Read the book: «About Shame», page 4

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Wenn ich darüber so schreibe, will ich mich schon wieder für meine damalige kindliche Naivität geißeln. Aber ich versuche, Verständnis aufzubringen für dieses Mädchen von damals, nach wie vor. Und deshalb ist nicht wichtig, ob das Mädchen es hätte besser wissen können, sondern es ist wichtig, dass es Todesangst gefühlt hat. Und dass ihm diese Angst niemand genommen hat. Dass niemand ihm die Hand gegeben und gesagt hat: »Ich pass auf dich auf, keine Sorge.«

»Achtungsverlust kann sich hier in eine existenzielle Scham steigern, deren Urbild das ungeliebte und nicht gewollte Kind ist. Das Opfer dieser Existenzialscham ist der sich nutz- und wertlos fühlende Mensch. Dessen Empfindung hat die Psychologin Helen Lynd beschrieben: ›Wir sind Fremde in einer Welt geworden, in der wir dachten, zuhause zu sein. Mit jeder wiederholten Verletzung unseres Vertrauens werden wir wieder zu Kindern gemacht, unsicher über uns selbst in einer feindlichen Welt.‹«27 Dieses ungeliebte und ungewollte Kind. Eine spannende Figur, die sich in der Auseinandersetzung mit bestimmten psychischen Erkrankungen öfters zeigt. Die Gefühle der Fremdheit und Wertlosigkeit tauchen immer wieder im Kontext der Scham auf und steigern sich im Laufe der Schamerfahrung. So lange, bis das ganze Selbst Scham ist. Das ist dann »Existenzialscham«: Man schämt sich dafür, zu existieren. Nicht mehr nur dafür, an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit, sondern überhaupt auf dieser Welt zu sein.

Das Gefühl der Nutz- und Wertlosigkeit. Ich erinnere mich an unzählige Situationen in dem Trainingslager, in denen alle mit irgendjemandem sprechen, außer mit mir. Ich, wie ich ständig alleine trainiere oder herumsitze. Mit wem sollte ich sprechen? Längst ist mir klar, dass mich hier niemand haben will. Dass mich überhaupt niemand irgendwo haben will. Denn ich komme für die anderen einfach nicht vor und wenn, dann nur als Abgrenzungsfolie. Eine Frage brennt sich in meinen Kopf ein: Warum? Warum bin ich hier das ungewollte Kind?

Ich habe Angst unbemerkt zu sterben, daher beschließe ich, mir Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es ist das erste Mal, dass ich glaube, durch eine Lüge mein Leben zu retten. Durch eine gut geschauspielerte Lüge. Denn ich erfinde ein Problem, eine Krankheit, ein Leiden. Ich breche einfach zusammen, werde ohnmächtig. Durch mein Verhalten bekomme ich zum einen Sympathien der Betreuungspersonen, die ab diesem Moment auf mich aufpassen, zum anderen stelle ich sicher, dass mich die anderen Mädchen nicht mehr mies behandeln. Diese Mädchen sorgen zwar weiterhin mit Nachdruck dafür, dass ich mich an keinem Punkt so fühle, als wäre ich Teil ihrer Peergroup, aber zumindest greifen sie mich nicht mehr an. Ich darf einfach auf dem Zimmer liegen, in meinem Bett. Ich darf krank sein. So krank, wie ich mich fühle. So anders, wie ich mich fühle. In der Woche esse ich kaum etwas. Es wiederholt sich, was ich aus meiner Kindergartenzeit noch zu gut kenne: Auf emotionalen Stress reagiere ich mit Erbrechen. Ich hungere mal wieder, mit Absicht. Um die Aufmerksamkeit sicherzustellen, die im Zweifel mein Überleben garantiert. Ich will nicht vergessen werden, in diesem Zelt. Am Ende der Woche steige ich aus dem Bus und beschließe, nie, nie, nie wieder über das, was dort passiert ist, zu sprechen. Als ich meinen Eltern von der Woche erzählen soll, weine ich fast. Meine Familie scheint nichts zu bemerken. Ich vergrabe diese Woche tief in meinen Erinnerungen und erst zehn Jahre später soll sie in Teilen an die Oberfläche dringen. Wodurch sie nach oben dringt? Durch Scham und einen Wiederholungszwang.

