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Unsichtbare Bande: Erzählungen

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Aber Edith, die sich nicht vom Fleck rühren konnte, die machtlos dalag und sterben sollte, sie, die so viel Zeit zu denken hatte, womit beschäftigte sie sich wohl? Welche Gedanken wälzte sie Tag und Nacht in ihrem Hirn? Oh, Peter Nord, Peter Nord! Mußte sie nicht stets den Mann vor sich sehen, der sie liebte, der nahe daran war, um ihretwillen den Verstand zu verlieren, der wirklich, wirklich oben auf dem Kirchhof einherging und auf ihren Sarg wartete.

Sieh da, das war etwas für die Stahlfedernatur in ihr. Das war etwas für die Phantasie, etwas für entschlummernde Gefühle. Sich vorzustellen, was er anfangen würde, wenn sie hinaufkam! Sich auszumalen, was er beginnen würde, wenn sie nicht als Tote hinkam.

Sie sprachen davon in der ganzen Stadt, sprachen davon und von nichts anderm. So wie die alten Städte ihre Säulenheiligen geliebt hatten, so liebte das Städtchen den armen Peter Nord. Doch niemand ging gerne auf den Kirchhof, um mit ihm zu sprechen. Er sah immer wilder und wilder aus. Immer dichter senkte sich die Dunkelheit des Wahnsinns auf ihn herab. „Warum beeilt sie sich nicht, gesund zu werden,“ sagten sie von Edith. „Es wäre unrecht von ihr, zu sterben.“

Edith fühlte beinahe Zorn. Sie, die so fertig mit dem Leben war, sollte nun wieder die schwere Bürde auf sich nehmen müssen? Aber auf jeden Fall begann sie sich redlich zu mühen. In ihrem Körper wurde in diesen Wochen mit fieberhafter Kraft ausgebessert und instandgesetzt. Und es wurde nicht an Material gespart. In ungeheuren Massen wurde alles verbraucht, was Lebenskraft gibt, wie es auch heißen mochte: Malzextrakt oder Lebertran, frische Luft oder Sonnenschein, Träume oder Liebe.

Und was für herrliche Tage waren dies doch, lang, warm, regenlos!

Endlich erlaubte ihr der Arzt, sich hinauftragen zu lassen. Die ganze Stadt war in Angst, als sie den Weg antrat. Würde sie mit einem Wahnsinnigen zurückkommen? Konnten diese Wochen des Elends aus seinem Hirn ausgetilgt werden? Würde die Anstrengung, die sie gemacht hatte, um wieder zu leben, fruchtlos sein? Und wenn, wie würde es dann ihr selbst ergehen?

Wie sie dahinzog, blaß vor Spannung, aber doch voll Hoffnung, gab es Anlaß zur Unruhe genug. Niemand verhehlte sich, daß Peter Nord einen zu großen Raum in ihrer Phantasie eingenommen hatte. Sie war die Allereifrigste in der Anbetung dieses wunderlichen Heiligen. Alle Schranken waren für sie gefallen, als sie hörte, was er um ihretwillen litt. Doch was sollte aus ihrer Schwärmerei werden, wenn sie ihn wirklich sah? An einem Wahnsinnigen ist nichts Romantisches.

Als man sie bis an das Friedhofspförtchen getragen hatte, verließ sie die Träger und ging allein über den breiten Mittelgang. Ihre Blicke wanderten rund um den grünenden Platz, aber sie sah niemanden.

Plötzlich hörte sie ein leises Rascheln im Tannendickicht, und von dort sah sie ein wildes, verzerrtes Gesicht starren. Nie hatte sie ein Antlitz gesehen, das so deutlich den Stempel des Grauens trug. Sie erschrak selbst darüber, erschrak tödlich. Es fehlte nicht viel, so wäre sie geflohen.

Aber dann loderte ein großes, heiliges Gefühl in ihr auf. Jetzt konnte nicht mehr von Liebe und Schwärmerei die Rede sein, nur von Angst, daß ein Mitmensch, einer der Armen, die mit ihr das Jammertal der Erde durchwanderten, verloren gehen sollte!

