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Unsichtbare Bande: Erzählungen

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Er saß auf seinem Platz und weinte, schwer stöhnend. Die Gabe war ihm genommen. Er versuchte zu sprechen, versuchte es stumm für sich selbst. Worüber sollte er sprechen? Sein Schmerz war ihm genommen. Er hatte den Menschen jetzt nichts zu sagen, was er ihnen nicht sagen durfte. Er hatte kein Geheimnis einzukleiden. Er brauchte die Dichtung nicht. Die Dichtung wich von ihm.

Es war eine Todesangst. Es war ein Kampf ums Leben. Er wollte das festhalten, was schon gegangen war. Er wollte seinen Schmerz wieder haben, um wieder sprechen zu können. Sein Schmerz war dahin. Er konnte ihn nicht wiederfinden.

Wie ein Betrunkner schwankte er zur Estrade, wieder und immer wieder. Er stammelte einige sinnlose Worte. Er leierte wie eine auswendig gelernte Lektion das herunter, was er andre sagen gehört hatte. Er versuchte, sich selbst nachzuahmen. Er spähte nach Andacht in den Blicken, nach bebendem Schweigen, nach hastigem Atmen. Er vernahm nichts. Was seine Freude gewesen, war von ihm genommen.

Er sank in das Dunkel zurück. Er verfluchte es, daß er mit seinen Reden Frau und Tochter bekehrt hatte. Er hatte das Köstlichste besessen und es verloren. Seine Verzweiflung war furchtbar. – Aber nicht von solchem Schmerz lebt der Genius.

Er war ein Maler ohne Hände, ein Sänger, der seine Stimme verloren hat. Er hatte nur von seinem Schmerz gesprochen. Wovon sollte er jetzt reden?

Er betete: „O Gott, da die Ehre stumm ist, aber die Verkanntheit spricht! gib mir die Verkanntheit wieder! Da das Glück stumm ist, aber der Schmerz spricht, gib mir den Schmerz wieder!“

Aber die Krone war ihm genommen. Er saß da, elender als der Elendeste, denn er war von den Höhen des Lebens herabgestürzt. Er war ein gefallener König.

Ein Weihnachtsgast

Einer von denen, die das Kavaliersleben auf Ekeby mitgelebt hatten, war der kleine Ruster, der Noten transponieren und Flöte spielen konnte. Er war von niedriger Herkunft und arm, ohne Heim und ohne Familie. Es brachen schwere Zeiten für ihn an, als die Schar der Kavaliere sich zerstreute.

Nun hatte er kein Pferd und keinen Wagen mehr, keinen Pelz und keine rotgestrichene Proviantkiste. Er mußte zu Fuß von Gehöft zu Gehöft ziehen und trug seine Habseligkeiten in ein blaukariertes Taschentuch eingebunden. Den Rock knöpfte er bis zum Kinn hinauf zu, so daß niemand zu erfahren brauchte, wie es um das Hemd und die Weste bestellt war, und in dessen weiten Taschen verwahrte er seine kostbarsten Besitztümer: die auseinandergeschraubte Flöte, die flache Schnapsflasche und die Notenfeder.

Sein Beruf war, Noten abzuschreiben, und wenn alles gewesen wäre wie in alten Zeiten, so hätte es ihm nicht an Arbeit gefehlt. Aber mit jedem Jahre, das ging, wurde die Musik oben in Wermland weniger gepflegt. Die Gitarre mit ihrem morschen Seidenband und ihren gelockerten Schrauben und das bucklige Waldhorn mit den verblichnen Quasten und Schnüren wurden auf die Rumpelkammer geschafft, und der Staub legte sich fingerdick auf den langen, eisenbeschlagnen Geigenkasten. Doch, je weniger der kleine Ruster mit Flöte und Notenfeder zu tun bekam, desto mehr hantierte er mit der Schnapsflasche, und schließlich wurde er ganz versoffen. Es war schade um den kleinen Ruster.

Einstweilen wurde er noch als alter Freund auf den Herrenhöfen aufgenommen, aber es herrschte Jammer, wenn er kam, und Freude, wenn er ging. Er roch nach Branntwein und Unsauberkeit, und wie er nur ein paar Schnäpse oder einen Toddy bekommen hatte, wurde er wirr und erzählte unerquickliche Geschichten. Er war die Geißel der gastfreien Gutshöfe.

