Anna Karenina

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4

Die höhere Gesellschaft in Petersburg bildete eigentlich nur einen einzigen Kreis, in dem alle sich gegenseitig kennen, ja sogar sich gegenseitig besuchen. Aber in diesem großen Kreise gibt es besondere Abteilungen. Anna Arkadjewna Karenina hatte Freunde und nähere Beziehungen in drei verschiedenen Kreisen. Der eine von ihnen war der dienstliche, offizielle Umgangskreis ihres Mannes und bestand aus dessen Kollegen und Untergebenen, die in gesellschaftlicher Hinsicht auf die mannigfaltigste, bunteste Weise durch allerlei Umstände untereinander verbunden oder voneinander geschieden waren. Anna konnte sich jetzt nur mit Mühe jenes Gefühl einer fast andächtigen Verehrung in die Erinnerung zurückrufen, das sie in der ersten Zeit diesen Leuten gegenüber empfunden hatte. Jetzt kannte sie sie alle so genau, wie man einander in einer Kreisstadt kennt; sie wußte, welche Gewohnheiten und Schwächen ein jeder an sich hatte und wo einen jeden der Schuh drückte; sie kannte ihre Beziehungen untereinander und zu dem Mittelpunkte dieses Kreises; sie wußte, an wem sich der eine oder der andere festhielt und wie und mit welchen Mitteln, und welche miteinander übereinstimmten oder nicht und in welchen Punkten. Aber diesem Kreise, auf den die dienstlichen Interessen ihres Mannes sie hinwiesen, hatte sie trotz allem Zureden der Gräfin Lydia Iwanowna nie Geschmack abgewinnen können, und sie vermied ihn nach Möglichkeit.

Ein zweiter, ihr näherstehender Kreis war der, durch den Alexei Alexandrowitsch seinen Aufstieg gemacht hatte. Der Mittelpunkt dieses Kreises war die Gräfin Lydia Iwanowna. Die Mitglieder dieses Kreises waren alte, häßliche, tugendhafte, fromme Damen und kluge, gelehrte, ehrgeizige Männer. Einer von den klugen Leuten, die zu diesem Kreise gehörten, hatte ihm die Bezeichnung »das Gewissen der Petersburger Gesellschaft« beigelegt. Alexei Alexandrowitsch schätzte diesen Kreis sehr hoch, und Anna, die es vorzüglich verstand, sich mit allen möglichen Leuten einzuleben, hatte in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Petersburg auch in diesem Kreise Freunde gefunden. Aber jetzt, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, kam ihr dieser Kreis geradezu unausstehlich vor. Es schien ihr, daß sowohl sie selbst wie auch alle anderen sich fortwährend verstellten, und es war ihr in dieser Gesellschaft so öde und unbehaglich, daß sie bei der Gräfin Lydia Iwanowna möglichst wenig verkehrte.

Der dritte Kreis endlich, mit dem Anna in Verbindung stand, war die sogenannte große Welt, die Welt der Bälle, der Diners, der glänzenden Toiletten, die Welt, die sich mit einer Hand an den Hof klammerte, um nicht zur Halbwelt hinabzusinken, die die Angehörigen dieses Kreises allerdings zu verachten wähnten, mit der sie aber doch nicht nur einen ähnlichen, sondern geradezu ein und denselben Geschmack hatten. Annas Verbindung mit diesem Kreise wurde durch die Fürstin Betsy Twerskaja aufrechterhalten, die Frau ihres Vetters, die hundertzwanzigtausend Rubel jährliche Einkünfte hatte. Diese hatte zu Anna gleich bei deren erstem Erscheinen in der Gesellschaft eine besondere Neigung gefaßt, sich ihrer freundlich angenommen und sie in ihren Kreis hineingezogen, wogegen sie sich über den Kreis der Gräfin Lydia Iwanowna lustig machte.

