Read the book: «About Shame», page 3

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Gehen wir noch mal kurz zurück zu Sartre, der schreibt, dass für Scham eine irgendwie geartete negative Beurteilung notwendig ist. Entweder sie wird uns von außen direkt kommuniziert oder aber wir wissen, dass wir garantiert negativ beurteilt werden, würde uns jemand sehen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass wir selbst uns negativ bewerten – dass unsere eigene Bewertung immer abhängig davon ist, was wir bisher gelernt und mitbekommen haben, ist klar. Wie wir mit diesen negativen Beurteilungen oder auch nur ihren Annahmen umgehen, bestimmt mit, wie wir Erfahrungen verarbeiten. Und das wiederum hängt auch von unserer individuellen Psyche ab: Theoretisch wäre es denkbar, Ausgrenzung hinzunehmen, ohne am eigenen Selbstwert zu zweifeln. Dann würde Scham vermutlich nur begrenzt oder gar nicht auftreten. Das ist aber vor allem natürlich im späteren Kindesalter und in der Jugend nur sehr schwer möglich. Ich für meinen Teil weiß, dass ich die Ausgrenzung der anderen stark auf mich bezogen habe und auf die Frage danach, was ich eigentlich wert bin. Zu wenig, schließe ich aus ihrem Verhalten mir gegenüber. Und weil ich glaube, dass es nicht eine konkrete Verhaltensweise an mir ist, die man nicht mag, oder ein Charakterzug, den ich an mir habe, sondern mein gesamtes Selbst, kommt Scham über mich. Sie ist – wie wir bereits wissen – das Gefühl, das auftritt, wenn du nicht eine Sache falsch machst, sondern insgesamt und komplett, als Ganzes falsch bist.

Cut. Anmerkung zu dem, was ich bisher geschrieben habe: Meinem Schreibprozess sehe ich den Schmerz an. Meine Therapeutin fragt mich, wie ich so nüchtern über alles sprechen kann, was damals war. So als hätte ich bereits mit allem abgeschlossen, mich damit arrangiert, dass die Umstände suboptimal waren, besser hätten sein können.

Und im Schreiben wird deutlich, was eigentlich tief sitzt. Ich schlucke immer wieder, muss ständig Pausen machen, lenke mich ab, schließe das Dokument, öffne es wieder, gehe laufen, litere Tee und Kaffee in mich hinein, um den Hunger nach dem zu stillen, was aufkommt, wenn ich über diese Vergangenheit nachdenke. Um das Loch zu schließen, das die Scham in meinen Körper gefressen hat. Wenn ich laufe, laufe ich weg von meiner Erinnerung. Und gleichzeitig hin zu einem Umgang mit ihr, der weniger schmerzhaft, aber dafür vermeidend-abwehrend ist.

Wenn es zu hart ist, rufe ich eine Freundin an, die weiß, womit ich damals gekämpft habe. Spreche darüber, um nicht darüber schreiben zu müssen. Spreche, weil ich vor ihr nicht mehr erklären muss, sondern reden kann. Die Erklärung ist das Problem. Die Darstellung bis zur vollkommenen Nachvollziehbarkeit entzieht sich mir. Ich kann nicht lange am Stück hieran schreiben. Auch weil es viel Anstrengung kostet, sich an alles zu erinnern. Denn mein Gedächtnis hat beschlossen, das, was damals war, hinter einen sehr schweren Vorhang zu packen. Es weigert sich, ihn zu lüften. Wäre es nicht besser, die Scham begraben zu lassen, im Vertrauen darauf, dass mein Bewusstsein ganz genau weiß, womit es umgehen kann und womit nicht?

Andererseits: Ich trage Verantwortung. Gegenüber dem Mädchen, das damals so verzweifelt nach Antworten gesucht hat. Eine Verantwortung zur Beantwortung ihrer Fragen. Es hat all das durchgestanden und hatte nicht den Schutz, den die Vergangenheitsform als Abwesenheit beinhaltet. Es hatte keinen ermutigenden Blick in die Zukunft und die Gewissheit, dass es eine geben wird. Es hatte nur sich und seinen naiven Blick auf die Welt.

Dritte Klasse. Die beiden ersten furchtbaren Jahre sind vergangen und immer noch habe ich die Message nicht verstanden: »Du gehörst nicht hierher. Weil du nicht so bist wie wir.« An der Stelle ein Lob der Naivität: Sie ist mehr als nur ein Mittel zur Verschleierung von Offensichtlichem. Sie ist eine Überlebensstrategie. Sie ist ein Schutzmechanismus.

