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Unsichtbare Bande: Erzählungen

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II

Freundlich und zufrieden lag das kleine Städtchen unter seinem roten Berg da. Es war so in Grün eingebettet, daß der Kirchturm noch gerade daraus hervorragte. Garten an Garten kletterte auf schmalen Terrassen die Anhöhen hinan, und wenn sie nach dieser Richtung nicht weiter konnten, stürzten sie sich mit Sträuchern und Bäumen quer über die Straße und breiteten sich zwischen den zerstreuten Häusern und dem schmalen Erdstreif darunter aus, bis der breite Fluß ihnen Halt gebot.

In der Stadt war es ganz still und stumm. Kein Mensch war zu sehen, nur Bäume und Sträucher und hie und da ein Haus. Das einzige Geräusch, das man hörte, war das Rollen der Kugel über die Kegelbahn, und das klang wie ferner Donner an einem Sommertag. Es gehörte mit zu der Stille.

Doch jetzt knirschte das holprige Steinpflaster des Marktes unter genagelten Absätzen. Der Laut grober Stimmen schlug an die Wand des Rathauses und der Kirche, hallte vom Berg wider und eilte unbehindert die lange Straße hinab. Vier Wanderer störten die Vormittagsruhe.

Ach, die süße Stille, der jahrelange Feierfriede! Wie erschraken sie! Man konnte förmlich sehen, wie sie die Bergpfade hinaufflüchteten.

Einer der Lärmenden, die in das Städtchen einbrachen, war Peter Nord, der Junge aus Wermland, der vor sechs Jahren des Diebstahls bezichtigt aus der Stadt geflohen war. Die mit ihm gingen, waren drei Tagediebe aus der großen Handelsstadt, die nur ein paar Meilen entfernt lag.

Wie war es dem kleinen Peter Nord ergangen? Gut war es ihm ergangen. Er hatte den allervernünftigsten Freund und Begleiter gefunden.

Als er an jenem dunklen, regenschweren Februarmorgen aus dem Städtchen fortlief, da sangen und klangen die Polkamelodien ihm im Ohre. Und eine von ihnen war hartnäckiger als alle andern.

Es war die, die sie alle beim großen Rundtanz gesungen hatten:

 
Nun ist es wieder Weihnachtsfest,
Ja, ja, Weihnachtsfest.
Und dann ist Ostern nicht mehr weit,
Doch leider, leider ists nicht so,
Nein, nein, ists nicht so,
Nach Weihnacht kommt die Fastenzeit.
 

Das hörte der kleine Flüchtling so deutlich, so deutlich. Und damit drang die Weisheit, die in dem alten Reigen verborgen liegt, in den kleinen genußsüchtigen Wermländerjungen ein, drang in jede Fiber, vermischte sich mit jedem Blutstropfen, nistete sich in Hirn und Mark ein. So ist es, so ist es gemeint … Zwischen Weihnachten und Ostern, zwischen den Festen der Geburt und des Todes kommt die Fastenzeit des Lebens. Vom Leben soll man nichts verlangen. Es ist eine arme kalte Fastenzeit. Man darf ihm nie glauben, wie es sich auch verstellen mag. Im nächsten Augenblick ist es wieder grau und häßlich. Kann nichts dafür, das arme Ding, versteht es nicht besser!

Und Peter Nord war beinahe stolz, daß er dem Leben sein tiefstes Geheimnis abgelauscht hatte.

Und er glaubte, die gelbe, bleiche Frau Fastenzeit in Bettlergestalt, die Aschenrute in der Hand, über die Erde schleichen zu sehen. Und er hörte, wie sie ihn anknurrte: „Du wolltest das Fest der Freude und der fröhlichen Laune mitten in jener Fastenzeit feiern, die man Leben nennt. Darum soll Schimpf und Schande dein Los sein, bis du dich besserst.“

Aber er hatte sich gebessert, und Frau Fastenzeit hatte ihn beschützt. Er hatte nicht weiter als bis in die große Handelsstadt fliehen müssen, denn er wurde gar nicht verfolgt. Und dort im Arbeiterviertel hatte Frau Fastenzeit ihre sichre Wohnstatt. Peter Nord wurde Arbeiter in einer Fabrik. Er wurde stark und energisch. Er wurde ernst und sparsam. Er hatte schmucke Sonntagskleider, er erwarb sich einige Kenntnisse, er lieh sich Bücher aus und ging zu Vorträgen. Eigentlich war von dem kleinen Peter Nord nichts mehr übrig als das flachsblonde Haar und die braunen Augen.