Das Mädchen blieb stehen. Sie wich nicht einen Schritt zurück, sondern ließ ihn sich langsam an ihren Anblick gewöhnen. Aber alle Macht, die sie besaß, legte sie in den Blick. Sie zog den Mann dort an sich mit der ganzen Kraft des Willens, der die Krankheit in ihr selbst besiegt hatte.

Und er kam aus seinem Winkel, bleich, verwildert, ungepflegt. Er ging auf sie zu, ohne daß das Grauen aus seinen Zügen wich. Er sah aus, als wäre er von einem wilden Tier behext, das gekommen war, um ihn zu zerreißen. Als er dicht neben ihr stand, legte sie ihm ihre beiden Hände auf die Schultern und sah ihm lächelnd ins Gesicht.

„Sieh da, Peter Nord. Wie ist es mit Ihnen? Sie müssen von hier fort! Was meinen Sie damit, daß Sie so lange hier oben auf dem Kirchhof bleiben, Peter Nord?“

Er zitterte und sank zusammen. Aber sie fühlte, daß sie ihn mit ihren Blicken unterjochte. Ihre Worte schienen hingegen gar keine Bedeutung für ihn zu haben.

Sie schlug einen etwas andern Ton an. „Höre, was ich sage, Peter Nord. Ich bin nicht tot. Ich werde nicht sterben. Ich bin gesund geworden, um hier heraufzukommen und dich zu retten.“

Er stand noch immer in demselben stumpfen Entsetzen da. Wieder veränderte sich ihre Stimme. „Du hast mir nicht den Tod gebracht,“ sagte sie immer inniger, „du hast mir das Leben gegeben.“

Dies wiederholte sie einmal ums andre. Und ihre Stimme ward zuletzt bebend vor Bewegung, trübe von Tränen. Aber er verstand nichts von dem, was sie sagte.

„Peter Nord, ich habe dich so lieb, so lieb,“ rief sie aus.

Er blieb ebenso gleichgültig.

Nun wußte sie nichts mehr mit ihm anzufangen. Sie mußte ihn wohl mit in die Stadt hinabnehmen und gute Pflege und die Zeit walten lassen.

Doch wer weiß, mit welchen Träumen sie heraufgekommen war und was sie sich von dieser Begegnung mit dem, der sie liebte, versprochen hatte. Nun, wo sie alles das aufgeben und ihn nur als einen Wahnsinnigen behandeln mußte, erfüllte sie ein Schmerz, als müßte sie das Kostbarste von sich lassen, was das Leben ihr geschenkt hatte. Und in der Bitterkeit dieses Verzichtes zog sie ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn.

Dies sollte ein Abschied von Leben und Glück sein. Sie fühlte, wie ihre Kräfte versagten. Tödliche Mattigkeit kam über sie.

Doch da glaubte sie bei ihm etwas wie ein schwaches Lebenszeichen zu merken, er war nicht mehr ganz so schlaff und stumpf. Es zuckte in seinen Gesichtszügen. Er zitterte immer heftiger, sie beobachtete alles mit immer größrer Angst. Er erwachte, aber wozu? Endlich begann er zu weinen.

Sie führte ihn zu einem Grabstein. Sie ließ sich darauf nieder, zog ihn zu sich herab und bettete sein Haupt in ihrem Schoß. So saß sie da und streichelte ihn, während er weinte.

Mit ihm ging etwas Ähnliches vor, wie wenn man aus einem bösen Traum erwacht. „Warum weine ich,“ fragte er sich. „Ach, ich weiß, ich habe so furchtbar geträumt. Aber es ist nicht wahr, sie lebt. Ich habe sie nicht gemordet. Wie töricht, über einen Traum zu weinen.“

Und so allmählich wurde ihm alles klar; doch seine Tränen flossen weiter. Sie saß da und liebkoste ihn, aber seine Tränen strömten noch lange.

„Das Weinen tut mir so wohl,“ sagte er.

Dann sah er auf und lächelte. „Ist jetzt Ostern?“ fragte er.

„Was meinst du damit?“

„Man kann es ja Ostern nennen, da die Toten auferstehen,“ fuhr er fort. Dann, als wären sie langjährige Vertraute, begann er, ihr von Frau Fastenzeit zu erzählen und von seiner Empörung gegen ihr Regiment.

„Es ist jetzt Ostern, und ihre Regierungszeit hat ein Ende,“ sagte sie.