In der vierten Klasse beschließe ich, dass die Zugehörigkeitsfragen endgültig geklärt werden müssen. Und dass ich diejenige bin, die zu entscheiden hat, wer zu wem gehört. Ich bilde Fronten, wiederhole das, was ich von den anderen schon kenne. Ich suche mir die Leute aus, die um mich sein sollen, und ich binde sie an mich, indem ich ihnen das Gefühl gebe, sie zu verstehen, als Einzige. Ich gebe ihnen das Gefühl von Exklusivität, weil ich verstanden habe, dass viele Menschen genau das suchen. Ich mache mir die Gruppendynamik unbewusst zunutze, die mir die ersten beiden Jahre meiner Schulzeit so zugesetzt hat. Ich bestimme das Innen, das Außen und die Grenze. Beschämen, um nicht beschämt zu werden. Die Scham abwehren, von der eigenen Scham ablenken, indem man sie anderswo produziert. Es bilden sich zwei Gruppen unter den Mädchen der Klasse, maßgeblich vorangetrieben durch mich. Kinder, die sich vorher den Heimweg geteilt haben, gehen nun getrennte Wege, weil sie nicht in derselben Gruppe sind. Wir versuchen die Willkür hinter der Gruppenbildung zu verbergen und tun so, als gäbe es wirklich Eigenschaften, die die Mitglieder der einen Gruppe gravierend von der anderen unterscheiden.

Unser mit aller Mühe inszenierter »Bandenkrieg« dauert vielleicht ein paar Wochen und findet jäh sein Ende, als meine Klassenleitung uns alle zu einem klärenden Gespräch vor die Klassenzimmertür ruft. Ein Junge aus meiner Klasse hatte ihr gesagt, dass sich die Mädchen der Klasse in Cliquen aufgeteilt haben, einander ignorieren und ausschließen. Diese Erfahrung ist für mich die erste und einzige, bei der ich mich aktiv an Ausgrenzungsprozessen beteilige. Mein Versuch, mich zur Wehr zu setzen gegen Menschen, die mir zuvor das Gefühl gegeben hatten, nicht dazugehören zu können.

Die beiden Cliquen vertragen sich noch am selben Tag und ich gehe wieder mit meiner Nachbarin nach Hause. Über diese ganze Bandensache verlieren wir nie wieder ein Wort. Die eigens ausgedachten Geheimschriften, das inszenierte Selbstverständnis und diese kleinen Objekte, die die Zugehörigkeiten festlegen sollten, verschwinden in einer Kiste, die wiederum irgendwann im Müll landet. Eigentlich faszinierend, wie wenig nachtragend Kinder manchmal sind. Und wie willkürlich ihre Grenzziehung funktioniert, fast schon banal. Trotzdem ist sie nicht folgenlos, sie macht etwas mit denen, die ins Abseits verfrachtet werden. Jahre später schreibe ich in ein Notizbuch, dass man eine Person dann kontrolliert, wenn man ihre Scham kontrolliert.

Fast wünsche ich mir, es hätte weiterhin genügt, das coolere Pausenbrot dabeizuhaben. Oder sich mittels einer Geheimsprache zu verständigen, in der man sich doch letztendlich nichts zu sagen hat; die man nur verwendet, um Zugehörigkeit zur Schau zu stellen.

Aber aus der Geheimsprache wird Alltagssprache. Und aus den kleinen Objekten werden körperliche Merkmale, Verhaltensweisen, Besitztümer, Markenklamotten, Statussymbole. Über all diese Dinge verhandeln wir tagtäglich Zugehörigkeit. Für all diese Dinge bekommen wir Anerkennung – oder eben nicht.

Die jüngere Version meines Selbst kommt ins Gymnasium. In der fünften und sechsten Klasse denke ich nicht über Zugehörigkeiten nach. In diesem Zeitraum schäme ich mich nicht, weil mich meine Naivität weiterhin schützt. In dieser Zeit bemerke ich vielleicht erneut, dass ich anders bin, aber ich hadere deshalb nicht mit mir selbst und wünsche mir auch nicht, eine andere zu sein.

Am ersten Schultag im Gymnasium bin ich eines der wenigen Mädchen, die sich absichtlich neben eine Unbekannte setzen. Ich nehme mir vor, direkt neue Freundinnen finden zu wollen, Kontakte zu knüpfen, mich nicht nur mit den Mädchen zu umgeben, die ich sowieso schon aus meiner Grundschule, meinem Ort kenne.