Diese Nacht hatte etwas in ihm geknickt, und die schwere Arbeit in der Fabrik machte den Riß immer größer, so daß der närrische Wermländer dadurch ganz herausschlüpfen konnte. Er schwätzte kein dummes Zeug mehr, denn in der Fabrik war das Sprechen verboten, und dadurch gewöhnte er sich das Schweigen an. Er machte keine Erfindungen mehr, denn seit er im Ernst Federn und Räder zu bedienen hatte, machten sie ihm keinen Spaß mehr. Er verliebte sich nicht, denn die Frauen des Arbeiterviertels konnten ihn nicht mehr fesseln, seit er die Schönheiten des Städtchens kennen gelernt hatte. Er hatte keine Mäuse, keine Eichhörnchen mehr und nichts, womit er spielen konnte. Er hatte keine Zeit, er sah ein, daß derlei nur unnütz war, und er dachte mit Entsetzen an die Zeit, wo er sich noch mit Gassenjungen gebalgt hatte.

Peter Nord glaubte nicht, daß das Leben anders sein könnte als grau, grau, grau. Peter Nord langweilte sich immer, aber er war selbst so sehr daran gewöhnt, daß er es gar nicht merkte. Peter Nord war stolz auf sich selbst, weil er so tugendhaft geworden war. Er datierte seine Einkehr von der Nacht, da der Frohsinn ihn verließ und Frau Fastenzeit seine Begleiterin und Freundin ward.

Doch wie konnte der tugendhafte Peter Nord mitten an einem Arbeitstag in das Städtchen kommen, begleitet von drei Strolchen, die schmutzig und versoffen aussahen?

Er war doch immer ein guter Junge gewesen, der arme Peter Nord. Und diesen drei Strolchen hatte er immer zu helfen versucht, so gut er es konnte, obwohl er sie verachtete. Er hatte ihnen Holz in ihre elende Baracke gebracht, wenn der Winter sehr hart war, und er hatte ihre Kleider gestopft und geflickt. Diese Kerle hielten wie Brüder zusammen, hauptsächlich weil sie alle drei Peter hießen. Dieser Name vereinte sie fester, als wenn sie wirklich Geschwister gewesen wären. Und nun litten sie es um dieses Namens willen, daß der Knabe ihnen Freundschaftsdienste erwies, und wenn sie am Abend ihren Grog in Ordnung hatten und bequeme Stellungen auf den Holzstühlen einnahmen, warteten sie ihm, der dasaß und die grinsenden Löcher ihrer Strümpfe stopfte, mit Galgenhumor und abenteuerlichen Lügen auf. Das schien Peter Nord Vergnügen zu machen, obgleich er es nicht zugestehen wollte. Diese Kerle waren jetzt für ihn beinahe dasselbe, was einstmals in der Welt die Mäuse gewesen waren.

Nun geschah es, daß diesen Strolchen allerlei Klatsch aus der kleinen Stadt zu Ohren kam. Und nun nach sechs Jahren brachten sie Peter Nord die Nachricht, daß Halfvorson ihm die fünfzig Kronen absichtlich hingelegt hatte, um ihn als Zeugen unmöglich zu machen. Und ihre Meinung war, daß Peter in das Städtchen ziehen und Halfvorson eine Tracht Prügel geben sollte.

Aber Peter Nord war klug und besonnen und mit der Weisheit dieser Welt ausgerüstet. Er wollte sich durchaus nicht auf so etwas einlassen.

Die drei Peter verbreiteten die Geschichte im ganzen Arbeiterviertel. Alle Leute sagten zu Peter Nord: „Geh hin und prügle Halfvorson durch, dann wirst du ins Loch gesteckt, und es gibt einen Prozeß und die Sache kommt in die Zeitungen, und der Kerl ist vor dem ganzen Lande blamiert.“

Aber Peter Nord wollte nicht. Es konnte ja recht vergnüglich sein, aber Rache ist ein teurer Spaß, und Peter Nord wußte, wie arm das Leben ist. Das Leben gestattet solche Belustigungen nicht.