Einmal um die Weihnachtszeit kam er nach Löfdala, wo Liljekrona, der große Violinspieler, daheim war. Liljekrona war auch einer der Ekebykavaliere gewesen, aber nach dem Tode der Majorin zog er auf sein prächtiges Gut Löfdala und verblieb dort. Nun kam Ruster in den Tagen vor dem Weihnachtsabend zu ihm, mitten in die Festvorbereitungen, und verlangte Arbeit. Liljekrona gab ihm einige Noten abzuschreiben, um ihn zu beschäftigen.

„Du hättest ihn lieber gleich fortschicken sollen,“ sagte seine Frau, „jetzt wird er das so in die Länge ziehen, daß wir ihn über den heiligen Abend hierbehalten müssen.“

„Irgendwo muß er doch sein,“ sagte Liljekrona. Und er bewirtete Ruster mit Toddy und Branntwein, leistete ihm Gesellschaft und lebte die ganze Ekebyer Zeit noch einmal mit ihm durch. Aber er war verstimmt und seiner überdrüssig, er, wie alle die andern, obgleich er es nicht merken lassen wollte, denn alte Freundschaft und Gastfreiheit waren ihm heilig.

Aber in Liljekronas Haus hatten sie sich nun drei Wochen lang für das Weihnachtsfest gerüstet. Sie hatten in Unbehagen und Hast gelebt, sich die Augen bei Talglichtern und Kienspänen rotgewacht, im Schuppen beim Fleischeinsalzen und im Bräuhaus beim Bierbrauen gefroren. Doch die Hausfrau sowohl wie die Dienstleute hatten sich all dem ohne Murren unterzogen.

Wenn alle Verrichtungen beendet waren und der heilige Abend anbrach, dann würde ein süßer Zauber sie gefangennehmen. Das Weihnachtsfest würde bewirken, daß Scherz und Spaß, Reim und Fröhlichkeit ihnen ohne alle Mühe auf die Lippen kam. Aller Füße würden Lust bekommen, sich im Tanze zu drehen, und aus den dunklen Winkeln der Erinnerung würden die Worte und Melodien der Tanzspiele auftauchen, obgleich man gar nicht glauben konnte, daß sie noch immer da waren. Und dann würden sie alle so gut sein, so gut!

Aber als nun Ruster kam, fand der ganze Haushalt von Löfdala, daß Weihnachten verdorben war. Die Hausfrau und die ältern Kinder und treuen Diener waren alle derselben Meinung. Ruster rief bei ihnen eine erstickende Angst hervor. Sie fürchteten überdies, daß, wenn er und Liljekrona anfingen, sich in den alten Erinnerungen zu tummeln, das Künstlerblut in dem großen Violinspieler aufflammen würde und sein Heim ihn verlieren mußte. Einst hatte es ihn nie lange daheim gelitten.

Es läßt sich nicht beschreiben, wie sie jetzt auf dem Hofe den Hausherrn liebten, seit sie ihn ein paar Jahre hatten bei sich behalten dürfen. Und was hatte er zu geben! Wie war er doch viel für sein Heim, besonders zu Weihnachten! Er hatte seinen Platz nicht auf irgendeinem Sofa oder Schaukelstuhl, sondern auf einer hohen, schmalen, glattgescheuerten Holzbank in der Kaminecke. Wenn er dort hinaufgekommen war, dann ritt er auf Abenteuer aus. Er fuhr rings um die Erde, er stieg zu den Sternen und noch höher empor. Er spielte und sprach abwechselnd, und alle Hausleute versammelten sich um ihn und hörten zu. Das ganze Leben wurde stolz und schön, wenn der Reichtum dieser einzigen Seele es überstrahlte.

Darum liebten sie ihn, so wie sie das Weihnachtsfest, die Freude, die Frühlingssonne liebten. Und als nun der kleine Ruster kam, war ihr Weihnachtsfriede zerstört. Sie hatten vergeblich gearbeitet, wenn nun dieser kam und den Herrn des Hauses fortlockte. Es war ungerecht, daß dieser Säufer am Weihnachtstische eines frommen Hauses sitzen und alle Weihnachtsfreude stören sollte.

Am Vormittag des Weihnachtsabends hatte der kleine Ruster seine Noten fertiggeschrieben, und da ließ er ein paar Worte von Fortgehen fallen, obgleich es natürlich seine Absicht war, zu bleiben.

Liljekrona war von der allgemeinen Verstimmung angesteckt und sagte darum ganz lahm und matt, daß es wohl das beste wäre, wenn Ruster über Weihnachten da bliebe, wo er war.