Spätestens seit dieser Woche ist gewiss: Ich bin und denke anders. Ich denke in Welten und Formen und Farben, die nicht zu den Gedanken der anderen passen. Und ich meine das nicht als intellektuelle Überhöhung. Sondern ich verbringe mein Leben ab diesem Moment damit, mir zu wünschen, einmal so denken zu können, wie jene Mädchen. Ich habe nur meine Gedanken, die nie sonderlich erbaulich sind, sondern tendenziell entmutigend, pessimistisch, belastend.

In diesem Bruchteil meiner Geschichte habe ich über viele unterschiedliche Momente und Ausdrucksformen von Scham geschrieben. Sie sind unterschiedlich intensiv, dauern unterschiedlich lange an und erfordern einen unterschiedlichen Umgang. Über manche Situationen kann ich heute lachen. Aber nicht über die Ausgrenzung, die ich damals erlebt habe. Sie ist ein zentraler Baustein in meiner Geschichte der Scham. Die Scham ist dort, wo der Normbruch ist. Wo die Abweichung lauert. Auch über zehn Jahre später kenne ich das Gefühl von grenzenloser Zugehörigkeit eigentlich nicht. Auch wenn ich seitdem nie wieder absichtlich ausgegrenzt wurde, nie mehr in der Intensität von Ablehnung betroffen war, kenne ich nur zu gut das Gefühl des Andersseins, die Position des »Anderen«.

»Im Kontext der Scham gibt es keine Wiedergutmachung. Scham ist grundsätzlich nicht verhandelbar. Die unbeabsichtigte Beschämung eines Menschen kann zwar tiefes Bedauern bis hin zu Schuldgefühlen im ›Täter‹ auslösen, ohne dass dieser jedoch irgendeine Form der Entlastung anbieten kann. Er kann nichts weiter tun, als die beschämte Person allein ihrer Scham zu überlassen, da sie den Schutz der Isolation und Einsamkeit benötigt, um die Schmach der Entdeckung zu verwinden. Im Gegensatz zu anderen Emotionen, die durch Beistand gelindert werden können, wie beispielsweise Angst oder Panik, gibt es keine Möglichkeit einen Menschen aus seinem Schamgefühl zu befreien. Dieser Bewältigungsakt kann nur durch die betroffene Person selbst vollzogen werden, und zwar in Form von Rückzug in die Einsamkeit.«28

Als ich diesen Abschnitt bei Caroline Bohn finde, denke ich sofort an jene Situationen, in denen ich mich ausgeschlossen fühlte und daran, dass manche später versucht haben, sich dafür zu entschuldigen. Aber Bohn hat recht: Wenn man jemanden aufrichtig beschämt oder gedemütigt hat, über Monate oder Jahre hinweg, kann man keine Vergebung erwarten. Der Satz »Es war nicht so gemeint« taugt meist nicht zur Linderung von Schamgefühlen. Trotzdem sagen Menschen das immer wieder, ein Nachsatz zu jeder demütigenden Aussage. Noch schlimmer ist es, wenn man erklärt bekommt, was man nicht alles falsch verstanden hätte, dass man ja letztendlich nur irgendwas in den falschen Hals bekommen hätte. Der Scham sind solche Aussagen egal. Überhaupt sind der Scham Intentionen oft gar nicht so wichtig, denn sie wirkt so oder so.

Es sind nicht einfach nur ein paar blöde Erlebnisse, mit denen man dann schon irgendwie abschließt. Da wurde am Selbstwert einer Person geschraubt, da wurde ein Mensch essenzieller Sicherheiten beraubt, beispielsweise der Gewissheit, ein Mensch zu sein, der anerkannt wird, der ein Daseinsrecht hat. Der sprechen und sich frei bewegen darf. Und manchmal ist egal, was danach kommt. Man nimmt diese Erfahrung in das spätere Leben mit und wird überall eine Wiederholung erahnen. Ich befürchte, dass ich mich nie wieder jemandem grenzenlos zugehörig fühlen werde.

Ich gebe die Mädchen auf. Tauche nie mehr im Training auf. Meide die Orte, an denen ich ihnen unbeabsichtigt begegnen könnte. Gebe nichts mehr darauf, wenn eines der Mädchen nett zu mir ist, kommt es durch Zufall doch zu einem Aufeinandertreffen. Will mit ihnen allen nichts mehr zu tun haben. Nach der Isolation und Einsamkeit, die Bohn beschrieben hat, ziehe ich aus der ganzen Geschichte meine ganz eigenen Konsequenzen: Ich gehöre nicht dazu und deshalb will ich auch nicht mehr dazugehören. »Einen Platz in einer Welt zu finden, die für dich keinen Platz hat – Lass mal lieber alles abfackeln, bevor man abkackt.«29 Ich beschließe, die Sache mit der Zugehörigkeit abzuhaken und meine Position nicht zu verändern, sondern umzudeuten und dafür zu sorgen, dass ich wieder in eine Handlungsposition komme: Abgrenzung statt Ausgrenzung.