Da waren die drei Strolche eines Morgens in aller Frühe zu ihm gekommen und hatten gesagt, jetzt wollten sie an seiner Statt gehen und Halfvorson durchbläuen, denn „Recht müsse Recht bleiben“, sagten sie.

Und Peter Nord hatte versprochen, sie alle drei totzuschlagen, wenn sie auch nur einen Schritt nach dem Städtchen gingen.

Da hielt der eine von ihnen, der klein und untersetzt war und der lange Peter hieß, Peter Nord eine Rede.

„Diese Erde,“ sagte er, „ist ein Apfel, der an einem Faden über einem Feuer hängt, um gebraten zu werden. Mit dem Feuer meine ich die Hölle, Peter Nord. Und der Apfel muß nahe am Feuer hängen, um süß und weich zu werden, aber wenn der Faden reißt und der Apfel in das Feuer fällt, so ist er verdorben. Darum ist der Faden eine sehr wichtige Sache, Peter Nord. Weißt du, was mit dem Faden gemeint ist?“

„Ich denke, es muß ein Drahtseil sein,“ sagte Peter Nord.

„Mit dem Faden meine ich die Gerechtigkeit,“ sagte der lange Peter mit düsterm Ernst. „Wenn auf der Erde nicht Gerechtigkeit geschieht, so purzelt alles in das Feuer. Darum darf sich der Rächer der Pflicht zu strafen nicht entziehen, oder, wenn er nicht will, müssen andre gehen.“

„Es ist das letzte Mal, daß ich euch einen Grog spendiert habe,“ sagte Peter Nord, gänzlich unberührt von der Rede.

„Ja, da hilft nichts,“ sagte der lange Peter, „Gerechtigkeit muß sein.“

„Wir tun es nicht, um Dank von dir zu ernten, sondern damit der ehrliche Name Peter nicht in Verruf kommt,“ sagte der eine, der Rollpeter hieß und lang und mürrisch war.

„So, so, ist der Name so hochgeachtet?“ sagte Peter Nord wegwerfend.

„Ja, und es ist eine kitzlige Sache, daß sie nun überall in den Gasthäusern sagen, du hättest die fünfzig Kronen doch wohl stehlen wollen, da du nun nicht haben willst, daß der Kaufmann bestraft wird.“

Dieses Wort traf tief. Peter Nord sprang auf und sagte, nun wolle er gehen und den Kaufmann durchpeitschen.

„Ja, und wir kommen mit und helfen dir,“ sagten die Strolche.

Und so zogen sie vier Mann hoch in das Städtchen. Anfangs war Peter Nord mürrisch und grämlich und zorniger über seine Freunde, als über seinen Feind. Doch als er zu der Flußbrücke kam und die Stadt sah, war er ganz verwandelt. Es war, als wäre er dort einem kleinen weinenden Flüchtling begegnet und in diesen hineingeschlüpft. Und je heimischer er in dem alten Peter Nord wurde, desto mehr ward es ihm bewußt, welches blutige Unrecht der Kaufmann ihm angetan hatte. Nicht genug damit, daß er ihn hatte verlocken und ins Unglück stürzen wollen, nein, noch schlimmer, er hatte ihn aus dieser Stadt vertrieben, wo Peter Nord all sein Lebtag hätte Peter Nord bleiben können. Ach, wie fröhlich hatte er es doch damals gehabt. Wie lustig und vergnügt war er gewesen, wie hatte doch sein Herz offengestanden und wie schön war die Welt gewesen! Herrgott, wenn er doch nur hier hätte weiterleben können! Und er dachte an sich selbst, so wie er jetzt war – schweigsam und langweilig, ernst und arbeitsam –, ganz wie an einen verlornen Menschen.

 

Nun packte ihn ein wahnsinniger Groll gegen Halfvorson, und statt wie früher hinter den Kameraden einherzugehen, schoß er an ihnen vorbei.

Aber die Strolche, die nicht nur gekommen waren, um Halfvorson zu strafen, sondern um überhaupt ihrer Wut Luft zu machen, wußten kaum, was sie beginnen sollten. Hier war für einen gereizten Mann nichts zu tun. Es gab keinen Hund, den man hetzen, keinen Straßenkehrer, mit dem man Krakeel anfangen, keinen feinen Herrn, dem man ein Schimpfwort nachschleudern konnte.