Der kleine Ruster war stolz und leicht entflammt. Er drehte seinen Schnurrbart auf und schüttelte die schwarze Künstlermähne, die gleich einer dunklen Wolke um seinen Kopf stand. Was meinte Liljekrona eigentlich? Er sollte bleiben, weil er nirgends andershin fahren konnte? Ah, man denke nur, wie sie in den großen Eisenwerken im Broer Kirchspiel standen und auf ihn warteten! Die Gaststube war bereit, der Willkommensbecher gefüllt. Er hatte solche Eile. Er wußte nur nicht, zu wem er zuerst fahren sollte.

„Gott bewahre,“ sagte Liljekrona, „so fahre doch.“

Nach dem Mittagessen lieh sich der kleine Ruster Pferd und Schlitten, Pelz und Decken. Der Knecht von Löfdala sollte ihn zu irgendeinem Gutshof in Bro kutschieren und dann rasch heimfahren, denn es sah nach einem Schneesturm aus.

Niemand glaubte, daß er erwartet wurde, oder daß es ein einziges Haus in der Umgegend gab, wo er willkommen gewesen wäre. Aber sie wollten ihn so gerne los werden, daß sie sich dies verhehlten und ihn ziehen ließen. „Er hat es selbst gewollt,“ sagten sie. Und nun, dachten sie, wollten sie fröhlich sein.

Aber als sie sich gegen fünf Uhr im Eßsaal versammelten, um Tee zu trinken und um den Christbaum zu tanzen, war Liljekrona stumm und verstimmt. Er setzte sich nicht auf die Märchenbank, er berührte weder Tee noch Punsch, er erinnerte sich an keine Polka, die Violine war verstimmt. Wer spielen und tanzen konnte, mochte es ohne ihn tun.

Da wurde die Gattin unruhig, da wurden die Kinder mißvergnügt, alles im ganzen Hause ging verkehrt. Es wurde der allertrübseligste Weihnachtsabend.

Die Grütze brannte an, die Lichter flackerten, das Holz rauchte, der Wind blies bittere Kälte in die Stuben. Der Knecht, der Ruster kutschiert hatte, kam nicht heim. Die Haushälterin weinte, die Mägde zankten.

Plötzlich erinnerte sich Liljekrona, daß man den Spatzen keine Garbe hinausgehängt hatte, und er beklagte sich laut über alle Frauen rings um ihn, die alte Sitte außer acht ließen und neumodisch und herzlos waren. Aber sie begriffen wohl, daß das, was ihn quälte, die Gewissensbisse waren, daß er den kleinen Ruster am heiligen Weihnachtsabend aus seinem Hause hatte fortgehen lassen.

Und ehe man sich's versah, ging er in sein Zimmer, versperrte die Tür und begann zu spielen, wie er nicht gespielt, seit er zu wandern aufgehört hatte. Es war Haß und Hohn, es war Sehnsucht und Sturm. Ihr dachtet mich zu binden, aber ihr müßt eure Fesseln umschmieden. Ihr dachtet, mich kleinsinnig zu machen, wie ihr selbst seid. Aber ich ziehe hinaus ins Große, ins Freie. Alltagsmenschen, Haussklaven, fanget mich, wenn es in eurer Macht steht!

 

Als die Gattin diese Töne hörte, sagte sie: „Morgen ist er fort, wenn Gott nicht in dieser Nacht ein Wunder tut. Jetzt hat unsre Ungastfreundlichkeit gerade das hervorgerufen, was wir vermeiden zu können glaubten.“

Indessen fuhr der kleine Ruster in dem Schneetreiben herum. Er fuhr von einem Hause zum andern und fragte, ob es Arbeit für ihn gäbe, aber nirgends wurde er aufgenommen. Sie forderten ihn nicht einmal auf, aus dem Schlitten zu steigen. Einige hatten das Haus voll Besuch, andre wollten am Weihnachtstage über Land fahren. „Versuche es beim nächsten Nachbar,“ sagten sie alle.

Er mochte immerhin kommen und das Behagen von ein paar Werktagen stören, nicht aber das des Weihnachtsabends. Das Jahr hatte nur einen Weihnachtsabend, und auf den hatten sich die Kinder den ganzen Herbst gefreut. Man konnte doch diesen Menschen nicht an einen Weihnachtstisch setzen, wo es Kinder gab. Früher hatten sie ihn gern aufgenommen, aber nicht jetzt, wo er dem Trunk ergeben war. Was sollte man auch mit dem Menschen anfangen? Die Gesindestube war zu schlecht und das Gastzimmer zu fein.

So mußte der kleine Ruster von Hof zu Hof ziehen, in dem peitschenden Schneesturm. Der nasse Schnurrbart hing schlaff über den Mund, die Augen waren blutgesprengt und verschleiert, aber der Branntwein verflüchtete sich aus seinem Hirn. Ruster begann zu grübeln und zu staunen. War es möglich, war es möglich, daß niemand ihn aufnehmen wollte?