Das bedeutet auch bis zu einem gewissen Grad den Blick der Mädchen zu übernehmen, unter dem ich gelitten habe. Ich beschließe, dass sie recht hatten: Sie finden mich nicht nur falsch, ich bin falsch. Aber genau diese Falschheit beginne ich, anders zu bewerten. Beschämung und Demütigung funktionieren umso leichter, je mehr die betroffene Person von der eigenen Wertlosigkeit überzeugt ist, genauso wie die beschämende Person. Erkennt die beschämte Person ihre unterlegene Position als Gedemütigte nicht mehr an, wird es schwierig. Dann öffnet sich ein neuer Raum – der Raum des Widerstands. Ich versuche mein Anderssein neu zu besetzen. Ich verleibe mir die Position des »Anderen« ein und eigne sie mir an, aber nicht als Unterlegenheit. Ich provoziere das Anderssein, schmücke es aus, beharre darauf. Will, dass es ein ganz besonderer Teil meiner Geschichte wird, den ich nicht mehr verschweige.

Je stärker ich mich aus bestimmten Gruppenkonstellationen heraushalte und versuche eine eigene Haltung zu entwickeln, desto besser geht es mir, desto eher gelingt es mir, etwas zu bekommen, das vielleicht »Selbstbewusstsein« ist. Mit einem Mal sind Abgrenzung und sogar Widerstand die wesentlich sympathischeren Optionen als Anpassung und Zugehörigkeit. Ich will unantastbar sein. Und deshalb suche ich mehr und mehr »das Andere«, das Alleinsein. Denn: »Allein tanz ich am besten.«

So ganz hat mich diese Perspektive nicht mehr verlassen, auch wenn ich heute anders darüber denke. Aber: Ich gehe gerne allein ins Kino, fahre allein in den Urlaub, sitze allein an meinem Schreibtisch. So verschissen eklig und unnötig diese ganze Ausgrenzungsgeschichte war, so sehr habe ich durch sie gelernt, mit mir selbst allein zu sein und das auch zu schätzen. (Und hier wird die Zitrone zu einer widerlich-süßen Limonade.) Viele finden es seltsam, wenn ich auf Partys irgendwo allein herumstehe und andere beobachte, oder wenn ich lieber allein heimgehe. Für mich ist das ein Raum geworden, den ich für mich einfordere. Ja, ich fordere phasenweise Einsamkeit als Freiraum. Meine Scham gehört mir.

ADiese Unterscheidung ist in der Forschung relativ gängig und ganze Kulturen wurden danach voneinander unterschieden. Vgl. Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2014. Der Satz »Shame is about the self; guilt is about things.« stammt von Helen B. Lewis, die jene Unterscheidung maßgeblich mitgeprägt hat. Neckel, Sighard: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt/Main: Campus 2000, S. 96.

Kapitel Drei
WURZELN

Dies ist die Zeit der Zitate, heimlich übertragen in ein gut verstecktes

Heft, als Wahrheit über mich selbst und für mich selbst, als Vademecum

und als Gewissheit, dass man mit seinen Gefühlen nicht allein ist:

das Glück, eine Empfindung mit anderen zu teilen, und sei es nur mit

einem einzigen Menschen, und/oder einen Trost gefunden zu haben

angesichts der Schwierigkeit zu leben.

ANNIE ERNAUX

Es dauert Jahre, bis ich die Texte lese, in denen genau beschrieben wird, wie ich mich fühle. Die Lieder höre, die gefühlt meine Situation spiegeln, mein Leben – alles schon einmal vertont, vertextet, auf den Punkt gebracht. Manchmal macht mir das Angst, weil die Leute, um die es geht, keine Geschichten mit Happy End erzählen können, schwerwiegende Probleme haben und später teilweise furchtbare Entscheidungen treffen. Manchmal wiederum gibt es mir Kraft, weil andere Tolles erlebt oder erreicht haben, schöne Geschichten nicht trotz, sondern wegen dieser Gefühle und Erfahrungen erzählen können, weil andere mehr als überlebt haben: Sie haben gelebt. Wie wild geworden unterstreiche ich in den Reportagen, Artikeln, Romanen, Biografien, die Zeilen, in denen ich Ähnlichkeiten entdecke. Wow, genau so habe ich mich auch gefühlt und genau so geht es mir auch, schwirrt mir ständig durch den Kopf. Plötzlich besteht die Welt aus Geschichten, die so sind wie meine. Ich bin nicht mehr allein.