»Wenn ich einmal alt und häßlich sein werde, dann werde ich auch so eine werden«, sagte Betsy; »aber für eine so junge, schöne Frau wie Sie ist es noch zu früh, in dieses Spittel zu gehen.«

Anna hatte in der ersten Zeit soviel wie möglich diesen Kreis der Fürstin Twerskaja gemieden, da er Ausgaben erforderte, die über ihre Mittel hinausgingen; und auch nach ihrem persönlichen Geschmacke hatte sie den an zweiter Stelle genannten vorgezogen. Aber nach der Moskauer Reise war bei ihr ein Umschwung eingetreten. Sie zog sich von ihren sittenstrengen Freunden zurück und verkehrte mehr in der großen Welt. Dort traf sie öfters mit Wronski zusammen und machte bei diesen Begegnungen immer eine freudige Erregung durch. Besonders häufig traf sie ihn bei Betsy, die eine geborene Wronskaja und seine Cousine war. Wronski war überall, wo er nur erwarten konnte, Anna zu finden, und sprach, sooft sich die Möglichkeit dazu bot, zu ihr von seiner Liebe. Sie gab ihm zwar keinen Anlaß zu solchen Reden; aber jedesmal, wenn sie mit ihm zusammentraf, flammte in ihrer Seele eben jenes selbe Gefühl gesteigerter Lebensfreude auf, das an jenem Tage im Eisenbahnwagen über sie gekommen war, als sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Sie merkte es selbst, wie bei seinem Anblicke die Freude ihr aus den Augen leuchtete und ihre Lippen lächeln ließ; aber sie war nicht imstande, die Äußerung dieser Freude zu unterdrücken.

In der ersten Zeit hatte Anna aufrichtig geglaubt, daß sie ihm zürne, weil er es wage, sie zu verfolgen; aber als sie einmal bald nach ihrer Rückkehr aus Moskau eine Abendgesellschaft besuchte und ihn wider ihr Erwarten dort nicht traf, da merkte sie an der Traurigkeit, die sich ihrer bemächtigte, daß sie sich täuschte und daß diese Verfolgung ihr ganz und gar nicht unangenehm sei, sondern vielmehr ganz im Gegenteil ihr höchstes Lebensinteresse bildete.

Eine berühmte Sängerin trat zum zweiten Male auf, und alles, was sich zur guten Gesellschaft rechnete, war in der Oper. Wronski hatte seinen Platz in der er sten Reihe des Parketts, und als er von dort aus seine Cousine erblickte, begab er sich, ohne den Zwischenakt abzuwarten, zu ihr in die Loge.

»Warum sind Sie denn nicht zum Diner zu uns gekommen?« fragte sie ihn.

»Ich bin erstaunt über diese Hellseherei der Verliebten«, fügte sie lächelnd so leise hinzu, daß nur er es hören konnte. »Sie ist nämlich nicht da gewesen. Aber kommen Sie nach der Oper zu uns!«

Wronski richtete einen fragenden Blick auf sie. Sie nickte mit dem Kopfe. Er dankte ihr mit einem Lächeln und setzte sich neben sie.

»Oh, wie gut ich mich an Ihre Spöttereien erinnere!« fuhr die Fürstin Betsy fort, die ein besonderes Vergnügen darin fand, die Fortschritte dieser Leidenschaft zu beobachten. »Wo ist das alles geblieben? Nun sind Sie gefangen, mein Lieber!«

»Weiter wünsche ich ja auch nichts, als gefangen zu sein«, antwortete Wronski mit seinem ruhigen, gutmütigen Lächeln. »Wenn ich mich über etwas beklage, so tue ich es nur darüber, daß ich, um die Wahrheit zu sagen, gar zu wenig gefangen bin. Ich beginne die Hoffnung zu verlieren.«

»Was für eine Hoffnung können Sie denn hegen?« fragte Betsy, sich für ihre Freundin gekränkt stellend. »Entendonsnous!« Aber das Glitzern in ihren Augen ließ erkennen, daß sie recht gut und genauso wie er verstand, welche Hoffnung er hegen konnte.

»Gar keine«, erwiderte Wronski lachend und zeigte seine lückenlosen Zahnreihen. »Verzeihung!« fuhr er fort, nahm ihr das Opernglas aus der Hand und begann über ihre entblößte Schulter hinweg die gegenüberliegende Logenreihe zu mustern. »Ich fürchte, lächerlich zu werden.«

Er wußte sehr wohl, daß er keine Gefahr lief, in den Augen seiner Cousine und aller dieser Weltleute lächerlich zu werden. Er wußte sehr wohl, daß in den Augen dieser Leute zwar die Rolle dessen, der, ohne Erhörung zu finden, ein Mädchen oder eine alleinstehende Frau liebt, lächerlich sein konnte, daß aber die Rolle eines Mannes, der sich um eine verheiratete Frau bemüht und alles, selbst sein Leben, daransetzt, sie zum Ehebruch zu verleiten, – daß diese Rolle in den Augen jener Leute etwas Schönes, Großartiges hatte und nie lächerlich werden konnte. Und darum spielte ein stolzes, fröhliches Lächeln unter dem Schnurrbart um seine Lippen, als er nun das Glas sinken ließ und seine Cousine ansah.

