsten Herzen verwundet haben mußte, daß aber diese es ihr verziehen habe. Dolly ihrerseits kam über alles ins klare, was sie hatte wissen wollen; sie überzeugte sich nun, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren und daß Kittys Kummer, Kittys unheilbarer Kummer eben darin bestand, daß Ljewin ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgewiesen und Wronski sie getäuscht hatte und sie nun bereit war, Ljewin zu lieben und Wronski zu hassen. Aber Kitty sagte darüber kein Wort; sie sprach nur von ihrem Seelenzustand.

»Kummer habe ich gar nicht«, sagte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Aber du kannst dir wohl denken, daß mir alles verächtlich, widerwärtig, zum Ekel geworden ist und zuallererst ich mir selbst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für abscheuliche Gedanken ich jetzt über alle Dinge habe.«

»Was für abscheuliche Gedanken kannst du denn haben?« fragte Dolly lächelnd.

»Die allerabscheulichsten und garstigsten; ich kann es dir gar nicht sagen. Es ist bei mir nicht Gram oder Verdruß, sondern etwas weit Schlimmeres. Es ist, als ob alles, was in mir Gutes war, sich versteckt hätte und nur das Abscheulichste zurückgeblieben wäre. Ja, wie soll ich dir das nur deutlich machen?« fuhr sie fort, als sie den Ausdruck der Verständnislosigkeit in den Augen der Schwester wahrnahm. »Sobald Papa mit mir zu sprechen anfängt, habe ich sofort die Vorstellung, als dächte er einzig und allein daran, daß ich mich verheiraten müsse. Oder wenn Mama mich auf einen Ball führt, so bilde ich mir ein, daß sie das lediglich tut, um mir möglichst schnell einen Mann zu verschaffen und mich los zu werden. Ich weiß, daß das alles nicht wahr ist; aber ich kann mich von diesen Gedanken nicht frei machen. Die sogenannten Heiratskandidaten mag ich gar nicht ansehen. Ich habe eine Empfindung, als ob sie mir Maß nähmen. Früher war es für mich ein harmloses Vergnügen, im Ballkleid irgendwohin zu fahren; ich freute mich über meine eigene Erscheinung; aber jetzt schäme ich mich und fühle mich verlegen. Nun, und was sagst du dazu: der Arzt ... Ja, und ...«

Kitty stockte; sie hatte noch weiter sagen wollen, daß, seitdem in ihrem Inneren sich diese Veränderung vollzogen habe, auch Stepan Arkadjewitsch ihr in unerträglichem Maße unangenehm geworden sei und daß sein Anblick bei ihr stets die häßlichsten, widerwärtigsten Vorstellungen erwecke.

»Ja, das ist es«, fuhr sie fort. »Alles erscheint mir im garstigsten, häßlichsten Lichte. Das ist meine Krankheit. Vielleicht geht es vorüber.«

»Du mußt nicht daran denken.«

»Das liegt nicht in meiner Macht. Nur wenn ich mit den Kindern zusammen bin, fühle ich mich wohl, nur bei dir.«

»Schade, daß du nun längere Zeit nicht wirst zu mir kommen dürfen!«

»Oh, ich komme doch! Scharlach habe ich gehabt; bei Mama werde ich es schon durchsetzen.«

Kitty bekam ihren Willen und siedelte zu der Schwester über und pflegte die Kinder während der ganzen Dauer des Scharlachfiebers; denn als solches entpuppte sich die Krankheit. Die beiden Schwestern brachten alle sechs Kinder glücklich durch; aber Kittys Gesundheitszustand besserte sich nicht, und zur Zeit der großen Fasten reiste die Familie Schtscherbazki ins Ausland.