Da sah er mit einem Male sich selbst. Er sah, wie jämmerlich und verkommen er war, und er begriff, daß er den Menschen verhaßt sein mußte. Mit mir ist es aus, dachte er. Es ist aus mit dem Notenschreiben, es ist aus mit der Flöte. Niemand auf Erden braucht mich, niemand hat Barmherzigkeit mit mir.

Der Schneesturm schnurrte und spielte, er riß die Schneehaufen auf und türmte sie wieder zusammen, er nahm eine Schneesäule in die Arme und tanzte damit übers Feld, er hob eine Flocke himmelhoch und stürzte eine andre in eine Grube. „So ist es, so ist es,“ sagte der kleine Ruster, „solange man fährt und tanzt, ist es ein fröhlich Spiel, doch wenn man hinab in die Erde soll, dort eingebettet und verwahrt werden, dann ist es Kummer und Herzeleid.“ Doch hinab mußten alle, und jetzt war er an der Reihe. Man denke, daß er nun zum Ende gekommen war.

Er fragte nicht mehr danach, wohin der Knecht ihn führte. Es deuchte ihn, daß er in das Reich des Todes fuhr.

Der kleine Ruster verbrannte keine Götter auf dieser Fahrt. Er verfluchte weder das Flötenspiel noch das Kavaliersleben, er dachte nicht, daß es besser für ihn gewesen wäre, wenn er die Erde gepflügt oder Schuhe genäht hätte. Aber darüber klagte er, daß er nun ein ausgespieltes Instrument war, das die Freude nicht mehr gebrauchen konnte. Niemanden klagte er an, denn er wußte, wenn das Waldhorn gesprungen ist und die Gitarre die Stimmung nicht hält, dann müssen sie fort. Er wurde plötzlich ein sehr demütiger Mann. Er begriff, daß es mit ihm zu Ende ging, jetzt am Weihnachtsabend. Der Hunger oder die Kälte würde ihn umbringen, denn er verstand nichts, er taugte zu nichts und hatte keine Freunde.

Da bleibt der Schlitten stehen, und auf einmal ist es hell um ihn, und er hört freundliche Stimmen, und da ist jemand, der ihn in ein warmes Zimmer führt, und jemand, der heißen Tee in ihn gießt. Der Pelz wird ihm abgenommen, und mehrere Menschen rufen, daß er willkommen ist, und warme Hände reiben Leben in seine erstarrten Finger.

Von alledem wurde ihm so wirr im Kopfe, daß er wohl eine Viertelstunde nicht zur Besinnung kam. Er konnte unmöglich begreifen, daß er wieder nach Löfdala gekommen war. Er war sich gar nicht bewußt gewesen, daß der Knecht es satt bekommen hatte, im Schneesturm herumzufahren und nach Hause umgekehrt war.

Ebensowenig verstand er, warum er jetzt in Liljekronas Haus so freundlich empfangen wurde. Er konnte nicht wissen, daß Liljekronas Gattin begriff, welche schwere Fahrt er an diesem Weihnachtsabend getan hatte, wo man ihn an jeder Tür, an die er klopfte, abgewiesen hatte. Sie hatte so großes Mitleid mit ihm bekommen, daß sie ihre eigenen Sorgen vergaß.

Liljekrona fuhr drinnen in seinem Zimmer mit dem wilden Spielen fort. Er wußte nichts davon, daß Ruster gekommen war. Dieser saß indessen im Speisesaal mit der Frau und den Kindern. Die Dienstleute, die am Weihnachtsabend auch da zu sein pflegten, waren vor der Langweile bei der Herrschaft in die Küche geflüchtet.

Die Hausfrau säumte nicht, Ruster ans Werk zu setzen. „Sie hören ja, Ruster,“ sagte sie, „daß Liljekrona den ganzen Abend nichts andres tut als spielen, und ich muß nach dem Tischdecken und dem Essen sehen. Die Kinder sind rein verlassen. Sie müssen sich der zwei Kleinsten annehmen, Ruster.“

Kinder, das war ein Menschenschlag, mit dem Ruster am wenigsten in Berührung gekommen war. Er hatte sie weder im Kavaliersflügel noch im Soldatenzelt getroffen, weder in Gasthöfen noch auf Landstraßen. Er scheute sich beinahe vor ihnen und wußte nicht, was er sagen sollte, das fein genug für sie war.