Immer suche ich nach rationalen Gründen, nach Erklärungsansätzen in und außerhalb der Wissenschaft, warum Sachen so laufen, wie sie eben laufen. Beim Verstehen von Ausgrenzung helfen mir Soziologie und Pädagogik, in diesem Kapitel hilft mir zusätzlich dazu die Psychologie zu begreifen, was mein Leben beeinflusst. Oft finde ich in Büchern Antworten, die mir das Leben nicht geben konnte. Und wenn keine Antworten, dann zumindest etwas, das Annie Ernaux mal wieder perfekt beobachtet: Das Gefühl, nicht allein zu sein, das man empfindet, wenn man sich in den Worten anderer, vielleicht längst toter Menschen wiederfindet.

Es ist der 12. Februar 2019. Mein Opa ist seit über einem Monat tot und ich sitze in einem Wartezimmer auf einem Ledersessel. Ich höre Stimmen aus einem der Zimmer um mich herum, lautes Lachen. Machen die sich gerade über ihre Patient*innen lustig? Und wieso riecht es hier nach Essen? Wie durchlässig sind die Wände? Hört man von dem lärmenden Zimmer aus, was auf der Toilette daneben passiert?

Eine Frau kommt aus dem Zimmer, dreht sich zu mir und bittet mich, ihr in eines der anderen Zimmer zu folgen. Es ist dieselbe Frau, die mich bereits kurz zuvor in die Praxis eingelassen hatte. Ich schließe hinter uns beiden die Tür. Vor uns stehen zwei Sessel mit dem gleichen Bezug, den die Sessel im Vorraum auch haben. Zwischen beiden Stühlen steht ein kleines Beistelltischchen. Darauf eine Uhr und eine Taschentuchbox. Innerlich schmunzle ich. Für die Sensibelchen. Zu denen ich nicht gehöre.

In diesem Moment stelle ich mir die gleiche Frage wie in den letzten Wochen: Warum bin ich hier? Vorgestern habe ich in Eigenregie eine »Körperstruggle«-Mindmap angefertigt, eine Mindmap, auf der ich alle möglichen Aspekte der Auseinandersetzung mit meinem Körper organisiert und strukturiert aufgeschrieben habe. Ich. Kenne. Mein. Problem. Niemand versteht mich besser als ich selbst. Und ich kenne Behandlungsmöglichkeiten. Worauf Leute mit ihren Fragen abzielen, weiß ich meist von Anfang an, weshalb ich genau so antworten kann, wie sie es wollen, unabhängig davon, ob ich damit die Wahrheit sage oder lüge.

Mir geht es nicht um die Tricks, die Essgestörte in Kliniken anwenden. Ich schlage mich nicht damit herum, Essen im Mund zu behalten oder vor den Wiegeterminen Wasser zu trinken. Das alles kann in einer ambulanten Therapie sowieso nicht berücksichtigt werden. Ich meine die mentalen Tricks, die Art der Kommunikation: Ein Blick und ich sage dir, was du hören willst. Ich gebe genau die Antworten, die Menschen brauchen und kann mich dabei auch noch so gut austricksen, dass ich mir meine Antworten eine Zeit lang als Wahrheiten verkaufe. Um dann später zu bemerken, dass ich wieder nur gelogen habe.

Trotzdem habe ich mich eigenständig dazu entschlossen, diese Therapie anzufangen. Als ich mich über die Mortalitätsraten bei Anorexie-Patient*innen informiert habe. Als ich von den körperlichen und seelischen Spätfolgen von Essstörungen erfuhr, ist mir klar geworden, dass das eine gefährliche Nummer ist. Eine, die ich nicht ignorieren kann, so gerne ich es auch würde.

»Na dann, fangen wir mal an. Warum sind Sie hier?« In dieser ersten Therapiesitzung stehe ich vor demselben Problem, das ich auch beim Schreiben dieses Textes hatte: Wo anfangen? Wo nimmt das alles seinen Anfang, wenn nicht beim 23. September 1996, dem Tag, an dem ich geboren wurde? Aber ich kenne diese Frage aus meiner ersten Therapie. Ich bin erfahrenes Therapiekind.