Aber als er daran dachte, daß Edith dasaß und ihn liebkoste, mußte er wieder weinen. Es war ihm solch ein Bedürfnis zu weinen. Alles Mißtrauen gegen das Leben, das das Unglück dem kleinen Wermländer eingeflößt hatte, bedurfte der Tränen, um fortzuschmelzen. Das Mißtrauen, daß Liebe und Freude, Schönheit und Kraft nicht auf Erden blühen könnten, das Mißtrauen gegen sich selbst, alles das mußte fort. Alles das ging fort, denn es war Ostern: Die Tote lebte, und Frau Fastenzeit konnte nie mehr Macht erlangen.

Die Legende vom Vogelnest

Hatto, der Eremit, stand in der Einöde und betete zu Gott. Es stürmte, und sein langer Bart und sein zottiges Haar flatterte um ihn, so wie die windgepeitschten Grasbüschel die Zinnen einer alten Ruine umflattern. Doch er strich sich nicht das Haar aus den Augen, noch steckte er den Bart in den Gürtel, denn er hielt die Arme zum Gebet erhoben. Seit Sonnenaufgang streckte er seine knochigen behaarten Arme zum Himmel empor, ebenso unermüdlich wie ein Baum seine Zweige ausstreckt, und so wollte er bis zum Abend stehen bleiben. Er hatte etwas Großes zu erbitten.

Er war ein Mann, der viel von der Arglist und Bosheit der Welt erfahren hatte. Er hatte selbst verfolgt und gequält, und Verfolgung und Qualen andrer waren ihm zuteil geworden, mehr als sein Herz ertragen konnte. Darum zog er hinaus auf die große Heide, grub sich eine Höhle am Flußufer und wurde ein heiliger Mann, dessen Gebete an Gottes Thron Gehör fanden.

Hatto, der Eremit, stand am Flußgestade vor seiner Höhle und betete das große Gebet seines Lebens. Er betete zu Gott, den Tag des Jüngsten Gerichts über diese böse Welt hereinbrechen zu lassen. Er rief die posaunenblasenden Engel an, die das Ende der Herrschaft der Sünde verkünden sollten. Er rief nach den Wellen des Blutmeeres, um die Ungerechtigkeit zu ertränken. Er rief nach der Pest, auf daß sie die Kirchhöfe mit Leichenhaufen erfülle.

Rings um ihn war die öde Heide. Aber eine kleine Strecke weiter oben am Flußufer stand eine alte Weide mit kurzem Stamm, der oben zu einem großen, kopfähnlichen Knollen anschwoll, aus dem neue, frischgrüne Zweige hervorwuchsen. Jeden Herbst wurden ihr von den Bewohnern des holzarmen Flachlandes diese frischen Jahresschößlinge geraubt. Jeden Frühling trieb der Baum neue geschmeidige Zweige, und an stürmischen Tagen sah man sie um den Baum flattern und wehen, so wie Haar und Bart um Hatto, den Eremiten, flatterten.

Das Bachstelzchenpaar, das sein Nest oben auf dem Stamm der Weide zwischen den emporsprießenden Zweigen zu bauen pflegte, hatte gerade an diesem Tage mit seiner Arbeit beginnen wollen. Aber zwischen den heftig peitschenden Zweigen fanden die Vögel keine Ruhe. Sie kamen mit Binsenhalmen und Wurzelfäserchen und vorjährigem Riedgras geflogen, aber sie mußten unverrichteter Dinge umkehren. Da bemerkten sie den alten Hatto, der eben Gott anflehte, den Sturm siebenmal heftiger werden zu lassen, damit das Nest der kleinen Vöglein fortgefegt und der Adlerhorst zerstört werde.

 

Natürlich kann kein heute Lebender sich vorstellen, wie bemoost und vertrocknet und knorrig und schwarz und menschenunähnlich solch ein alter Heidebewohner sein konnte. Die Haut lag so stramm über Stirn und Wangen, daß sein Kopf fast einem Totenschädel glich, und nur an einem kleinen Aufleuchten tief in den Augenhöhlen sah man, daß er Leben besaß. Und die vertrockneten Muskeln gaben dem Körper keine Rundung, der emporgestreckte nackte Arm bestand vielmehr nur aus ein paar schmalen Knochen, die mit verrunzelter, harter, rindenähnlicher Haut überzogen waren. Er trug einen alten, eng anliegenden schwarzen Mantel. Er war braungebrannt von der Sonne und schwarz von Schmutz. Nur sein Haar und sein Bart waren licht, hatten sie doch Regen und Sonnenschein bearbeitet, bis sie dieselbe graugrüne Farbe angenommen hatten, wie die Unterseite der Weidenblätter.