Das Jahr war noch nicht weit vorgeschritten, gerade so weit, daß der Frühling eben in den Sommer überging. Es war die weiße Zeit der Kirschblüten, wo Fliedertrauben hohe, rundbeschnittene Büsche schmücken und die Apfelblüten duften. Diese Männer, die unmittelbar von der Straße und vom Hafen in das Reich der Blumen gekommen waren, fühlten sich wunderlich davon berührt. Drei Paar Fäuste, die bisher entschlossen geballt waren, lösten sich, und drei Paar Absätze donnerten weniger hart gegen das Pflaster.

Vom Markte aus sahen sie einen Fußpfad, der sich die Hügel hinanschlängelte. Ihm entlang wuchsen junge Kirschbäume, die mit ihren weißen Kronen Bogen und Wölbungen bildeten. Die Wölbungen waren schwebend leicht, und die Zweige unsagbar schwach, alles zart, fein und kindlich.

Dieser Kirschenweg zog die Blicke der Männer auf sich. Was war dies doch für ein unpraktisches Nest, wo man Kirschbäume dahin pflanzte, wo jedweder die Kirschen nehmen konnte. Die drei Peter hatten die Stadt bisher als einen Herd der Ungerechtigkeit betrachtet, voll Grausamkeit und Tyrannei. Jetzt begannen sie sie auszulachen und ein wenig zu verachten.

Aber der vierte im Bunde lachte nicht. Seine Rachsucht loderte immer wilder auf, denn er fühlte es, dies war die Stadt, wo er hätte wohnen und wirken sollen. Dies war sein verlornes Paradies. Und ohne nach den andern zu fragen, ging er rasch die Straße hinauf.

Sie folgten nach, und als sie merkten, daß es hier nur eine Straße gab, und als sie dieser entlang nur Blumen und wieder Blumen sahen, steigerte sich ihre Verachtung und ihre Heiterkeit. Es geschah vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, daß sie Blumen Aufmerksamkeit schenkten, aber hier konnten sie nicht anders, denn die Fliedertrauben fegten ihnen die Mützen vom Kopf, und die Blätter der Kirschblüten regneten auf sie herab.

„Was glaubt ihr, was mögen wohl in dieser Stadt für Leute wohnen?“ fragte der lange Peter nachdenklich.

„Bienen,“ antwortete sogleich der Holzschuhpeter, der seinen Namen daher hatte, daß er einmal mit einem Holzschuhmacher in demselben Hause gewohnt hatte.

Natürlich bekamen sie allmählich einige Menschen zu Gesicht. An den Fenstern, hinter blanken Scheiben und weißen Gardinen, zeigten sich ein paar schöne junge Gesichter, und sie sahen Kinder auf den Terrassen spielen. Aber kein Lärm störte die Stille. Es kam ihnen vor, als könnte selbst die Posaune des Jüngsten Gerichts diese Stadt nicht wecken. Was sollten sie hier anfangen!

Sie gingen in einen Laden und kauften Bier. Da stellten sie mit rauher Stimme mehrere Fragen an den Kaufmann. Sie fragten, ob die Feuerwehr ihre Spritze in Ordnung habe und wie es wohl mit dem Schwengel der Kirchenglocke stände für den Fall, daß es zum Sturmläuten kommen sollte.

Dann tranken sie das Bier auf der Straße aus und warfen die Flaschen fort. Eins, zwei, drei, alle Flaschen an denselben Eckstein, ein Krachen und Klirren, und alle Scherben flogen ihnen um die Ohren. Es tat ihnen förmlich wohl, wieder ein bißchen Lärm zu machen.

Da hörten sie hinter sich Schritte, wirkliche Schritte, Stimmen, harte, deutliche Stimmen, Lachen, lautes Lachen und dazu ein Klirren wie von Metall. Sie stutzten und zogen sich in einen Torweg zurück. Das klang wie eine ganze Kompanie.

Das war es auch. Aber eine Kompanie von jungen Mädchen. Die Dienstmägde der Stadt zogen in gesammeltem Trupp auf die Stadtweiden, um die Kühe zu melken.

Das machte auf diese Großstädter, diese Weltbürger, den stärksten Eindruck. Dienstmädchen mit Milcheimern. Das war beinahe rührend!