»Aber warum sind Sie denn eigentlich nicht zum Diner zu mir gekommen?« fragte sie ihn und betrachtete sein männliches Gesicht mit Wohlgefallen.

»Das muß ich Ihnen erzählen. Ich hatte zu tun; aber was? Ich wette mit Ihnen hundert gegen eins, tausend gegen eins, – Sie raten es nicht. Ich suchte einen Ehemann mit dem Beleidiger seiner Frau zu versöhnen. Ja, wahrhaftig!«

»Nun, haben Sie es denn zustande gebracht?«

»Beinahe.«

»Das müssen Sie mir erzählen!« sagte sie, sich erhebend. »Kommen Sie im nächsten Zwischenakt wieder her!«

»Das ist mir leider unmöglich; ich muß ins Französische Theater fahren.«

»Von der Nilsson wollen Sie wegfahren?« fragte Betsy ganz entsetzt, obgleich sie es beim besten Willen nicht fertiggebracht hätte, die Nilsson von der ersten besten Choristin zu unterscheiden.

»Nicht anders möglich. Ich habe dort ein Stelldichein, alles in Sachen dieser Friedensvermittlung.«

»Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden erlöst werden«, sagte Betsy, die sich erinnerte, so etwas Ähnliches einmal von jemandem gehört zu haben. »Nun, dann setzen Sie sich gleich jetzt her und erzählen Sie, wie es mit der Geschichte war.«

Sie setzte sich gleichfalls wieder hin.

5

»Die Geschichte ist zwar ein bißchen kraß, aber so nett, daß es mir das größte Vergnügen macht, sie Ihnen zu erzählen«, sagte Wronski und sah sie mit lachenden Augen an. »Ich werde keine Namen nennen.«

»Dann werde ich sie raten; das ist noch ergötzlicher.«

»Nun, dann hören Sie zu! Es fahren also zwei lustige junge Männer ...«

»Natürlich Offiziere von Ihrem Regiment?«

»Ich habe nicht gesagt ›Offiziere‹, sondern einfach ›zwei junge Männer‹. Also die fahren nach einem Frühstück ...«

»Soll heißen: gehörig betrunken ...«

»Kann schon sein. Sie fahren in heiterster Stimmung zu einem Kameraden zum Diner. Und da sehen sie, wie ein hübsches weibliches Wesen sie in einer Droschke überholt, sich nach ihnen umsieht und – so schien es ihnen wenigstens – ihnen zunickt und lacht. Sie natürlich hinter ihr her. Sie lassen den Kutscher jagen, so schnell die Pferde nur laufen können. Zu ihrem Erstaunen läßt die Schöne ihre Droschke vor demselben Hause halten, wohin sie selbst wollten. Die Schöne läuft die Treppe zum ersten Stock hinauf. Sie sehen nur die roten Lippen unterhalb des kurzen Schleiers und die kleinen, allerliebsten Füßchen.«

 

»Sie erzählen das mit so viel Gefühl, daß ich vermute, Sie sind selbst einer von den beiden gewesen.«

»Aber was haben Sie noch vor wenigen Minuten zu mir gesagt? Nun also, die jungen Männer gehen in die Wohnung ihres Kameraden, bei dem ein Abschiedsdiner stattfindet. Da trinken sie tüchtig, vielleicht auch etwas zuviel, wie das ja bei einem Abschiedsdiner immer so zugeht. Bei Tische erkundigen sie sich, wer denn in diesem Hause den oberen Stock bewohne. Niemand weiß es, und nur der Diener des Gastgebers gibt auf ihre Frage, ob da oben ›solche Damen‹ wohnen, die Antwort: ›Jawohl, eine ganze Menge.‹ Nach dem Diner begeben sich die jungen Männer in das Arbeitszimmer des Gastgebers und verfassen da einen Brief an die Unbekannte, einen ganz leidenschaftlichen Brief, eine Liebeserklärung, und tragen dann selbst diesen Brief hinauf, um, wenn in dem Briefe etwas nicht ganz verständlich sein sollte, die nötigen Erläuterungen zu geben.«