Die Vögel, die umherflatterten und einen Platz für ihr Nest suchten, hielten Hatto, den Eremiten, auch für eine alte Weide, die ebenso wie die andre durch Axt und Säge in ihrem Himmelsstreben gehemmt worden war. Sie umkreisten ihn viele Male, flogen weg und kamen zurück, merkten sich den Weg zu ihm, berechneten seine Lage im Hinblick auf Raubvögel und Stürme, fanden sie recht unvorteilhaft, aber entschieden sich doch für ihn, wegen seiner Nähe zum Flusse und dem Riedgras, ihrer Vorratskammer und ihrem Speicher. Eines der Vögelchen schoß pfeilschnell herab und legte sein Wurzelfäserchen in die ausgestreckte Hand des Eremiten.

Der Sturm hatte gerade aufgehört, so daß das Wurzelfäserchen ihm nicht sogleich aus der Hand gerissen wurde, aber in den Gebeten des Eremiten gab es kein Aufhören. „Mögest du bald kommen, o Herr, und diese Welt des Verderbens vernichten, auf daß die Menschen sich nicht mit noch mehr Sünden beladen. Möchtest du die Ungebornen vom Leben erlösen! Für die Lebenden gibt es keine Erlösung.“

Nun setzte der Sturm wieder ein, und das Wurzelfäserchen flatterte aus der großen, knochigen Hand des Eremiten fort. Aber die Vögel kamen wieder und versuchten die Grundpfeiler des neuen Heims zwischen seine Finger einzukeilen. Da legte sich plötzlich ein plumper, schmutziger Daumen über die Halme und hielt sie fest, und vier Finger wölbten sich über die Handfläche, so daß eine friedliche Nische entstand, in der man bauen konnte. Doch der Eremit fuhr in seinen Gebeten fort.

„Herr, wo sind die Feuerwolken, die Sodom verheerten? Wann öffnest du des Himmels Schleusen, die die Arche zum Berge Ararat erhoben? Ist das Maß deiner Geduld nicht erschöpft und die Schale deiner Gnade leer? O Herr, wann kommst du aus deinem sich spaltenden Himmel?“

Und vor Hatto, dem Eremiten, tauchten die Fiebervisionen vom Tag des Jüngsten Gerichtes auf. Der Boden erbebte, der Himmel glühte. Unter dem roten Firmament sah er schwarze Wolken fliehender Vögel; über den Boden wälzte sich eine Schar flüchtender Tiere. Doch während seine Seele von diesen Fiebervisionen erfüllt war, begannen seine Augen dem Flug der kleinen Vögel zu folgen, die blitzschnell hin und her flogen und mit einem vergnügten kleinen Piepsen ein neues Hälmchen in das Nest fügten.

Der Alte ließ es sich nicht einfallen, sich zu rühren. Er hatte das Gelübde getan, den ganzen Tag stillstehend mit emporgestreckten Händen zu beten, um so unsern Herrn zu zwingen, ihn zu erhören. Je matter sein Körper wurde, desto lebendiger wurden die Gesichte, die sein Hirn erfüllten. Er hörte die Mauern der Städte zusammenbrechen und die Wohnungen der Menschen einstürzen. Schreiende, entsetzte Volkshaufen eilten an ihm vorbei, und ihnen nach jagten die Engel der Rache und der Vernichtung, hohe, silbergepanzerte Gestalten mit strengem, schönem Antlitz, auf schwarzen Rossen reitend und Geißeln schwingend, die aus weißen Blitzen geflochten waren.

Die kleinen Bachstelzchen bauten und zimmerten fleißig den ganzen Tag, und die Arbeit machte große Fortschritte. Auf dieser hügeligen Heide mit ihrem steifen Riedgras und an diesem Flußufer mit seinem Schilf und seinen Binsen war kein Mangel an Baustoff. Sie fanden weder Zeit zur Mittagsrast noch zur Vesperruhe. Glühend vor Eifer und Vergnügen flogen sie hin und her, und ehe der Abend anbrach, waren sie schon beim Dachfirst angelangt.