Er nahm die Flöte hervor und lehrte sie, auf Klappen und Löchern zu fingern. Es war ein vierjähriges und ein sechsjähriges Bübchen. Sie bekamen eine Lektion auf der Flöte, und das interessierte sie sehr. „Das ist A,“ sagte er, „und das ist C,“ und dann griff er die Töne. Da wollten die Kleinen wissen, was für ein A und was für ein C das war, das gespielt werden sollte.

Da nahm Ruster Notenpapier heraus und zeichnete ein paar Noten.

„Nein,“ sagten sie, „das ist nicht richtig.“ Und sie eilten fort und holten ein Abcbuch.

Da fing der kleine Ruster an, sie das Alphabet zu überhören. Sie konnten und konnten nicht. Es sah windig aus mit ihren Kenntnissen. Ruster wurde eifrig, hob die Knirpschen jeden auf ein Knie und begann sie zu unterrichten. Liljekronas Frau ging aus und ein und hörte ganz erstaunt zu. Es klang wie ein Spiel, und die Kinder lachten die ganze Zeit, aber sie lernten dabei, ja, das taten sie.

Ruster fuhr ein Weilchen fort, aber er war nicht recht bei dem, was er tat. Er wälzte die alten Gedanken vom Schneesturm in seinem Kopfe. Dies war gut und behaglich, aber mit ihm war es doch auf jeden Fall aus. Er war verbraucht. Er würde fortgeworfen werden. Und urplötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

Da kam Liljekronas Frau hastig auf ihn zu.

„Ruster,“ sagte sie, „ich kann verstehen, daß Sie glauben, für Sie sei alles aus. Es geht Ihnen nicht mit der Musik, und Sie richten sich durch den Branntwein zugrunde. Aber es ist noch nicht aus, Ruster.“

„Doch,“ schluchzte der kleine Flötenspieler.

„Sehen Sie, so wie heute abend mit den Kleinen dazusitzen, das wäre etwas für Sie. Wenn Sie die Kinder lesen und schreiben lehren wollten, dann würden Sie wieder überall willkommen sein. Das ist kein geringres Instrument, um darauf zu spielen, Ruster, als Flöte und Violine. Sehen Sie sie an, Ruster!“

Sie stellte die zwei Kleinen vor ihn hin, und er sah auf, blinzelnd, so, als hätte er in die Sonne gesehen. Es war, als fiele es seinen kleinen trüben Augen schwer, denen der Kinder zu begegnen, die groß und klar und unschuldig waren.

„Sehen Sie sie an, Ruster!“ ermahnte Liljekronas Frau.

„Ich getraue mich nicht,“ sagte Ruster, denn es war ihm wie ein Fegefeuer, durch die schönen Kinderaugen in die Schönheit der unbefleckten Seelen zu schauen.

Da lachte Liljekronas Frau hell und froh auf. „Dann sollen Sie sich an sie gewöhnen, Ruster. Sie sollen dieses Jahr als Schulmeister in meinem Hause bleiben.“

Liljekrona hörte seine Frau lachen und kam aus seinem Zimmer.

„Was gibt es?“ sagte er. „Was gibt es?“

„Nichts andres,“ antwortete sie, „als daß Ruster wiedergekommen ist, und daß ich ihn zum Schulmeister für unsre kleinen Jungen bestellt habe.“

Liljekrona war ganz verblüfft. „Wagst du das,“ sagte er, „wagst du es? Er hat wohl versprochen, nie mehr …“

„Nein,“ sagte die Frau, „Ruster hat nichts versprochen. Aber er wird sich vor mancherlei in acht nehmen müssen, wenn er jeden Tag kleinen Kindern in die Augen sehen soll. Wäre es nicht Weihnachten, hätte ich dies vielleicht nicht gewagt, aber wenn unser Herrgott es wagte, ein kleines Kindlein, das sein eigner Sohn war, unter uns Sünder zu setzen, dann kann ich es wohl auch wagen, meine kleinen Kinder versuchen zu lassen, einen Menschen zu retten.“

Liljekrona konnte gar nicht sprechen, aber es zitterte und zuckte in jeder Falte seines Gesichts, wie immer, wenn er etwas Großes hörte.

Dann küßte er seiner Frau die Hand, so fromm wie ein Kind, das um Verzeihung bittet, und rief laut: „Alle Kinder sollen kommen und Mutter die Hand küssen.“

Das taten sie, und dann hatten sie ein fröhliches Weihnachtsfest in Liljekronas Heim.

Onkel Ruben

Es war einmal vor nun bald achtzig Jahren ein kleiner Junge, der auf dem Marktplatz mit seinem Kreisel spielte. Der kleine Junge hieß Ruben. Er war nicht mehr als drei Jahre, aber er schwenkte seine kleine Peitsche so tapfer als nur irgendeiner und ließ das Kreisel schnurren, daß es eine wahre Freude war.