»Warum erzählen Sie mir solche Abscheulichkeiten? Nun weiter!«

»Sie klingeln. Ein Dienstmädchen öffnet, sie händigen ihr den Brief ein und beteuern dem Dienstmädchen, sie seien beide so verliebt, daß sie gleich da an der Tür sterben müßten. Das Mädchen, in höchster Verwunderung, redet mit ihnen hin und her. Auf ein mal erscheint ein Herr mit einem Backenbart; dieser Backenbart sah genauso aus, wie wenn rechts und links je ein Würstchen hinge; vor Wut rot wie ein Krebs, erklärt ihnen der Herr, es wohne niemand weiter dort außer ihm und seiner Frau, und jagt die beiden aus dem Vorsaal hinaus.«

»Woher wissen Sie denn das, daß er einen solchen Backenbart hat – wie sagten Sie doch? – in Würstchenform?«

»Hören Sie nur zu! Heute bin ich da gewesen, um sie zu versöhnen.«

»Nun, und wie ist es geworden?«

»Jetzt kommt das Interessanteste. Es stellt sich heraus, daß dieses glückliche Ehepaar ein Titularrat mit seiner Gattin ist. Der Titularrat reicht eine Klage ein, und ich werde Friedensvermittler, und was für einer! ... Ich versichere Sie, Talleyrand war ein Stümper gegen mich.«

»Worin liegt denn die Schwierigkeit?«

»Hören Sie nur weiter zu! – Wir baten also um Entschuldigung, wie es sich gehört: ›Wir sind in Verzweiflung und bitten, das unselige Mißverständnis gütigst zu verzeihen.‹ Der Titularrat mit den Würstchen beginnt milder zu werden, möchte aber doch auch seine eigenen Gefühle schildern; jedoch, sowie er damit anfängt, gerät er wieder in Hitze und sagt die größten Grobheiten, und ich muß von neuem alle meine diplomatischen Künste spielen lassen. ›Ich muß zugeben, daß das Benehmen der beiden Herren unangemessen war; aber ich möchte Sie bitten, doch auch in Betracht zu ziehen, daß sie sich in einem Irrtum befanden und daß sie noch in sehr jugendlichem Alter stehen; dazu kommt noch, daß die beiden jungen Männer eben erst gefrühstückt hatten. Sie bereuen das Getane von ganzer Seele und bitten, ihnen ihre Schuld zu verzeihen.‹ Wieder wird der Titularrat freundlicher. ›Ich erkläre mich einverstanden, Herr Graf, und bin bereit zu verzeihen; aber versetzen Sie sich in meine Lage, meine Frau, meine Frau, eine anständige Dame, sieht sich einer solchen Behandlung ausgesetzt, solchen Nachstellungen, Gemeinheiten und Unverschämtheiten der ersten besten Buben und Schuf ...‹ Und nun stellen Sie sich das vor: diese Buben standen dabei, und ich sollte die Parteien versöhnen! Wieder biete ich meine ganze Überredungskunst auf, und wieder fällt, gerade als die Sache zum Abschluß reif scheint, mein Titularrat in seine Aufregung zurück, bekommt einen roten Kopf, die Würstchen sträuben sich in die Höhe, und von neuem überbiete ich mich in diplomatischen Feinheiten.«

»Ach, das muß ich Ihnen erzählen!« rief Betsy lachend einer Dame zu, die zu ihr in die Loge trat. »Er hat mich so zum Lachen gebracht ... Nun, bonne chance!« fügte sie, zu Wronski gewendet, hinzu und reichte ihm einen Finger, den sie beim Halten des Fächers noch frei hatte; zugleich schob sie die Taille ihres Kleides, die sich etwas hinaufgezogen hatte, durch eine Bewegung der Schultern nach unten, um, wie es sich gehört, vollständig entblößt zu sein, wenn sie nach vorn an die Brüstung der Loge in das helle Licht der Gasflammen träte, um von allen gesehen zu werden.

Wronski fuhr zum Französischen Theater. Er mußte wirklich dringend den Regimentskommandeur sprechen und wußte, daß er ihn dort träfe, da dieser nie eine Vorstellung im Französischen Theater versäumte; ihm wollte Wronski über seine Friedensvermittlung berichten, die ihn nun schon seit zwei Tagen beschäftigte und belustigte. Bei diesem Vorfall war einer der Beteiligten Petrizki, den Wronski sehr gern hatte, und der andere ein erst kürzlich eingetretener prächtiger junger Mann und vorzüglicher Kamerad, der junge Fürst Kedrow. Die Hauptsache aber war, daß es sich dabei um den guten Ruf des Regiments handelte.