Urplötzlich traten sie aus dem Tor hervor und riefen: „Buh!“

Die ganze Mädchenschar zerstob augenblicklich. Die Mägde kreischten und liefen davon. Die Röcke flatterten, die Kopftücher lösten sich, die Milchkübel rasselten auf die Straße.

Und zugleich vernahm man die ganze Straße entlang dumpfe Laute von Toren und Türen, die zugeworfen wurden, von Klinken und Riegeln und Schlössern.

Ein Stück weiter unten auf der Straße stand eine große Linde. Und darunter saß eine alte Frau an einem Tisch mit Karamels und Backwerk. Sie rührte sich nicht, sie sah sich nicht um, sie saß ganz mäuschenstill. Schlafen tat sie auch nicht.

„Die ist aus Holz,“ sagte der Holzschuhpeter.

„Nein, aus Ton,“ meinte der Rollpeter.

Sie gingen alle drei in einer Reihe. Gerade vor der Alten kamen sie ins Schwanken. Sie gingen gegen sie los. Der Tisch bekam einen Puff. Und die Alte fing zu zanken an.

„Weder Holz noch Ton,“ sagten sie, „lauter Gift und Galle.“

Die ganze Zeit hatte Peter Nord sich gar nicht um sie gekümmert, aber jetzt waren sie endlich bei Halfvorsons Haus angelangt und da erwartete er sie.

„Es läßt sich wohl nicht in Abrede stellen, daß das meine Angelegenheit ist,“ sagte er stolz, und wies auf den Laden. „Ich will allein hineingehen und die Sache abmachen. Bringe ich es nicht zuwege, so könnt ihr euer Glück versuchen.“

Sie nickten. „Geh du nur, Peter Nord! Wir warten hier draußen.“

Peter Nord trat in den Laden, fand dort einen jungen Mann allein und fragte nach Halfvorson. Er bekam sogleich den Bescheid, daß dieser verreist war. Da fing er ein Gespräch mit dem Ladendiener an und erfuhr so mancherlei über seinen Herrn.

Halfvorson war wegen des Branntweinhandels gar nicht angeklagt worden. Wie er sich gegen Peter Nord benommen hatte, das wußte die ganze Stadt. Aber niemand sprach jetzt mehr von der Geschichte. Halfvorson hatte es weit gebracht, und jetzt war er nicht mehr so bösartig. Er war nicht mehr unbarmherzig gegen seine Schuldner und hatte aufgehört, dem Ladenjungen aufzulauern. In den allerletzten Jahren hatte er sich auf die Gärtnerei geworfen. Er hatte rings um das Haus in der Stadt einen Blumengarten angelegt und einen Küchengarten draußen vor dem Stadttor. Jetzt arbeitete er so eifrig in seinen Gärten, daß er kaum mehr daran dachte, Geld zu sammeln.

Peter Nord gab es einen Stich ins Herz. Natürlich war der Mann gut. Er hatte im Paradies bleiben dürfen. Natürlich wurde man gut, wenn man hier wohnte.

Edith Halfvorson lebte noch beim Onkel, aber sie war jetzt krank. Seit sie im Winter die Lungenentzündung gehabt hatte, war ihre Brust schwach.

Während Peter Nord sich dies und noch mehr erzählen ließ, standen die drei Männer draußen und warteten.

In Halfvorsons schattenlosem Garten hatte man eine Birkenlaube errichtet, damit Edith sich dort an den schönen, warmen Frühlingstagen aufhalten konnte. Sie kam nur langsam wieder zu Kräften, aber für ihr Leben bestand keine Gefahr mehr.

Bei einigen ist es so, daß man glauben muß, sie wollen nicht leben. Bei der ersten Krankheit, die sie befällt, legen sie sich hin, um zu sterben. Halfvorsons Nichte war schon längst aller Dinge müde, des Kontors, des kleinen trüben Ladens, des Gelderwerbes. Als sie siebzehn Jahre alt war, reizte es sie, sich einen vornehmen Verkehr und einen guten Freundeskreis zu erkämpfen. Dann setzte sie sich das Ziel, Halfvorson auf den Weg der Tugend zu bringen, aber jetzt war alles erreicht. Sie sah keine Möglichkeit, aus dem Einerlei des Kleinstadtlebens herauszukommen. Sie wollte gerne sterben.