Und es funktioniert. Ich finde Freundinnen. Ich finde sogar Freundinnen, die mich am liebsten für sich allein hätten. Ich halte mich an die Mädchen, die mich als ihre »beste Freundin« bezeichnen. Sie schützen mich vor Scham, indem sie mir Zugehörigkeit signalisieren. Ich werde für kurze Zeit eines dieser Mädchen vom Typ »Doppelpack«.

Den Ausdruck nehme ich wörtlich: Eine »beste Freundin« zu sein heißt, die Beste in etwas zu sein, perfekt, unfehlbar. Es heißt, dass Menschen zufrieden mit mir sind, mich gerne bei sich haben. Man wird gemocht. Man passt.

Eine »beste Freundin« ist auch diejenige, die verlässlich ist und Verantwortung trägt. Spannenderweise sucht sie sich ihre Position nicht aus: Die Rolle der »besten Freundin« ist ein Zuschreibungsphänomen. Und diese Rolle kann sie nicht verneinen ohne einen Konflikt, Streit oder den Bruch der Beziehung heraufzubeschwören. Ich war nie die Richtige für ein Doppelpack – so sehr ich sie sein wollte.

Scham ist also anerzogen, für jüngere Kinder ist sie unbekannt. Man könnte sich nun zurücksehnen zu dieser »Zeit der Schamlosigkeit«, um es mal so pathetisch auszudrücken. In dieser Zeit sind sie aber nur vermeintlich unschuldig: Genau aufgrund ihrer Schamlosigkeit sind Kinder so grausam. Die Scham, die auf meiner Seite vorhanden war, ist die Scham, die andere leider nicht hatten.

Scham ist nicht nur ein Gefühl, eine ganz individuelle Emotion. Es ist auch ein Macht- und Herrschaftsphänomen, ein soziales Phänomen, eine Sache, die nur im Austausch und in der Interaktion funktioniert: »Ein Individuum zur Scham zu veranlassen, heißt, Macht auf es auszuüben: Beschämungen erlauben Machtgewinn. Sich selbst zur Scham zu bewegen, heißt, sich seiner selbst zu bemächtigen. Scham ist Selbstzwang.«18 Ich begebe mich hier auf eine neue Ebene in der Auseinandersetzung: die von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Diese Ebene zu analysieren, ist nicht einfach. Man denkt oft, dass Macht einfach von außen auf eine*n wirkt, dass man sie immer unmittelbar sehen und spüren kann. Aber die Scham ist ein ganz gutes Beispiel dafür, dass es nicht immer so sein muss.

Jemanden beschämen zu können, zeugt oft von einer Macht, an der die beschämte Person sich »beteiligt«, wenn auch unter anderen Vorzeichen: »Beschämen kann uns nur, wessen Anerkennung wir überhaupt Bedeutung zuschreiben. Und umgekehrt gilt: Sobald wir einem Menschen unsere Anerkennung entziehen, sobald wir einer Person absprechen, anerkennenswert zu sein, verliert diese damit die Macht, uns zu beschämen«,19 schreibt Rita Werden. Macht baut auf wechselseitiger Anerkennung20 auf, also darauf, dass ich die anderen Kinder anerkenne als Personen, die mich beschämen können und damit Macht auf mich ausüben. Dann haben die Mädchen die Möglichkeit, mich nicht anzuerkennen und dadurch Scham in mir hervorzurufen.

Wir machen einen Zeitsprung in das Jahr 2009, in dem ich in der siebten Klasse bin. Ein Jahr, in dem ich, ausgelöst durch den Tod meiner Oma, etwas bekommen habe, was man Jugenddepression nennt. Und wenn eine depressive Phase zu Ende geht, dann fühlt es sich manchmal ein bisschen so an, als wäre man stehen geblieben. Alle Entwicklungen, die andere in der Zeit gemacht haben, sind einfach an einem*r vorbeigezogen und man fühlt, dass man im Vergleich zur Peergroup woanders steht.