Die beiden jungen Offiziere gehörten zu Wronskis Eskadron. Der Titularrat Wenden hatte den Regimentskommandeur vor einigen Tagen aufgesucht und sich bei ihm über zwei seiner Offiziere beschwert, die seine Gattin beleidigt hätten. Wenden erzählte, seine junge Frau – er sei nämlich erst ein halbes Jahr verheiratet – sei mit ihrer Mutter in der Kirche gewesen und habe dort ein Unwohlsein verspürt, das durch einen gewissen körperlichen Zustand hervorgerufen sei. Sie sei nicht imstande gewesen, länger zu stehen, und sei daher mit der ersten Droschke, die sie habe bekommen können – es sei eine Droschke erster Klasse gewesen –, nach Hause gefahren. Da seien zwei Offiziere in einem Wagen ihr nachgejagt. Sie habe einen furchtbaren Schreck bekommen und sei dadurch noch kränker geworden; so sei sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufgelaufen. Er selbst, Wenden, habe nach seiner Rückkehr vom Amt die Klingel an der Tür und dann mehrere Stimmen gehört; er sei hingegangen, und als er dort die beiden betrunkenen Offiziere mit einem Briefe erblickt habe, habe er sie aus dem Vorsaal hinausgedrängt. Er ersuche um strenge Bestrafung.

»Nein, das müssen Sie selbst zugeben«, hatte der Regimentskommandeur zu Wronski gesagt, den er hatte zu sich kommen lassen, »dieser Petrizki macht sich unmöglich. Es vergeht keine Woche ohne irgendeine Skandalgeschichte. Dieser Beamte wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen, sondern wird weitergehen.«

Wronski hatte sofort eingesehen, daß dies eine undankbare Aufgabe sei und ein Duell dabei nicht in Frage komme, daß man vielmehr alles mögliche tun müsse, um diesen Titularrat zu besänftigen und die Sache damit aus der Welt zu schaffen. Der Regimentskommandeur hatte Wronski gerade deshalb zu sich bestellt, weil er ihn für einen vornehm denkenden, verständigen Menschen hielt, namentlich aber für einen Mann, dem die Ehre des Regiments am Herzen lag. Sie hatten nun die Sache miteinander durchgesprochen und waren zu dem Ergebnis gelangt, Petrizki und Kedrow sollten sich mit Wronski zu diesem Titularrat begeben und ihn um Entschuldigung bitten. Der Regimentskommandeur und Wronski waren beide der Ansicht, daß Wronskis Name und das Abzeichen des Flügeladjutanten auf seinen Achselstücken zur Besänftigung des Titularrates erheblich mitwirken würden. Und tatsächlich hatten sich diese beiden Mittel teilweise wirksam gezeigt; aber der Erfolg des Vermittlungsversuchs war doch noch einigermaßen zweifelhaft geblieben, wie das Wronski auch seiner Cousine erzählt hatte.

Als Wronski im Französischen Theater angelangt war, zogen der Regimentskommandeur und er sich in das Foyer zurück, und Wronski berichtete seinem Chef über seinen Erfolg oder Mißerfolg. Nachdem der Regimentskommandeur alles hin und her erwogen hatte, kam er zu dem Entschlusse, gegen die Schuldigen nicht weiter vorzugehen; aber dann fragte er des Spaßes halber Wronski über die Einzelheiten seiner Verhandlungen aus und mußte lange Zeit immer von neuem loslachen, als er Wronski erzählen hörte, wie der Titularrat, nachdem er sich schon einigermaßen beruhigt hatte, bei der Erinnerung an die näheren Umstände des Vorfalles immer wieder in Hitze geraten sei und wie er, Wronski, als die letzten Redewendungen halbwegs nach Versöhnung geklungen hatten, ausweichend sich schleunigst zurückgezogen und dabei Petrizki vor sich hergestoßen habe.

»Eine greuliche Geschichte, aber höchst komisch. Kedrow kann sich doch mit diesem Herrn nicht schlagen! Also er ist furchtbar erbost gewesen?« fragte er lachend. »Aber wie sich heute die Claire macht! Prächtig!« bemerkte er mit Bezug auf eine neue französische Schauspielerin. »Und wenn man sie noch so oft sieht, jedesmal ist sie eine andere. So etwas bringen doch nur die Franzosen fertig.«

6

Die Fürstin Betsy fuhr, ohne das Ende des letzten Aktes abzuwarten, aus dem Theater weg. Kaum hatte sie Zeit gehabt, in ihr Toilettenzimmer zu gehen, ihr langes, blasses Gesicht zu pudern, den Puder abzuwischen, sich zurechtzumachen und den Tee in den großen Salon zu bestellen, als auch schon ein Wagen nach dem anderen an ihrem gewaltigen Hause an der Bolschaja-Morskaja-Straße vorfuhr. Die Gäste stiegen auf der breiten Anfahrt aus, und der wohlbeleibte Pförtner, der vormittags zur Erbauung der Vorübergehenden hinter der Glastür meist seine Zeitung las, öffnete geräuschlos diese mächtige Tür und ließ die Ankommenden an sich vorüberwandeln.