Sie war eine der elastischen, eine der Stahlfedernaturen. Nichts als Nerven und Lebendigkeit, wenn etwas sie drückte und quälte. Wie hatte sie sich doch mit List und Verstellung, mit weiblicher Güte und weiblichem Trotz gemüht, bis sie ihren Oheim dahin gebracht hatte, einzusehen, daß weitre Peter Nord-Geschichten nicht mehr vorkommen dürften! Aber jetzt war er zahm und gebändigt, und sie hatte nichts mehr, was sie fesselte. Ja, und nun sollte sie doch nicht sterben! Sie lag da und dachte nach, was sie anfangen sollte, wenn sie gesund wurde.

Plötzlich fuhr sie zusammen. Jemand hatte sehr laut gesagt, er wolle allein zu Halfvorson gehen und seine Angelegenheit mit ihm abmachen. Und dann antwortete ein andrer: „Geh du nur, Peter Nord!“

Aber Peter Nord war ja der furchtbarste, der unglückseligste Name auf der Welt. Er bedeutete ja ein Wiedererwachen aller der alten Abscheulichkeiten. Edith richtete sich bebend auf, und gerade da kamen drei unheimliche Gestalten um die Ecke und stellten sich vor sie hin und starrten sie an. Nur ein niedriges Staket und eine dünne Hecke lag zwischen ihr und der Straße.

Edith war allein. Die Mägde waren zum Melken gegangen, und Halfvorson arbeitete in seinem Garten vor der Stadt, obgleich er dem Ladenjungen aufgetragen hatte, zu sagen, daß er verreist sei, denn er schämte sich seiner Gärtnermarotte. Edith fürchtete sich schrecklich vor den drei Männern sowie vor dem, der in den Laden gegangen war. Sie war überzeugt, daß sie ihr etwas zuleide tun wollten, und darum begann sie über die schlüpfrigen, steilen Pfade und die kleinen, morschen Holzstufen, die von Terrasse zu Terrasse führten, den Berg hinaufzulaufen.

Den fremden Männern war es ein Hauptspaß, daß sie vor ihnen davonlief. Sie konnten es sich nicht versagen, sich so zu stellen, als wenn sie sie einholen wollten. Einer von ihnen kletterte auf das Staket, und alle drei brüllten mit furchtbarer Stimme.

Edith lief, so wie man im Traume läuft, keuchend, strauchelnd, in Todesangst, mit der entsetzlichen Empfindung, nicht von der Stelle zu kommen. Alle erdenklichen Gefühle stürmten auf sie ein und erschütterten sie so sehr, daß sie glaubte sterben zu müssen. Ja, wenn einer dieser Kerle sie nur mit der Hand berührte, wußte sie, daß sie sterben mußte. Als sie die oberste Terrasse erreicht hatte und es wagte, sich umzusehen, merkte sie, daß die Männer unten auf der Straße standen und gar nicht mehr nach ihr hinsahen. Da ließ sie sich ganz ohnmächtig zu Boden sinken. Aber die Anstrengung war zu groß gewesen, sie hatte sie nicht ertragen können. Sie fühlte, wie etwas in ihr riß. Gleich darauf strömte Blut über ihre Lippen.

Die Mägde fanden sie, als sie vom Melken heimkamen. Für diesmal wurde sie ins Leben zurückgerufen. Aber dennoch wagte niemand zu hoffen, daß sie lange am Leben bleiben würde.

Sie konnte an diesem Tage nicht soviel sprechen, um zu erzählen, in welcher Weise sie erschreckt worden war. Hätte sie es getan, wer weiß, ob die fremden Männer lebendig aus der Stadt gekommen wären. Es erging ihnen ohnehin schlimm genug. Denn nachdem Peter Nord wieder zu ihnen herausgekommen war und erzählt hatte, daß Halfvorson nicht daheim sei, gingen sie alle vier im besten Einvernehmen durch das Stadttor und suchten sich einen sonnigen Abhang, wo sie die Zeit, bis der Kaufmann zurückkehrte, verschlafen konnten.