Im Sommer will ich etwas, das Stephen Chbosky »teilnehmen« nennt, und dieser Begriff könnte nicht perfekter passen. Es geht nach einer Depression, nach einer Psychose und im Übrigen auch sonst im Leben sehr oft darum, (wieder) am Leben teilzunehmen. Ohne Chbosky damals gelesen zu haben, versuche ich dasselbe. Aber für die Teilnahme braucht es zwei Dinge: erstens etwas, woran man teilnimmt, und zweitens ein Umfeld, das eine*n teilnehmen lässt. Das Erste ist relativ leicht zu bekommen, weil es immer schon da ist. Egal, an was, an irgendetwas kann man immer teilnehmen. Aber das Zweite ist wesentlich schwerer zu organisieren.

Mir fällt auf, dass ich mich schon wieder darum herumwinde, diese Geschichte zu erzählen. Ich will aufstehen, meinen Tee austrinken und den Raum verlassen. Weil es wehtut, mich an Folgendes zu erinnern:

In meinem Umfeld gibt es einige Mädchen, die mit mir zum Handball gehen. Und schon hier weigert sich alles in mir »Wir« zu schreiben, denn dieses »Wir« gab es nie. Es gibt ein »Ich« und ein »die Anderen«. Diese Trennung hat nicht nur damit zu tun, dass ich in meinem 13. Lebensjahr eben ausschließlich physisch anwesend war, ständig über den Tod nachgedacht und mich nicht an Entwicklungsprozessen beteiligt habe. Dass ich die erste Bravo nicht mit den anderen gelesen habe. Sondern auch damit, dass die Mädchen es so wollten.

Im Handballtraining sehe ich diese Mädchen ständig und sie haben etwas, um was ich sie damals beneide: zum einen eine Unbeschwertheit, die fremd ist, sobald man auch nur einmal depressiv war. Zum anderen Zusammenhalt, der bei jeder Einzelnen für ein Gefühl von gesunder Zugehörigkeit führt. Und diese Zugehörigkeit ist es, die ich will. Dafür brauche ich die Anerkennung der Mädchen.

Zugehörigkeit erwirken die meisten Menschen mithilfe der Konstruktion von Ähnlichkeit. Wenn ich zu jemandem gehören will, versuche ich ein »Wir-Gefühl« zu erschaffen, Verbindungslinien zu ziehen und mich darauf zu berufen, dass es etwas gibt, in dem wir zueinander passen, zueinander gehören. Scham tritt dort auf, wo Menschen die Rolle des »Anderen« einnehmen müssen. Wo sie keine Wahl haben, dazuzugehören oder nicht. Wo Menschen, Verhältnisse und Normen ein Abseits bestimmen, in das man gezwungen wird.

Zugehörigkeit muss nicht unbedingt verbal verweigert werden. Es gibt subtilere Mittel, einer Person Anerkennung und Zugehörigkeit zu entziehen und sich dadurch der Situation zu bemächtigen: Wie man auf Wortbeiträge von einer Person reagiert, wie man sie ins Gespräch mit einbezieht. Wie man in einer Gruppe zusammensteht. Wird jemand konsequent abgedrängt? Wird jemand durchgehend ignoriert? Bekommt er*sie nur dann Aufmerksamkeit, wenn seine*ihre Worte belächelt werden sollen?

Nur schwer lässt sich rekonstruieren, wie diese Ausgrenzung damals funktioniert. Das alles ist begraben unter 100 anderen Erinnerungen, 200 Versprechungen, das niemals an die Oberfläche dringen zu lassen, und 300 Versuchen die Situation zu beschönigen, sie anders abzuspeichern. Aber die Scham ist erbarmungslos, weiß Ernaux, weiß ich, weißt du, und sie lässt die schlimmsten Erinnerungen glasklar aufblitzen.

Ich sage etwas und werde ausgelacht. Was ich sage, ist eigentlich egal; es geht darum, dass ich es bin, die spricht. Oder dass ich es bin, die etwas macht oder sich verhält oder auch nur etwas (an sich) hat. Diese Mädchen lachen und grenzen mich für das aus, was ich bin. Ich werde wegen vollkommen willkürlicher Sachen ausgelacht: meiner Gangart beispielsweise. Eines dieser Dinge, die nur im Leben von Kindern so eine große Rolle spielen können. Meine Gangart ist für die Mädchen ein ganz großes Thema, weil ich federnd gehe. Mehr nicht. Es ist einfach nur die Art und Weise, wie ich meinen Fuß beim Auftreten abrolle und dass ich manchmal ein wenig auf Zehenspitzen gehe. Absurd, oder?

Natürlich ging es nie wirklich um die Gangart. Sie ist einfach nur irgendein Merkmal, das sich die Mädchen gesucht haben, um ihre Abneigung an mir auslassen zu können. Und ich? Denke, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der so geht. Dabei treffe ich tagtäglich Menschen, die so laufen. Ich weiß nicht, ob die alle dafür ausgelacht wurden, aber ich hoffe nicht.