»Es geht mir nicht gut. Ich glaube, ich habe kein gesundes Essverhalten. Ich fühle mich oft nicht gut.«

Meine Therapeutin gibt mir in der zweiten Stunde einige Tests mit, die ich zu Hause ausfüllen soll. Sie sagt, wenn es mir zu viele Probleme bereite, könnten wir das auch gemeinsam in der Therapie machen, wofür ich sie innerlich ein wenig auslache: Ich lebe mit den Antworten auf diese Tests, jeden Tag. Was soll schon dabei sein, sie auch noch schriftlich festzuhalten?!

Es stellt sich bereits in den ersten drei Stunden heraus, dass meine Therapeutin eine sehr gutmütige, verständnisvolle Frau ist, für die ich bereit bin, einige Fassaden fallen zu lassen. Einmal in der Woche begebe ich mich zu ihr in die Praxis, um meinen Kopf auseinanderzunehmen und ja, ich sage bewusst, dass ich das für sie mache. Denn ich kenne ihre Erwartungshaltung und anfangs ist mein selbst erklärtes Ziel, dieser einfach zu entsprechen. Ganz nach der Logik meiner »Überlebensregel«, die wir in der Therapie ermitteln: »Nur wenn ich immer Erwartungen übertreffe und mich um alle anderen kümmere, und wenn ich niemals aufgebe, niemals jemanden enttäusche oder meine Bedürfnisse über andere stelle, bewahre ich mir Anerkennung, und verhindere, dass ich andere verletze und sich andere von mir abwenden.« Nach dieser Regel funktioniert also mein bisheriges Leben.

Wir kreisen im Laufe der Behandlung immer wieder um bestimmte Fragen, bemerken, dass das Hungern und übermäßige Sporttreiben zu einem großen Teil aus dem Bedürfnis nach Kontrolle erwächst. Aber woher mein Wunsch nach ihr und nach grenzenloser Anerkennung kommt, weiß ich nicht. Genauso wenig ist mir klar, warum ich mich immer an die Erwartungen der Menschen um mich herum anpasse, so sehr, dass ich nicht einmal mehr weiß, was ich selbst will. Meine Therapeutin stellt mir diese Fragen so oft, bis ich genervt bin.

Wie sehr es mich anstrengt und zermürbt, kann ich ihr gar nicht zeigen. Eigentlich stresst mich nicht so sehr die Frage an sich, sondern die Tatsache, dass ich keine Antwort darauf habe. Dass ich vermute, sie will daraufhin irgendeine bestimmte Sache hören und ich bin nicht in der Lage, sie ihr zu sagen. Ihre Erwartung nicht erfüllen. Ich bin eine schlechte Patientin, in meinen Augen.

Die Therapie: Der Schauplatz des Alltags. In Therapien spiegelt sich ein Leben, spiegeln sich die Denk- und Verhaltensmuster, die uns oft selbstverständlich erscheinen. Die Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in ist ein Ebenbild der Beziehungen, die wir da draußen führen, erklärt mir meine Therapeutin. Ich fühle mich ertappt.

Dieses Jahr 2019, in dem ich beginne, Kisten und Schubladen langsam zu öffnen und zu sortieren, ist das Jahr, in dem die Scham nach oben dringt, omnipräsent wird und zu einer enormen sozialen Angst führt. Auch bei dem Öffnen dieser Kisten und Schubladen im Rahmen meiner Therapie hat mich Scham oft behindert. Es ist so, als hätten meine Schamgefühle und ich gegeneinander gearbeitet, weil ich über einen wahnsinnig langen Zeitraum versucht habe, sie nach unten zu drücken.

Sich zu schämen, passt nicht zu mir. Zumindest nicht zu der Version von mir, die ich versuche zu verkörpern, seitdem ich 14 Jahre alt bin. In meinem Abibuch musste der ganze Jahrgang Leute in unzähligen Kategorien nominieren. Neben »Wer ist MP3-Player-süchtig?« und einigen anderen Fragen landete mein Name in der Kategorie »Wer kennt keine Scham?«. Und darauf war ich stolz. Das war mein Anspruch: Immer offen, immer ungezügelt und immer geradeheraus mit Schwächen umgehen, Probleme ansprechen, niemals schweigen. Schon gar nicht beschämt.