Aber als am Nachmittag alle Männer der Stadt, die draußen auf dem Felde gearbeitet hatten, wieder heimkamen, erzählten ihnen die Frauen von dem Besuch der Landstreicher, von ihren drohenden Fragen im Laden, wo sie Bier gekauft hatten, und ihrem ganzen herausfordernden Auftreten. Die Frauen vergrößerten und übertrieben die Sache, denn sie hatten den ganzen Nachmittag daheim gesessen und sich gegenseitig Angst gemacht. Die Männer glaubten Haus und Heim bedroht. Sie beschlossen, die Friedensstörer zu greifen, wählten einen beherzten Mann zum Anführer, nahmen tüchtige Knüttel mit und zogen von dannen.

Nun kam Leben in die Stadt. Die Frauen traten vor die Haustüren und machten einander bange. Die Stimmung war zugleich unheimlich und erwartungsvoll.

Es dauerte nicht lange, so kamen die Jäger mit ihrer Beute zurück. Sie hatten alle vier. Sie hatten sie im Schlafe umzingelt und sie gefangen. Das Kunststück hatte gerade keinen besondern Heldenmut erfordert.

Jetzt kehrten sie mit ihnen in die Stadt zurück, indem sie sie wie Vieh vor sich hertrieben. Der Taumel des Rachedurstes hatte sich der Sieger bemächtigt. Sie schlugen, um zu schlagen. Wenn einer von den Gefangenen die Faust gegen sie ballte, bekam er einen Schlag auf den Kopf, der ihn umwarf, und dann hagelten die Schläge auf ihn nieder, bis er sich erhob und weiterging. Die vier Männer waren dem Tode nahe.

 

Es ist so schön in den alten Liedern. Da muß zuweilen der gefangne Held in Fesseln im Triumphzug des siegreichen Feindes schreiten. Aber er ist auch im Unglück noch stolz und schön, und die Blicke suchen ihn ebenso wie den Glücklichen, der ihn besiegt hat. Die Kränze und die Tränen der Schönheit gehören dem noch im Unglück Beneidenswerten.

Aber wer wollte wohl für den armen Peter Nord schwärmen? Sein Rock war zerrissen und sein flachsblondes Haar klebrig von Blut. Er bekam die meisten Schläge, denn er leistete am meisten Widerstand. Ganz schrecklich sah er aus, wie er da einherging. Er brüllte, ohne es zu wissen. Jungens hängten sich an ihn fest, und er schleppte sie lange Strecken weit mit. Einmal blieb er stehen und schleuderte all das Kleinzeug auf die Straße. Gerade als er im Begriff war zu entfliehen, bekam er mit einem Knüttel einen Schlag auf den Kopf und fiel zu Boden. Er fuhr wieder in die Höhe, halb betäubt, und schwankte weiter, während Peitschenhiebe auf ihn herabhagelten und die Jungen sich ihm wie Blutegel an Arme und Beine hängten.

So begegneten sie dem alten Ratsherrn, der von seiner Whistpartie im Wirtshausgarten kam. „So, so,“ sagte er zum Vortrab, „ihr wollt die in den Kotter bringen?“

Und er stellte sich an die Spitze des Zugs und ordnete ihn. Augenblicklich sah alles anständig aus. Gefangne und Gefangnenwächter marschierten in Frieden und Ordnung weiter. Doch die Wangen der Städter glühten, einige stießen mit den Knütteln auf das Pflaster, andre schulterten sie wie Gewehre. Und dann wurden die Gefangnen der Stadt der Polizei in Gewahrsam gegeben und in das Arrestlokal auf dem Marktplatz geführt.

Die Retter der Stadt blieben noch lange auf dem Markte stehen und sprachen von ihrem Mute und von der großen Heldentat. Und in der kleinen Gaststube, wo der Rauch so dicht wie eine Wolke steht und gewichtige Männer ihren Mitternachtstoddy brauen, da taucht die Heldentat vergrößert wieder auf. Da wachsen die in den Schaukelstühlen, da blähen sich die in den Sofaecken, da sind sie alle Helden. Welche Tatkraft schlummert doch in der kleinen Stadt der großen Erinnerungen! Du furchtbares Erbteil, du altes Wikingerblut!

Doch dem alten Ratsherrn wollte die Sache nicht recht gefallen. Er konnte sich nicht recht damit befreunden, daß das Wikingerblut wieder in Wallung geraten war. Und dieser Gedanke ließ ihn nicht schlafen, er ging wieder auf die Straße und schlenderte gemächlich dem Marktplatze zu.