Wenn es nicht meine Gangart ist, über die sie sich lustig machen, sind es meine Klamotten: Ich trage ganz selbstverständlich die alte, aber noch – phänomenaler Ausdruck von Mama – »pfenniggute« Kleidung meiner Schwestern. Meine Mutter lebt in der festen Überzeugung, dass die anderen Kinder ihre Tochter mögen, egal was sie trägt; dass ich außerdem im Zweifel genügend Durchsetzungsfähigkeit besitzen würde. Ich erzähle ihr nie, wie die anderen Kinder zu mir sind. Und wenn es nicht meine Klamotten sind, ist es das, was ich denke und ausspreche, weil ich in so vielerlei Hinsicht eine andere Vorstellung vom Leben habe als sie. Ich weiß vieles noch nicht, was für sie bereits Thema ist, vielleicht sogar ihr Lebensmittelpunkt. Ich komme immerhin frisch aus einer Depression, was weder sie wissen noch ich.

Norbert Elias und John L. Scotson widmen sich in ihrer Untersuchung Etablierte und Außenseiter unter anderem der Rolle von Klatsch innerhalb eines Dorfes. Dabei bemerken sie: »Er hatte zugleich die Funktion, Menschen auszuschließen und Beziehungen zu trennen. Er konnte als ein überaus wirksames Instrument der Ablehnung dienen. Wenn beispielsweise ein Zuzügler als ›nicht so nett‹ empfunden wurde, brachte man in den Klatschkanälen – oft sehr tendenziös gefärbte – Geschichten über Normverstöße in Umlauf«21 mit dem Ziel, die Betroffenen zu beschämen, zu demütigen und dabei gleichzeitig Normen zu manifestieren, aber auch die eigenen Machtansprüche zu konservieren; die eigene Überlegenheit zur Schau zu stellen und abzusichern.22 Der Inhalt des Gesagten ist keine Nebensache: Mit der Betonung von Normverstößen soll die Ablehnung auch vor anderen gerechtfertigt werden können.

Wo liegt der Fehler? Das kommt darauf an, wie man soziale Interaktion versteht. Aber ein Erklärungsansatz besteht darin zu sagen: Der Fehler ist, dass ich dennoch versuche mich für sie als Personen zu interessieren. Dass ich dennoch Begeisterung zeige für das, was sie lieben.

Die Machtverhältnisse sind in meinem Fall asymmetrisch: Ich habe keine Möglichkeit, mich zu behaupten, gleichzeitig gebe ich den anderen Mädchen die Macht, mir Wertschätzung zu verweigern. Mal außen vor gelassen, dass diese Ausgrenzung durch nichts zu rechtfertigen und nicht legitim ist, hätte ich mich früher dazu entscheiden können, ihnen diese Möglichkeit zu entziehen. Dann hätten sie mich nicht mehr beschämen können – zumindest in der Theorie.

Keine Erklärung für das Verhalten der Mädchen zu haben, nagt noch immer an mir. Ich lese Artikel, in denen Leute sich als Mobber outen,23 um es vielleicht doch zu verstehen. Aber immer und immer wieder komme ich nur darauf, dass ich nichts dafür konnte. Nachträglich kann ich nur versuchen, meine Schlüsse daraus zu ziehen oder zu untersuchen, was ich aus der Situation gemacht habe. Ich weiß, dass ich mit dieser Erfahrung eine Art Urvertrauen in die Welt verloren habe: nämlich das Vertrauen hinausgehen zu können und von anderen erst mal nichts Böses erwarten zu müssen. Das sorgt dafür, dass ich hin und wieder Maßnahmen des Selbstschutzes ergreife, die auf andere übertrieben wirken. Manchmal erscheine ich Unbekannten gegenüber abgeklärt, nüchtern, vielleicht kalt. Freundinnen nennen es »unabhängig«, aber auch »unnahbar« und beschreiben damit das, was ich als grenzenloses Bedürfnis nach Selbstständigkeit empfinde. Bloß nichts auf die Meinung anderer über mich geben, denn sie wird nie positiv sein – und auch wenn ich seitdem unzählige Male das Gegenteil erfahren habe, nämlich, dass mich mein Umfeld wertschätzt, gernhat, mich anerkennt, bleibt die Angst vor Wiederholung.