Aber ehe der Abend anbrach, hatten sich die Blicke des Eremiten mehr und mehr auf sie geheftet. Er folgte ihnen auf ihrer Fahrt, er schalt sie aus, wenn sie sich dumm anstellten, er ärgerte sich, wenn der Wind ihnen Schaden tat, und am allerwenigsten konnte er es vertragen, wenn sie sich ein bißchen ausruhten.

So sank die Sonne, und die Vögel suchten ihre vertrauten Ruhestätten im Schilf auf.

Wer abends über die Heide geht, muß sich herabbeugen, so daß sein Gesicht in gleicher Höhe mit den Erdhügelchen ist, dann wird er sehen, wie sich ein wunderliches Bild vor dem lichten Abendhimmel abzeichnet. Eulen mit großen, runden Flügeln huschen über das Feld, unsichtbar für den, der aufrecht steht. Nattern ringeln sich heran, geschmeidig, behend, die schmalen Köpfchen auf schwanähnlich gebognen Hälsen erhoben. Große Kröten kriechen träge vorbei. Hasen und Wasserratten fliehen vor den Raubtieren, und der Fuchs springt nach einer Fledermaus, die Mücken über dem Fluß jagt. Es ist, als hätte jedes Erdhügelchen Leben bekommen. Doch unterdessen schlafen die kleinen Vögelchen auf dem schwanken Schilf, geborgen vor allem Bösen auf diesen Ruhestätten, denen kein Feind nahen kann, ohne daß das Wasser aufplätschert oder das Schilf zittert und sie aufweckt.

Als der Morgen kam, glaubten die Bachstelzchen zuerst, die Ereignisse des gestrigen Tages seien ein schöner Traum gewesen.

Sie hatten ihre Merkzeichen gemacht und flogen geradeswegs auf ihr Nest zu, aber das war verschwunden. Sie guckten suchend über die Heide hin und erhoben sich gerade in die Luft, um zu spähen. Keine Spur von einem Nest oder einem Baum. Schließlich setzten sie sich auf ein paar Steine am Flußufer und grübelten nach. Sie wippten mit dem langen Schwanz und drehten das Köpfchen. Wohin war Baum und Nest gekommen?

Doch kaum hatte sich die Sonne um eine Handbreit über den Waldgürtel auf dem jenseitigen Flußufer erhoben, als ihr Baum gewandert kam und sich auf denselben Platz stellte, den er am vorigen Tage eingenommen. Er war ebenso schwarz und knorrig wie damals und trug ihr Nest auf der Spitze von etwas, was wohl ein dürrer, aufrecht ragender Ast sein mußte.

Da begannen die Bachstelzchen wieder zu bauen, ohne weiter über die vielen Wunder der Natur nachzugrübeln.

Hatto, der Eremit, der die kleinen Kinder von seiner Höhle fortscheuchte und ihnen sagte, es wäre besser für sie, wenn sie niemals das Licht der Sonne gesehen hätten, er, der in den Schlamm hinausstürzte, um den fröhlichen jungen Menschen, die in bewimpelten Booten den Fluß hinaufruderten, Verwünschungen nachzuschleudern; er, vor dessen bösem Blick die Hirten der Heide ihre Herden behüteten, kehrte nicht zu seinem Platz am Fluß zurück, den kleinen Vögeln zuliebe. Aber er wußte, daß nicht nur jeder Buchstabe in den heiligen Büchern seine verborgne mystische Bedeutung hat, sondern auch alles, was Gott in der Natur geschehen läßt. Jetzt hatte er herausgefunden, was es bedeuten konnte, daß die Bachstelzchen ihr Nest in seiner Hand bauten; Gott wollte, daß er mit erhobnen Armen betend dastehen sollte, bis die Vögel ihre Jungen aufgezogen hatten, und vermochte er dies, so sollte er erhört werden.