Fast zu gleicher Zeit traten durch die eine Tür die Hausfrau mit aufgefrischter Frisur und aufgefrischtem Gesicht und durch eine andere die Gäste in den großen Salon mit den dunklen Wänden, den schwellenden Teppichen und dem hell erleuchteten Tische, auf dem das schneeweiße Tischtuch, der silberne Samowar und das durchscheinende porzellanene Teegeschirr im Scheine zahlreicher Kerzen glänzten.

Die Hausfrau setzte sich hinter den Samowar und legte die Handschuhe ab. Die Gesellschaft rückte sich mit Hilfe der kaum wahrnehmbaren Diener Stühle zu recht und nahm Platz, wobei sie sich in zwei Gruppen schied: die eine um den Samowar und die Wirtin, die andere am entgegengesetzten Ende des Salons um die schöne Gattin eines Gesandten, mit schwarzen, scharf gezeichneten Augenbrauen, in schwarzem Samtkleide. Das Gespräch schwankte, wie das immer in den ersten Minuten zu gehen pflegt, zunächst in beiden Kreisen unsicher hin und her, fortwährend unterbrochen durch das Hinzukommen neuer Gäste, durch Begrüßungen, durch das Anbieten des Tees, und suchte gleichsam nach einem Stoffe, bei dem es verweilen könnte.

»Sie ist als Schauspielerin außerordentlich tüchtig; man sieht, daß sie Kaulbach studiert hat«, bemerkte ein Diplomat in der Gruppe um die Gattin des Gesandten. »Haben Sie wohl bemerkt, wie künstlerisch sie hinfiel?«

»Ach, bitte, wir wollen doch nicht von der Nilsson sprechen! Über die etwas Neues zu sagen, ist ja ein Ding der Unmöglichkeit!« unterbrach ihn eine beleibte Dame mit rotem Gesicht und blondem Haar, ohne Augenbrauen und ohne Chignon, in einem alten seidenen Kleide. Dies war die Fürstin Mjachkaja, die wegen der Naturwüchsigkeit und Derbheit ihres Benehmens berüchtigt war und daher das enfant terrible genannt wurde. Die Fürstin Mjachkaja saß in der Mitte zwischen beiden Gruppen, hörte nach beiden Seiten hin zu und beteiligte sich bald hier, bald dort an der Unterhaltung. »Mir haben heute schon drei Personen dieselbe Redensart über Kaulbach gesagt, gerade wie wenn sie sich verabredet hätten. Und sie schienen, ich weiß nicht, warum, an dieser Redensart ein ganz besonderes Wohlgefallen zu finden.«

Das Gespräch war durch diese Bemerkung gestört worden, und man mußte auf ein neues Thema sinnen.

»Erzählen Sie uns etwas Ergötzliches, aber nichts Boshaftes!« sagte die Frau des Gesandten, eine Meisterin in derjenigen Art der vornehmen Unterhaltung, die man im Englischen small talk nennt. Sie wendete sich mit dieser Aufforderung an den Diplomaten, der ebenfalls nicht wußte, was er zur Sprache bringen solle.

»Man sagt, das sei außerordentlich schwer; nur das Boshafte sei komisch«, begann er lächelnd. »Aber ich will es versuchen. Geben Sie mir ein Thema! Es kommt alles auf das Thema an. Ist das Thema einmal gegeben, so kann man sich leicht darüber ergehen. Ich denke oft, daß die berühmten Plauderer des vorigen Jahrhunderts jetzt ihre Not hätten, etwas Neues, Verständiges zu sagen. Alles Verständige ist schon bis zum Überdruß abgenutzt.«

»Das ist auch schon längst gesagt worden«, unterbrach ihn lachend die Frau des Gesandten.

Das Gespräch hatte so harmlos begonnen; aber ebendeshalb, weil es allzu harmlos war, stockte es wieder. Man mußte zu dem sichersten, nie versagenden Mittel seine Zuflucht nehmen: zum Lästern.

 

»Finden Sie nicht auch, daß Tuschkewitsch etwas an sich hat, was an Louis XV. erinnert?« fragte der Diplomat und deutete mit den Augen auf einen hübschen, blonden jungen Mann, der am Tische stand.