Die subtilen Angriffe der Mädchen treffen mich hart, auch weil sie immer kollektiv agieren. Jeden Tag wird alles destruiert, was ich denke. Jeden Tag wird viel Zeit darauf verwendet, mir das Gefühl zu geben: Mit dir stimmt was nicht.

Und jeden Tag versuche ich, noch besser zu passen. Noch weniger anzuecken. Noch vorsichtiger zu formulieren, um Angriffsflächen zu minimieren. Noch mehr das zu wiederholen, was diese Mädchen sagen. Noch mehr zu sein wie sie. Das wenige Taschengeld, das ich habe, ausschließlich in Klamotten zu investieren, die mir eigentlich gar nicht gefallen. Aber ich habe keinen Geschmack, deshalb ist das egal. Mein Geschmack ist deren Geschmack. Irgendwann schweige ich einfach nur noch.

Das verstärkt ihre Wut auf mich. Das Bedürfnis, sich von mir abzugrenzen. Ich, der Schwamm, den man ausdrückt. Um mich ungeschehen zu machen. Ich, das Chamäleon, das nicht ohne Umwelt funktioniert. Das ohne Umfeld in der Identitätslosigkeit verloren geht.

Sie hassen mich nicht. Sie verachten nur, was ich bin. Sie wollen auf keinen Fall in Verbindung mit mir gebracht werden. Was tut man, um zu verhindern, dass irgendjemand eine Verbindung zwischen sich und jemandem zieht, mit dem man nicht verbunden sein will?

Man macht die Person lächerlich. Möglichst schmerzhaft. Man stellt sich über sie, indem man sie beschämt. Jemanden zu beschämen, bedeutet auch, ihn zu unterwerfen. Wie gesagt: Scham ist auch ein Machtphänomen, um jemandem zu zeigen: Wir werden nie auf einer Wellenlänge sein. Du wirst nie zu mir gehören und ich erst recht nicht zu dir. Wenn die Person diese Intention nicht versteht, ignoriert man sie. Wie man es eben mit Leuten macht, die man unter sich sieht. Die keine Macht über dich haben und deine Anerkennung nicht verdienen.

So sind diese Mädchen. Sie tun manchmal einfach so, als würden sie mich nicht hören, als wäre ich nicht da. Und wenn ich doch da bin, ist klar: »Eigentlich ist sie fehl am Platz, denn sie gehört nicht zu uns. Sie nicht.« Du. Bist. Niemand.

Ich lerne: »Du bist kein Mensch wie sie. Du bist nicht wertvoll, liebenswert und wichtig. Du verdienst keine Aufmerksamkeit. Du verdienst Ignoranz und Abweisung, weil du ein defizitärer Makel bist. Du bist die Person, die man nicht in der Mannschaft haben will. Alles, was du tust, wird uncool und falsch dadurch, dass du es tust. Dadurch, dass du es verkörperst.«

Das Schlimme daran ist, dass du jetzt um dein Anderssein weißt. Weil es dir unmissverständlich, wieder und wieder, klargemacht wurde. Bis heute scanne ich jede Situation ab, in der ich mich befinde, um jederzeit sicherzustellen, dass mich niemand ausgrenzt.

2019: Meine Therapeutin bezeichnet das, was mir passiert ist, als »Mobbing«. Ich spreche über dieselbe Sache immer nur als »das, was diese Mädchen damals gemacht haben«. Ich weigere mich zuerst, von Mobbing zu sprechen. Man hört wenig von Mobbing, obwohl man weiß, welche Rolle es in Schulen, in der Arbeit, nahezu überall spielt. Eigentlich seltsam, oder? Aber zuzugeben, dass man Opfer davon geworden ist, ist schwierig. Das können die wenigsten, weil es oft so undurchschaubar ist. Mobbing in die eigene Geschichte zu integrieren – wie soll das gehen? Meist kann man sich den Grund dafür nie erklären, weil es eigentlich keinen gibt. Und ohne Grund wird das Erzählen schwierig. Du kannst nur Ereignisse wiedergeben, ohne den nötigen Kontext.