Doch an diesem Tage sah er immer weniger Visionen des Jüngsten Gerichtes. Anstatt dessen folgte er immer eifriger mit seinen Blicken den Vögeln. Er sah das Nest rasch vollendet. Die kleinen Baumeister flatterten rund herum und besichtigten es. Sie holten ein paar kleine Moosflechten von der wirklichen Weide und klebten sie außen an, das sollte anstatt Tünche oder Farbe sein. Sie holten das feinste Wollgras, und das Weibchen nahm Flaum von seiner eignen Brust und bekleidete das Nest innen damit, das war die Einrichtung und Möblierung.

Die Bauern, die die verderbliche Macht fürchteten, die die Gebete des Eremiten an Gottes Thron haben konnten, pflegten ihm Brot und Milch zu bringen, um seinen Groll zu besänftigen. Sie kamen auch jetzt und fanden ihn regungslos dastehen, das Vogelnest in der Hand.

„Seht, wie der fromme Mann die kleinen Tiere liebt,“ sagten sie und fürchteten sich nicht mehr vor ihm, sondern hoben den Milcheimer an seine Lippen und führten ihm das Brot zum Munde. Als er gegessen und getrunken hatte, verjagte er die Menschen mit bösen Worten, aber sie lächelten nur über seine Verwünschungen.

Sein Körper war schon lange seines Willens Diener geworden. Durch Hunger und Schläge, durch tagelanges Knien und wochenlange Nachtwachen hatte er ihn Gehorsam gelehrt. Nun hielten stahlharte Muskeln seine Arme tage- und wochenlang emporgestreckt, und während das Bachstelzenweibchen auf den Eiern lag und das Nest nicht mehr verließ, suchte er nicht einmal nachts seine Höhle auf. Er lernte es, sitzend mit emporgestreckten Armen zu schlafen. Unter den Freunden der Wüste gibt es so manche, die noch größre Dinge vollbracht haben.

Er gewöhnte sich an die zwei kleinen unruhigen Vogelaugen, die über den Rand des Nestes zu ihm hinabblickten. Er achtete auf Hagel und Regen und schützte das Nest so gut er konnte.

Eines Tages kann das Weibchen seinen Wachtposten verlassen. Beide Bachstelzchen sitzen auf dem Rand des Nestes, wippen mit den Schwänzchen und beratschlagen und sehen seelenvergnügt aus, obgleich das ganze Nest von einem ängstlichen Piepsen erfüllt scheint. Nach einem kleinen Weilchen ziehen sie auf die allerverwegenste Mückenjagd aus.

Eine Mücke nach der andern wird gefangen und heimgebracht für das, was oben in seiner Hand piepst. Und als das Futter kommt, da piepsen sie am allerärgsten. Den frommen Mann stört das Piepsen in seinen Gebeten.

Und sachte, sachte sinkt sein Arm auf Gelenken herab, die beinahe die Gabe, sich zu rühren, verloren haben, und seine kleinen Glutaugen starren in das Nest herab.

Niemals hatte er etwas so hilflos Häßliches und Armseliges gesehen: kleine, nackte Körperchen mit ein paar spärlichen Fläumchen, keine Augen, keine Flugkraft, eigentlich nur sechs große, aufgerissene Schnäbel.

Es kam ihm selbst wunderlich vor, aber er mochte sie gerade so leiden wie sie waren. Die Alten hatte er ja niemals von dem großen Untergang ausgenommen, aber wenn er von nun ab Gott anflehte, die Welt durch Vernichtung zu erlösen, da machte er eine stillschweigende Ausnahme für diese sechs Schutzlosen.

Wenn die Bäuerinnen ihm jetzt Essen brachten, dann dankte er ihnen nicht mit Verwünschungen. Da er für die Kleinen dort oben notwendig war, freute er sich, daß die Leute ihn nicht verhungern ließen.

Bald guckten den ganzen Tag sechs runde Köpfchen über den Nestrand. Des alten Hatto Arm sank immer häufiger zu seinen Augen hernieder. Er sah die Federn aus der roten Haut sprießen, die Augen sich öffnen, die Körperformen sich runden. Glückliche Erben der Schönheit, die die Natur den beflügelten Bewohnern der Luft geschenkt, entwickelten sie bald ihre Anmut.

Und unterdessen kamen die Gebete um die große Vernichtung immer zögernder über Hattos Lippen. Er glaubte Gottes Zusicherung zu haben, daß sie hereinbrechen würde, wenn die kleinen Vögelchen flügge waren. Nun stand er da und suchte gleichsam nach einer Ausflucht vor Gottvater. Denn diese sechs Kleinen, die er beschützt und behütet hatte, konnte er nicht opfern.