Das kleine Städtchen lag in dem sanften Licht der Frühlingsnacht da. Der einzige Zeiger der Turmuhr wies auf elf. Über die Kegelbahn rollten keine Kugeln mehr. Die Rollgardinen waren herabgelassen. Es war, als wenn die Häuser mit gesenkten Lidern schliefen. Die lotrecht aufsteigenden Berge standen schwarz, wie in tiefer Trauer da. Aber mitten in all dem Schlummer wachte jemand – der Blumenduft schlief nicht! Der schlich sich über die Lindenhecken, stürmte aus den Gärten, jagte die Straße hinauf und hinab, kletterte zu jedem Fenster empor, das angelehnt stand, zu jeder Dachluke, die frische Luft einließ.

Jeder, zu dem der Blumenduft drang, sah alsogleich seine ganze kleine Stadt vor sich, obgleich die Dunkelheit sich leise auf sie herabgesenkt hatte. Er sah sie als die Stadt der Blumen, wo nicht Haus an Haus lag, sondern Garten an Garten. Er sah die Kirschbäume, die weiße Bogen über den steilen Waldweg spannten, die Fliederbüsche, die Knospen, die zu prächtigen Rosen schwollen, die stolzen Päonien, und die Haufen von Blütenblättern auf dem Boden unter den Faulbäumen.

Der alte Ratsherr ging in tiefe Gedanken versunken. Er war so weise und so alt. Das siebzigste Jahr hatte er erreicht, und fünfzig Jahre hatte er die Geschicke der Stadt gelenkt. Aber in dieser Nacht fragte er sich, ob er recht getan habe, wenn er immer gedämpft und beschwichtigt hatte. „Ich hatte die Stadt in meiner Hand,“ dachte er, „aber ich habe sie nicht zu etwas Großem gemacht.“ Und er gedachte ihrer großen Vergangenheit und zweifelte immer mehr, ob er auch recht getan habe.

Er stand unten auf dem Markt, da, wo die Aussicht sich über den Fluß eröffnet. Ein Boot kam herangerudert. Ein paar Städter kehrten von einer Ausfahrt zurück. Lichtgekleidete Mädchen führten die Ruder. Sie steuerten unter die Brückenwölbung, aber da war die Strömung so stark, daß sie sie zurücktrieb. Es gab einen heftigen Kampf. Ihre schlanken Körper bogen sich nach rückwärts, bis sie in einer Linie mit dem Bootrande lagen. Weiche Armmuskeln spannten sich. Die Ruder krümmten sich wie Bogen. Lachen und Rufe erfüllten die Luft. Einmal ums andre siegte die Strömung. Schmählich wurde das Boot zurückgetrieben. Und als die Mädchen schließlich am Marktkai landen und es den Männern überlassen mußten, das Boot heimzubringen, wie waren sie rot und ärgerlich und wie lachten sie! Und wie klang ihr Lachen die Straße hinab! Wie belebten ihre breitrandigen, lichten Hüte, ihre leichten, flatternden Sommerkleider die stille Nacht.

Da tauchten vor den Gedanken des alten Ratsherrn, denn im Dunkel konnte er sie nicht klar sehen, ihre lieblichen, jungen Gesichtchen, ihre schönen, klaren Augen und ihre roten Lippen auf. Da richtete er sich stolz in die Höhe. Die kleine Stadt war doch nicht ohne allen Glanz. Andre Gemeinwesen konnten sich andrer Dinge rühmen, aber keinen Ort kannte er, der reicher an dem augenerquickenden Reiz von Blumen und Frauen war.

Da dachte der Alte mit neuerwachtem Mut an sein Wirken. Nein, er brauchte nicht für die Zukunft der Stadt zu zittern. Eine solche Stadt brauchte sich nicht durch strenge Gesetze zu schützen.

Und so erbarmte er sich der armen Gefangnen. Er ging und weckte den Polizeimeister und sprach mit ihm. Und dieser dachte wie er. Sie gingen selbander zum Gefängnis und öffneten Peter Nord und seinen Kameraden die Tür.

Und daran tat die Obrigkeit recht. Denn die kleine Stadt ist wie die Venus von Milo. Sie hat lockenden Reiz, und ihr fehlen die festhaltenden Arme.