Gleichzeitig kenne ich die Geschichten von Mobbing und finde meine Erfahrungen »zu wenig schlimm«, um sie mit den Erlebnissen anderer auf eine Stufe zu stellen. Der Begriff des Mobbings wird sehr unterschiedlich verwendet, wenngleich er in den allermeisten Fällen eben schmerzhafte Erfahrungen der Ausgrenzung beschreibt. Und in der Ausgrenzung steckt etwas, das ich wichtig finde: Es geht um Gruppendynamiken: »Beschämungen […] sind soziale Techniken, um eigene Vorteile gegenüber fremden Ansprüchen konservieren zu können, um abweichende Lebensformen oder Eigenschaften als minderwertig zu klassifizieren, um die eigene Macht in der Interaktion mit Dritten zu erhöhen.«24 Das Innen der Gruppe kann nicht ohne das Außen. Und damit die Statusansprüche der Gruppe erhalten bleiben, damit jene Macht nicht infrage steht, muss klar sein, dass das Außen minderwertig ist.

Im Begriff des »Mobbings« steckt dein Opferstatus immer schon mit drin. Opfer werden gemobbt. Mobbing transportiert die Demütigung, die du erfahren hast, die Gewalt der Gruppe, den Mob, der dich schikaniert, deine Unterlegenheit gegenüber den anderen, die in der Mehrzahl sind. Es bedeutet, dass dich nicht nur eine Person nicht mag, sondern viele. Dass dein Existenzrecht von mehreren Menschen infrage gestellt wird. Dass du für viele ein Niemand bist. Dass du Opfer eines Kollektivs geworden bist.

Solche Erfahrungen im Kindesalter und in der Jugend werden oft bagatellisiert – es »gehöre dazu«, mache jemanden »stärker« oder »widerstandsfähiger«, und: »So sind Kinder nun einmal«. Michael Schulte-Markwort betont, dass es für Kinder keinen Grund gebe andere zu quälen, wenn sie psychisch ausgeglichen wären und keine eigenen Leiderfahrungen zu verarbeiten hätten.25 Zugleich sind die Folgen für die Betroffenen massiv. Suizidgedanken oder Tabletten- und Alkoholmissbrauch sind nur wenige der möglichen Konsequenzen, die sich im unmittelbaren Verhalten, aber auch im späteren Leben durch psychische Erkrankungen äußern können.26

Ich will kein passives Opfer gewesen sein. Ich sage »Ausgrenzung«, um die Grenze endlich mal zu wahren. Um klarzumachen, dass sie die Grenze gezogen haben, die mich von ihnen isoliert hat. Vielleicht ist das mein heutiger Versuch, so zu tun, als hätte ich noch körperliche und geistige Integrität besessen, obwohl ich genau das war, zu dem sie mich gemacht hatten: ein Opfer. Ein wehrloses, machtloses Opfer. Das sich angebiedert hat und passen wollte, in das enge Korsett jugendlicher und weiblicher Identität, das mich vor einer Art der Gewalt geschützt hätte, während es andere Gewalt befördert.

Wenn eines der Mädchen aus dem Handballverein und ich zu zweit sind, verhält es sich mir gegenüber freundlich. Wir lachen gemeinsam, wir unterhalten uns viel, es wirkt so, als wären wir Freundinnen. Ich verstehe nicht, dass wir nur Freundinnen sind, wenn uns dabei niemand sieht. Sie lädt mich zu den Treffen mit den anderen Mädchen ein, abseits des Trainings. Sie verabreden sich regelmäßig und laden mich in ihre Welt ein. In ihre Welt, in der Mädchenfreundinnenschaften, ja sogar Mädchengangs existieren, in der sogar Jungs vorkommen. Und ich soll plötzlich Teil davon sein dürfen.

Aber ich weiß um meinen bisherigen Platz, meinen bisherigen Status, daher frage ich mehrmals nach. Ich erinnere mich noch an diese Fragen: »Ist es sicher in Ordnung, wenn ich mitkomme?«, »Wollt ihr wirklich, dass ich Freitagnachmittag dabei bin?« Immer und immer wieder frage ich, weil ich nicht glauben kann, dass diese Mädchen Zeit mit mir verbringen wollen. Vielleicht ist genau das der Fehler? Schon im Vorhinein zu kommunizieren, dass man sich nicht zugehörig fühlt, dass man auf die Erlaubnis einzutreten wartet?

Mein Bauchgefühl warnt mich, aber ich ignoriere es. Vielleicht warnt es mich auch, weil diese Mädchen bereits junge Frauen sind, während ich mich fühle wie ein Kind. Ich weiß doch um die Situationen im Training, bei denen ich dieses eindringliche Gefühl habe, unerwünscht zu sein.