Früher war es etwas andres gewesen, als er noch nichts hatte, was sein Eigen war. Die Liebe zu den Kleinen und Schutzlosen, die jedes kleine Kind die großen, gefährlichen Menschen lehren muß, kam über ihn und machte ihn unschlüssig.

Manchmal wollte er das ganze Nest in den Fluß schleudern, denn er meinte, daß die beneidenswert sind, die ohne Sorgen und Sünden sterben dürfen. Mußte er die Kleinen nicht vor Raubtieren und Kälte, vor Hunger und den mannigfaltigen Heimsuchungen des Lebens bewahren? Aber gerade als er noch so dachte, kam der Sperber auf das Nest herabgesaust, um die Jungen zu töten. Da ergriff Hatto den Kühnen mit seiner linken Hand, schwang ihn im Kreise über seinem Kopf und schleuderte ihn mit der Kraft des Zornes in den Fluß.

Und der Tag kam, an dem die Kleinen flügge waren. Eines der Bachstelzchen mühte sich drinnen im Nest, die Jungen auf den Rand hinauszuschieben, während das andre herumflog und ihnen zeigte, wie leicht es war, wenn sie es nur zu versuchen wagten. Und als die Jungen sich hartnäckig fürchteten, da flogen die beiden Alten fort und zeigten ihnen ihre allerschönste Fliegekunst. Mit den Flügeln schlagend, beschrieben sie verschiedene Windungen, oder sie stiegen auch gerade in die Höhe wie Lerchen oder hielten sich mit heftig zitternden Schwingen still in der Luft.

 

Aber als die Jungen noch immer eigensinnig bleiben, kann Hatto es nicht lassen, sich in die Sache einzumischen. Er gibt ihnen einen behutsamen Puff mit dem Finger, und damit ist alles entschieden. Heraus fliegen sie, zitternd und unsicher, die Luft peitschend wie Fledermäuse, sie sinken, aber erheben sich wieder, begreifen, worin die Kunst besteht, und verwenden sie dazu, so rasch als möglich das Nest wieder zu erreichen. Die Alten kommen stolz und jubelnd zu ihnen zurück, und der alte Hatto schmunzelt.

Er hatte doch in der Sache den Ausschlag gegeben.

Er grübelte nun in vollem Ernst nach, ob es für unsern Herrgott nicht auch einen Ausweg geben konnte.

Vielleicht, wenn man es so recht bedachte, hielt Gottvater diese Erde wie ein großes Vogelnest in seiner Rechten, und vielleicht hatte er Liebe zu denen gefaßt, die dort wohnen und hausen, zu allen schutzlosen Kindern der Erde. Vielleicht erbarmte er sich ihrer, die er zu vernichten gelobt hatte, so wie sich der Eremit der kleinen Vögel erbarmte.

Freilich waren die Vögel des Eremiten um vieles besser als unsers Herrgotts Menschen, aber er konnte doch begreifen, daß Gottvater dennoch ein Herz für sie hatte.

Am nächsten Tage stand das Vogelnest leer, und die Bitterkeit der Einsamkeit bemächtigte sich des Eremiten. Langsam sank sein Arm an seiner Seite herab, und es deuchte ihn, daß die ganze Natur den Atem anhielt, um dem Dröhnen der Posaune des Jüngsten Gerichts zu lauschen. Doch in demselben Augenblick kamen alle Bachstelzen zurück und setzten sich ihm auf Haupt und Schultern, denn sie hatten gar keine Angst vor ihm. Da zuckte ein Lichtstrahl durch das verwirrte Hirn des alten Hatto. Er hatte ja den Arm gesenkt, ihn jeden Tag gesenkt, um die Vögel anzusehen.

Und wie er da stand, von allen sechs Jungen umflattert und umgaukelt, nickte er jemandem, den er nicht sah, vergnügt zu. „Du bist frei,“ sagte er, „du bist frei. Ich hielt mein Wort nicht, und so brauchst du auch deines nicht zu halten.“

Und es war ihm, als hörten die Berge zu zittern auf und als legte sich der Fluß gemächlich in seinem Bett zur Ruhe.