Manchmal macht es aber Sinn, genau auf die eigenen Facetten zu schauen, über die man nicht spricht, für die man sich zu sehr schämt, um herauszufinden, wer man eigentlich ist. Manchmal macht es Sinn diese vielen Kisten in den Blick zu nehmen, die wir sorgfältig verschlossen und verschnürt, mit Klebeband zugeklebt und mit einer schweren Eisenkette, inklusive Schloss, versehen haben, damit der Inhalt der Kisten auf keinen Fall nach außen dringt. Die Aufgabe, der man sich in einer Therapie stellt, besteht darin, diese Kisten auszupacken. Stück für Stück. Vorsichtig. Was da zum Vorschein kommt, ist nicht immer angenehm; was ans Tageslicht tritt, ist teilweise sehr gefährlich und vor allem hochexplosiv.

In vielen dieser Kisten stecken weniger konkrete Erinnerungen und Erfahrungen, sondern die Gefühle, die jene Ereignisse hervorgerufen haben. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich habe nicht den Abend aus meinem Gedächtnis verbannt, an dem ein Typ mit mir Schluss gemacht hat, an den Abend erinnere ich mich noch bis ins kleinste Detail. Sondern es sind die Gefühle der Wertlosigkeit, der Unzulänglichkeit, der Enttäuschung, der Trauer, der Wut, der Angst, der Scham, die ich von dem Ereignis abgespalten, aus meiner Erinnerung herausgekürzt und -gestrichen habe, um mich nicht mehr mit ihnen auseinanderzusetzen.

In der Therapie erzähle ich alles ohne ein Wimpernzucken. Ohne sichtbare Gefühlsregung. Von der Ausgrenzung und einer späteren Gewalterfahrung spreche ich, wie von einem Ausflug an den See.

Sie wundert sich. Ich wundere mich nicht, denn es ist das, was ich schon mein Leben lang mache: ganz konkrete Emotionen zurückzuhalten. Weil ich doch ein so rationaler Mensch bin! Mich übermannt doch nichts! Schon gar keine Scham!

In meiner Therapie spüren wir der Geschichte von Gefühlen nach. Meine Therapeutin fragt mich, wann ich zum ersten Mal dieses konkrete Gefühl von Angst hatte, das mein Jahr 2019 so sehr prägt. Das Gefühl, zu viel und nicht genug zu sein. Ich weiß nicht so richtig, was ich darauf antworten soll. Szenen springen in meinen Kopf, zu denen immer Scham gehört. Szenen, in denen mir jemand gesagt, gezeigt, vermittelt hat: So, wie du fühlst, ist es nicht in Ordnung. Ich bestrafe dieses Gefühl jetzt. Du bist mit diesem Gefühl nicht liebenswert.

Ich will versuchen, die Scham innerhalb der ganzen Palette an möglichen Gefühlen zu verorten. Denn sie ist kein Gefühl wie jedes andere: Zunächst ist sie eine »zwischenmenschliche Emotion«30, wie Jens Tiedemann beschreibt. Außerdem gehört sie zu den »Vergleichsaffekten«31, zu denen beispielsweise auch der Neid zählt. Insgesamt verhält sie sich aber zu einigen Affekten nicht trennscharf und hat besonders enge Verbindungen zur Schuld und zur Angst. Bei einigen psychischen Erkrankungen ist sie der Leitaffekt (dazu später mehr), wobei Scham oft auch hinter »Deckaffekten«32 verschwindet: Wenn wir beispielsweise versuchen, Scham durch Lachen oder die Zurschaustellung von Stolz zu verbergen. Tiedemann verweist auch auf die schamtypischen körperlichen Reaktionen wie Erröten, Verbergen des Gesichts oder schambehafteter Körperteile, ein schamspezifisches Grinsen oder Lachen oder eine Veränderung der Stimmlage.33 Dass die Entstehung von Scham abhängig von sozialen Faktoren, wie unserem Umfeld, unserer Herkunft und Erziehung ist, wissen wir. Aber welch starken Einfluss gesellschaftliche Faktoren auf unsere Schamgefühle haben, darum wird es in den folgenden Kapiteln gehen. Lass mich auf zwei Emotionen eingehen, die in unserer Gesellschaft unter bestimmten Umständen stigmatisiert werden und die unter anderem aufgrund dessen auch für mich ziemlich schambehaftet waren und sind.

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