Kurz vor den Sommerferien im Jahr 2009 komme ich mit zu einem der Freitagnachmittag-Events. Es stellt sich heraus, dass man dabei eigentlich nichts macht, außer Insider auszutauschen. Diese unangenehme »Abseits«-Position, in der ich mich in meinem Leben häufig wähne, fühlt sich immer wieder so an, wie jener Nachmittag. Auf der einen Seite die Mädchen, die Späße machen, absolut sicher in ihrer Zugehörigkeit. Und ich, allein, auf der anderen Seite. Ignoriert, abgehängt, ausgegrenzt. An diesem Nachmittag werden alle Zeug*innen davon, dass ich anders bin. In den ersten Minuten versuche ich noch teilzuhaben, merke aber relativ schnell: Hier ist kein Platz für mich. Obwohl alles, was ich will, ist, zu dieser Gruppe zu gehören.

Manchmal kommt dieses Bild wieder, wie ich auf der Mauer sitze und den anderen zusehe. Wenn ich heute mit anderen unterwegs bin, versuche ich immer noch, dieses Bild nicht abzugeben. Weil ich panische Angst davor habe, diese Scham wieder fühlen zu müssen. Laufe ich heute eine Straße mit Freund*innen entlang, gehe ich ungern außen, aus genau diesem Grund. Es sind diese winzigen Details und ich bin mir unsicher, ob sie in den Köpfen anderer eine genauso große Rolle spielen wie in meinem. Aber ich denke genau solche Kleinigkeiten immer mit.

Mit einem der Mädchen teile ich mir meinen Heimweg. Es ermutigt mich aus einem mir absolut unerfindlichen Grund, Anfang der Sommerferien mit in ein Trainingslager zu fahren, bei dem ich noch nie dabei war. Ich lasse es geschehen. Fahre mit. Weil mich vielleicht ein Restglaube oder ein kleines Stück Hoffnung dazu bewegt und ich denke: »Vielleicht nach diesem Trainingslager. Danach, bestimmt werden sie dich danach akzeptieren.«

Wenn ich heute Menschen frage, wann Scham sie gerettet hat, denke ich an diese Situation. Scham war damals sicherlich in mir vorhanden. Vielleicht habe ich sie zu der Zeit verdrängt oder einfach nicht auf sie gehört. Gesetzt den Fall, ich hätte ihr Raum gegeben: Hätte mich das gerettet? Hätte die Scham dafür gesorgt, dass ich den Mädchen nicht glaube, als sie sagen, dass sie mich dabeihaben wollen? Hätte mich meine Scham vor der Ausgrenzung bewahrt, weil sie mich zur Flucht getrieben hätte? Oder hätte sie mich doch nur realisieren lassen, was passieren könnte, ohne dass ich handlungsfähig gewesen wäre? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Scham egal ist, ob ihre Ursachen oder Auslöser »moralisch legitim« oder »rational nachvollziehbar« sind. Scham entsteht mitunter dann, wenn dir jemand das Gefühl gibt, dich schämen zu müssen. Und das konnten die Mädchen gut.

Ich weiß nicht mehr, wie die Busfahrt ins Trainingslager war. Die Erinnerung setzt aus. In meiner Therapie soll ich Bilder zeichnen von den Situationen, an die ich mich noch erinnere. Es sind wenige. Aber ich spreche in der Therapie über die Todesangst, die ich damals habe. Ich habe Angst, zurückgelassen zu werden. Zu sterben, an dem abgelegenen Ort, an dem die anderen Kinder und ich die Tage verbringen.

Es ist schwierig, dieses Gefühl zu beschreiben, das so intensiv ist und das viele nicht nachvollziehen können: Wieso fühle ich Todesangst, wenn ich doch umgeben bin von einem Haufen Leute, die mich zwar ignorieren, die doch aber keinesfalls böswillig genug wären, um mich sterben zu lassen?

Damals weiß ich das nicht. Ich träume von meinem Tod, weil ich denke, die anderen hassen mich genug, um mich allein zurückzulassen. Ich kann damals nicht einschätzen, was die anderen tatsächlich denken. Ich fühle nur ihre Ablehnung und ihr Bedürfnis nach Abgrenzung von mir. Was ich wahrnehme, ist das Alleinsein, die Einsamkeit. Und die Angst, die ich in manchen Trainingseinheiten auch vor den Betreuern habe. Vielleicht wollen auch sie mich loswerden? Mittlerweile bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich einen Lebenswert habe und ob andere der Ansicht sind, dass ich es verdienen würde, am Leben zu sein.

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