An diesem Tage vor achtzig Jahren war wunderschönes Frühlingswetter. Der Monat März war gekommen, und die Stadt war in zwei Welten geteilt, eine weiße und warme, wo Sonnenschein herrschte, und eine kalte und dunkle, wo Schatten war. Der ganze Marktplatz gehörte dem Sonnenschein, bis auf einen schmalen Rand der einen Häuserreihe entlang.

Nun geschah es, daß der kleine Junge, so tapfer er auch war, müde davon wurde, seinen Kreisel schnurren zu lassen, und sich nach einem Ruheplatz umsah. Ein solcher war nicht schwer zu finden. Es gab zwar keine Sessel oder Bänke, aber jedes Haus war mit einer Steintreppe versehen. Der kleine Ruben konnte sich nichts Besseres denken.

Er war ein gewissenhaftes kleines Bürschchen. Er hatte eine dunkle Ahnung, daß Mutter es nicht wollte, daß er auf fremder Leute Treppenstufen sitze. Mutter war arm, aber gerade darum durfte es nie so aussehen, als ob man andern etwas nehmen wollte. So ging er und setzte sich auf ihre eigne Steintreppe, denn sie wohnten auch am Marktplatz.

Diese Stufen lagen im Schatten, und da war es richtig kalt. Der Kleine lehnte den Kopf an das Geländer, zog die Beine hinauf und fühlte sich so wohl wie nie zuvor. Ein kleines Weilchen sah er noch, wie der Sonnenschein draußen über den Markt tanzte, wie Jungen umhersprangen und Kreisel schnurrten – dann schloß er die Augen und schlummerte ein.

Er schlief wohl eine ganze Stunde. Als er erwachte, war ihm nicht so wohl zumute, wie als er einschlummerte, sondern alles schien so furchtbar unbehaglich. Er lief zu Mutter hinein und weinte, und Mutter sah, daß er krank war und legte ihn ins Bett. Und nach ein paar Tagen war der Knabe tot.

Aber damit ist seine Geschichte nicht zu Ende. Es kam nämlich so, daß seine Mutter ihn so recht aus tiefstem Herzensgrund betrauerte, mit solch einem Schmerz, der den Jahren und dem Tode trotzt. Mutter hatte noch mehrere andre Kinder, viele Sorgen nahmen ihre Zeit und ihre Gedanken in Anspruch, aber es gab immer noch einen Raum in ihrem Herzen, wo ihr Sohn Ruben ganz ungestört hausen konnte. Für sie blieb er stets lebendig. Sah sie eine Kinderschar auf dem Marktplatz spielen, so sprang er da mit herum, und wenn sie dann im Hause arbeitete und aufräumte, so glaubte sie steif und fest, daß der Kleine noch draußen auf der gefährlichen Steinstufe saß und schlief. Sicherlich war keines von Mutters lebenden Kindern ihren Gedanken so gegenwärtig wie das tote.

Einige Jahre nach seinem Tode bekam der kleine Ruben ein Schwesterchen, und als diese so alt wurde, daß sie draußen auf dem Marktplatz herumlaufen und Kreisel spielen konnte, geschah es, daß auch sie sich auf die Steinstufe setzte, um auszuruhen. Aber in demselben Augenblick hatte Mutter das Gefühl, als ob jemand sie am Rocke zupfte. Sie lief sogleich hinaus und packte das kleine Schwesterchen so hart an, als sie sie aufhob, daß diese sich daran erinnerte, solange sie lebte.

Und noch weniger vergaß sie, wie merkwürdig Mutters Gesicht ausgesehen und wie ihre Stimme gezittert hatte, als sie sagte: „Weißt du, daß du einmal einen kleinen Bruder hattest, der Ruben hieß und der starb, weil er hier auf dieser Steinstufe saß und sich erkältete? Du willst doch nicht von Mutter wegsterben, Berta?“

Bruder Ruben wurde für seine Brüder und Schwestern bald ebenso lebendig wie für seine Mutter. Sie hatte eine Art, daß sie alle mit ihren Augen sahen, und bald hatten sie dieselbe Gabe wie sie, ihn draußen auf der Steinstufe sitzen zu sehen. Und natürlich fiel es keinem von ihnen ein, sich dort hinzusetzen. Ja, sobald sie irgend jemanden auf einer Steinstufe oder einem Steingeländer oder einem Stein am Wegesrand sitzen sahen, gab es ihnen einen Stich ins Herz, und sie mußten an Bruder Ruben denken.