»O ja! Er verrät denselben Stil wie dieser Salon; darum verkehrt er hier auch so viel.«

Dieser Gesprächsstoff behauptete sich eine Weile, weil in derartigen Andeutungen gerade über einen Punkt gesprochen wurde, über den man in diesem Salon nicht hätte reden dürfen, nämlich über Tuschkewitschs Beziehungen zur Frau vom Hause.

In der Gruppe, die den Samowar und die Frau vom Hause umgab, hatte unterdessen das Gespräch gleichfalls zwischen den drei unvermeidlichen Stoffen gewechselt: dem letzten Ereignis, das sich in den vornehmen Kreisen begeben hatte, dem Theater und dem Bekritteln des lieben Nächsten, und auch da blieb es, nachdem es zu dem letztgenannten Thema gelangt war, bei diesem stehen, nämlich bei der Verlästerung.

»Haben Sie schon gehört, die Maltischtschewa – wohlgemerkt: nicht die Tochter, sondern die Mutter – läßt sich ein Kostüm diable rose anfertigen!«

»Nicht möglich! Nein, das ist ja ausgezeichnet!«

»Ich muß mich nur wundern, daß sie mit ihrem Verstande – denn dumm ist sie ja nicht – nicht einsieht, wie lächerlich sie sich macht.«

Ein jeder hatte etwas zur Verdammung und Verspottung der unglücklichen Frau Maltischtschewa beizusteuern, und das Gespräch kam in munteres Prasseln und Knattern wie ein in Brand gesetzter Holzstoß.

Der Gatte der Fürstin Betsy, ein gutmütiger, dicker Herr, leidenschaftlicher Sammler von Kupferstichen, hatte gehört, daß seine Frau Gäste hatte, und kam nun in den Salon, bevor er in seinen Klub fuhr. Unhörbar trat er auf dem weichen Teppich zu der Fürstin Mjachkaja heran.

»Nun, wie hat Ihnen die Nilsson gefallen?« fragte er.

»Ach, wie kann man sich nur so heranschleichen! Wie haben Sie mich erschreckt!« antwortete sie. »Bitte, reden Sie mit mir nicht von der Oper; Sie verstehen ja doch nichts von Musik. Lieber will ich mich zu Ihnen herablassen und mit Ihnen von Ihren Majoliken und Kupferstichen sprechen. Nun, was für ein Kleinod haben Sie denn zuletzt auf dem Trödelmarkte erstanden?«

»Wenn Sie es wünschen, will ich es Ihnen zeigen. Aber Sie sind ja keine Kennerin.«

»Nun, zeigen Sie nur! Ich habe mir einige Kenntnisse angeeignet, bei diesen Leuten ... wie heißen sie doch nur gleich ... er ist Bankier ... die haben wundervolle Kupferstiche. Sie haben sie uns gezeigt.«

»Ah, Sie sind bei Schützburgs gewesen?« fragte die Hausfrau vom Samowar herüber.

»Jawohl, ma chère. Sie hatten meinen Mann und mich zum Diner eingeladen und sagten mir bei Tische, daß eine Sauce, die es gab, tausend Rubel gekostet habe«, erwiderte die Fürstin Mjachkaja mit lauter Stimme, da sie bemerkte, daß die ganze Gesellschaft ihr zuhörte. »Und dabei war es eine ganz scheußliche Sauce, so etwas Grünes. Wir mußten die Einladung erwidern, und da habe ich eine Sauce für fünfundachtzig Kopeken gemacht, und alle waren damit sehr zufrieden. Ich kann keine Saucen für tausend Rubel auf den Tisch bringen.«

»Sie ist einzig!« sagte die Wirtin.

»Bewundernswert!« fügte jemand hinzu.

Der Erfolg, den die Fürstin Mjachkaja mit ihrem Reden hervorbrachte, war stets bedeutend und stets der gleiche, und das Geheimnis dieses Erfolges bestand darin, daß sie zwar manchmal etwas taktlos, wie eben jetzt, aber immer schlicht und einfach, mit Sinn und Vernunft redete. In der Gesellschaft, in der sie sich bewegte, brachten solche Äußerungen stets die Wirkung eines geistreichen Scherzes hervor. Die Fürstin Mjachkaja selbst konnte gar nicht begreifen, woher diese Wirkung kam; aber sie wußte, daß sie sie hervorrief, und nutzte dies aus.