 

Ferner geschah es Bruder Ruben, daß er von allen Geschwistern am höchsten gestellt wurde, wenn sie voneinander sprachen. Denn alle Kinder wußten ja, daß sie ein beschwerliches und lästiges Geschlecht waren, das Mutter nur Mühe und Sorge bereitete. Sie konnten nicht glauben, daß Mutter so sehr darüber trauern würde, einen von ihnen zu verlieren. Aber da Mutter Bruder Ruben wirklich betrauerte, so war es doch sicher, daß er viel, viel artiger gewesen sein mußte, als sie waren.

Es kam auch nicht so selten vor, daß eines von ihnen dachte: „Ach, wer doch Mutter soviel Freude machen könnte wie Bruder Ruben!“ Und dennoch wußte keines mehr von ihm, als daß er Kreisel gespielt und sich auf einer Steinstufe erkältet hatte. Aber er mußte ja merkwürdig gewesen sein, da Mutter eine solche Liebe zu ihm hatte.

Merkwürdig war es auch, er machte Mutter von allen Kindern am meisten Freude. Sie war Witwe geworden und arbeitete in Sorge und Not. Aber die Kinder hatten einen so festen Glauben an Mutters Trauer um den kleinen Dreijährigen, daß sie überzeugt waren, daß, wenn er nur am Leben geblieben wäre, Mutter sich ihr Unglück nicht so zu Herzen genommen hätte. Und jedesmal, wenn sie Mutter weinen sahen, glaubten sie, es sei, weil Bruder Ruben tot war, oder auch, weil sie selbst nicht so wie Bruder Ruben waren. Bald erwachte in ihnen allen eine immer stärkre Lust, mit dem kleinen Toten um Mutters Zuneigung zu wetteifern. Es gab nichts, was sie nicht für Mutter getan hätten, wenn sie ihnen nur ebenso gut sein wollte wie ihm. Und um dieser Sehnsucht willen meine ich, daß Bruder Ruben das nützlichste von allen Kindern Mutters war.

Denkt nur, als der älteste Bruder einen Fremden über den Fluß ruderte und damit seine ersten Groschen verdiente, da kam er und gab sie seiner Mutter, ohne sich auch nur einen einzigen Batzen zu behalten! Da sah Mutter so fröhlich aus, daß ihm das Herz vor Stolz schwoll, und er konnte nicht umhin, zu verraten, wie ungeheuer ehrgeizig er gewesen war.

„Mutter, bin ich jetzt nicht ebenso gut wie Bruder Ruben?“

Mutter sah ihn prüfend an. Es war, als vergliche sie sein frisches, strahlendes Gesicht mit dem kleinen blassen draußen auf den Steinstufen. Und Mutter hätte sicherlich gerne ja geantwortet, wenn sie gekonnt hätte, aber sie konnte nicht.

„Mutter hat dich sehr lieb, Ivan, aber so wie Bruder Ruben wirst du nie.“

Es war unerreichbar, das sahen alle Kinder ein, und dennoch konnten sie es nicht lassen, das Unerreichbare zu erstreben.

Sie wuchsen zu tüchtigen Menschen heran, arbeiteten sich zu Vermögen und Ansehen herauf, während Bruder Ruben nur still auf seiner Steinstufe saß. Aber er hatte dennoch einen Vorsprung. Er war nicht einzuholen.

Und bei jedem Fortschritt, bei jeder Verbesserung, als es ihnen so allmählich gelang, Mutter ein gutes Heim und Wohlstand zu bieten, mußte es Lohn genug für sie sein, wenn Mutter sagte: „Ach, daß mein kleiner Ruben das noch gesehen hätte!“

Bruder Ruben begleitete Mutter durch das ganze Leben bis zu ihrem Totenbett. Er war es, der den Todesqualen den Stachel nahm, wußte sie doch, daß sie sie zu ihm führten. Mitten im größten Jammer konnte Mutter bei dem Gedanken lächeln, daß sie ging, um dem kleinen Ruben zu begegnen.

Und so starb sie, deren treue Liebe einen kleinen Dreijährigen erhöht und vergöttert hatte.

Aber selbst da war die Geschichte des kleinen Ruben noch nicht zu Ende. Für alle seine Geschwister war er ein Symbol des arbeitsamen Lebens im Heim geworden, der Liebe zu Mutter, aller der rührenden Erinnerungen aus den Jahren der Mühe und des Mißerfolges. Es lag immer etwas Warmes und Schönes in ihrer Stimme, wenn sie von ihm sprachen. Es war Weihe und Feierstimmung um den kleinen Dreijährigen.