Da alle, während die Fürstin Mjachkaja sprach, ihr zugehört hatten und das Gespräch in der Gruppe um die Frau des Gesandten aufgehört hatte, so machte die Hausfrau einen Versuch, die ganze Gesellschaft zu einer einzigen Gruppe zusammenzuziehen, und wandte sich an die Frau des Gesandten:

»Mögen Sie wirklich keinen Tee? Sie sollten sich zu uns herübersetzen.«

»Nein, wir fühlen uns hier sehr wohl«, erwiderte die Frau des Gesandten lächelnd und fuhr in dem begonnenen Gespräche fort.

Dieses Gespräch war sehr vergnüglich. Sie waren gerade dabei, das Kareninsche Ehepaar zu kritisieren, ihn sowohl wie sie.

»Anna hat sich seit ihrer Moskauer Reise sehr verändert. Sie hat jetzt etwas ganz Sonderbares in ihrem Wesen«, sagte eine ihrer Freundinnen.

»Die Veränderung besteht hauptsächlich darin, daß sie Alexei Wronski als ihren Schatten mitgebracht hat«, bemerkte dazu die Frau des Gesandten.

»Nun, was ist dabei?« sagte einer der Herren. »Es gibt ein Märchen: der Mann ohne Schatten; da hat ein Mann seinen Schatten verloren, und das ist bei ihm die Strafe für irgend etwas, was er getan hat. Ich habe nie recht begreifen können, wie das eine Strafe sein kann. Aber für eine Frau muß es wohl unangenehm sein, keinen Schatten zu haben.«

»Ja, aber die Frauen mit Schatten nehmen gewöhnlich ein schlechtes Ende«, versetzte Annas Freundin.

»Warten Sie nur, Sie werden noch den Zungenkrebs oder so etwas Ähnliches bekommen!« rief auf einmal die Fürstin Mjachkaja, die diese Worte gehört hatte. »Frau Karenina ist eine prächtige Frau. Ihren Mann kann ich nicht leiden, aber sie habe ich sehr gern.«

»Warum können Sie ihn denn nicht leiden?« fragte die Frau des Gesandten. »Er ist doch ein so bedeutender Mann. Mein Mann sagt, solche Staatsmänner wie ihn gebe es nicht viele in Europa.«

»Mein Mann sagt zu mir dasselbe, aber ich glaube es nicht«, versetzte die Fürstin Mjachkaja. »Wenn unsere Männer uns nicht ihre Ansichten vortrügen, dann würden wir die Dinge und Menschen so sehen, wie sie wirklich sind; und Alexei Alexandrowitsch ist meiner Meinung nach einfach dumm. Das sage ich nur ganz leise. – Nicht wahr? Wie da alles auf einmal klar wird! Früher, als man von mir forderte, ich sollte ihn klug finden, da habe ich immer seine Klugheit zu entdecken gesucht und schließlich gedacht, ich müßte doch selbst dumm sein, da ich seine Klugheit gar nicht herausfinden könne. Aber sobald ich mir sagte: ›Er ist dumm‹, aber nur ganz leise, da wurde auf einmal alles klar. Hab ich nicht recht?«

»Wie boshaft Sie heute sind!«

»Ganz und gar nicht. Es bleibt mir kein anderer Ausweg: einer von uns beiden muß dumm sein. Nun, und Sie werden ja wissen, von sich selbst kann man das doch nie glauben.«

»Niemand ist zufrieden mit seinem Vermögen, und jedermann ist zufrieden mit seinem Verstande«, zitierte der Diplomat einen französischen Vers.

»Sehen Sie wohl, sehen Sie wohl, ganz richtig!« wandte sich die Fürstin Mjachkaja lebhaft ihm zu. »Aber was die Hauptsache ist: ich lasse auf Anna nichts kommen. Sie ist eine ganz prächtige, liebe Frau. Was soll sie dagegen tun, wenn alle Menschen sich in sie verlieben und ihr wie ihr Schatten folgen?«

»Aber es kommt mir ja auch gar nicht in den Sinn, sie zu verurteilen«, suchte sich Annas Freundin zu rechtfertigen.

»Wenn uns niemand wie ein Schatten folgt, so beweist das noch nicht, daß wir ein Recht haben, über andere den Stab zu brechen.«

Nachdem die Fürstin Mjachkaja so Annas Freundin gebührendermaßen abgestraft hatte, stand sie auf und ging zusammen mit der Frau des Gesandten zum Tische hin, wo ein allgemeines Gespräch über den König von Preußen im Gange war.