So glitt er auch in das Leben seiner Geschwisterkinder. Mutters Liebe hatte ihn zu einer Größe gemacht, und die Großen, die wirken und üben Einfluß Geschlecht für Geschlecht.

Schwester Berta hatte einen Sohn, der in recht nahe Berührung mit Onkel Ruben kam.

Er war vier Jahre an dem Tage, an dem er auf dem Bordsteinrande saß und in den Rinnstein hinabguckte. Der strömte von Regenwasser. Hölzchen und Halme schwammen mit abenteuerlichen Schwingungen das seichte Gewässer hinab. Der Kleine saß da und sah mit der Ruhe zu, die man empfindet, wenn man das abenteuerliche Dasein andrer verfolgt und selbst in Sicherheit ist.

Aber sein friedliches Philosophieren wurde von seiner Mutter unterbrochen, die in demselben Augenblick, in dem sie ihn sah, an die Steinstufe daheim und an den Bruder denken mußte.

„Ach, mein lieber kleiner Junge,“ sagte sie, „sitze nicht so da! Weißt du nicht, daß deine Mama einen kleinen Bruder hatte, der Ruben hieß und vier Jahre war, gerade so wie du jetzt? Er starb, weil er sich auf einen solchen Stein gesetzt und sich erkältet hatte.“

Dem Kleinen war es nicht willkommen, in seinen angenehmen Gedanken gestört zu werden. Er saß da und philosophierte, während sein blondes, lockiges Haar ihm bis in die Augen fiel.

Schwester Berta hätte es für keinen andern getan, aber um ihres lieben Bruders willen schüttelte sie den Kleinen recht unsanft. Und so lernte er Respekt vor Onkel Ruben.

Ein andres Mal war dieses blondlockige junge Herrchen auf dem Eise umgefallen. Er war aus purer Bosheit von einem großen, bösen Jungen umgeworfen worden, und da blieb er nun sitzen und weinte, um so recht zu zeigen, welches Unrecht ihm geschehen war, besonders da seine Mama nicht weit weg sein konnte.

Aber er hatte vergessen, daß seine Mutter doch zu allererst Onkel Rubens Schwester war. Als sie Axel auf dem Eise sitzen sah, da kam sie gar nicht begütigend und tröstend, sondern nur mit diesem ewigen:

„Sitze nicht so, mein kleiner Junge! Denke an Onkel Ruben, welcher starb, gerade als er fünf Jahre alt war, so wie du jetzt, weil er sich in einen Schneehaufen gesetzt hatte.“

Der Junge stand gleich auf, als er von Onkel Ruben sprechen hörte, aber er fühlte die Kälte bis ins Herz. Wie konnte Mama von Onkel Ruben erzählen, wenn ihr kleiner Junge so traurig war. Seinethalben konnte er sich schon hinsetzen und sterben, wo es ihm beliebte, aber jetzt war es, als wenn ihm dieser Tote seine eigne Mama nehmen wollte, und das konnte Axel nicht zulassen. So lernte er Onkel Ruben hassen.

Hoch oben im Stiegenaufgang daheim bei Axel war eine Steinbalustrade, auf der es schwindelnd herrlich zu sitzen war. Tief unten lag der Steinboden des Flurs, und wer oben rittlings saß, konnte träumen, daß er über Abgründe dahinzog. Axel nannte die Balustrade sein gutes Roß Grane. Auf seinem Rücken sprengte er über brennende Wallgräben in verzauberte Schlösser. Da saß er stolz und trotzig, während die großen Haarlocken von dem heftigen Anlauf wehten, und kämpfte Sankt Georgs Kampf mit dem Drachen. Und noch war es Onkel Ruben nicht eingefallen, dort reiten zu wollen.

Aber natürlich kam er. Gerade als der Drache sich in Todesängsten wand und Axel in stolzer Siegesgewißheit dasaß, hörte er das Kindermädchen rufen: „Axel, nicht da sitzen! Denke an Onkel Ruben, der starb, als er acht Jahre alt war, gerade wie du jetzt, weil er auf einem Steingeländer geritten ist. Hier darfst du nie mehr sitzen, Axel!“

Solch ein neidischer alter Dummerian, dieser Onkel Ruben! Er konnte es gewiß nicht ertragen, daß Axel Drachen tötete und Prinzessinnen rettete. Wenn er sich nicht hütete, wollte Axel zeigen, daß auch er Ruhm gewinnen konnte. Wenn er jetzt auf den Steinboden dort unten sprang und sich totschlug, dann würde er schon in den Schatten gestellt sein, dies große Lügenmaul!