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Gösta Berling: Erzählungen aus dem alten Wermland

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La cachucha

Streitroß, Streitroß! Du altes, das jetzt auf dem Felde grast. Gedenkst du deiner Jugend?

Gedenkst du des Schlachtentages, mutiges Roß? Du sprengtest voran, als trügen dich Flügel, deine Mähne flatterte über dir gleich wehenden Gluten, Blut und Schaum bedeckten deine schwarzen Flanken. In goldverziertem Zaum sprangst du dahin, das Feld erdröhnte unter deinem Hufschlag. Du zittertest vor Wonne, du mutiges Roß. Ach, wie schön du warst!

Über dem Kavalierflügel liegt graue Dämmerung. In dem großen Zimmer stehen die rot angestrichenen Kisten der Kavaliere an den Wänden, und ihre Sonntagskleider hängen in der Ecke. Der Schein aus dem Kamin fällt auf die weißgetünchten Wände und die gelb gewürfelten Gardinen, die die Alkoven in der Wand verbergen. Der Kavalierflügel ist kein königliches Gemach, kein Serail.

Aber Liliencronas Violine ertönt dort. Er spielt la cachucha in der Dämmerstunde.

Wieder und wieder spielt er sie.

Zerschneidet die Saiten, zertrümmert den Bogen! Weshalb spielt er diesen verdammten Tanz? Weshalb spielt er ihn gerade jetzt, wo Örneclou, der Fähnrich, im Bett liegt, von den heftigsten Gichtschmerzen geplagt, so daß er sich nicht rühren kann? Nein, entreißt ihm die Violine, werft sie gegen die Wand, wenn er nicht aufhören will!

La cachucha, soll die für uns sein, Maestro? Kann die auf den schwankenden Brettern des Kavalierflügels, zwischen den engen, von Rauch geschwärzten und mit Schmutz bedeckten Wänden, unter diesem niederen Dach getanzt werden? Wehe dir, wie du spielst!

La cachucha, soll die für uns Kavaliere sein? Draußen heult der Schneesturm. Willst du die Schneeflocken lehren, im Takt zu tanzen? Spielst du den leichtfüßigen Kindern des Schneekönigs zum Tanze auf?

Frauenkörper, die unter dem Pulsschlag des heißen Blutes zittern, kleine rußige Hände, die den Kochtopf beiseite schieben und zu den Kastagnetten greifen, nackte Füße unter hochgeschürzten Röcken, ein Hof mit Marmorfliesen, Zigeuner, die mit Sackpfeife und Tamburin am Boden kauern, maurische Bogengänge, Mondschein und schwarze Augen, hast du das, Maestro? Sonst laß deinen Bogen ruhen!

Die Kavaliere trocknen ihre nassen Kleider am Feuer. Können sie sich in hohen, eisenbeschlagenen Stiefeln mit fingerdicken Sohlen im Tanze schwingen? Den ganzen Tag sind sie durch ellenhohen Schnee gewatet, um dem Bären auf die Spur zu kommen. Glaubst du, daß sie in feuchten, dampfenden Frieskleidern tanzen mögen, mit dem zottigen Petz als Dame?

Sternenübersäter Abendhimmel, rote Rosen in dunklem Frauenhaar, berauschende Wärme in der Abendluft, angeborene Plastik in den Bewegungen, Liebe, von der Erde aufsteigend, vom Himmel herabregnend, in der Luft schwebend, hast du das, Maestro? Weshalb uns sonst dazu zwingen, uns nach alledem zu sehnen?

Du Grausamer, bläst du das Kompagniesignal für das angebundene Streitroß? Rutger von Örneclou liegt von Gichtschmerzen gefesselt in seinem Bett. Erspar ihm die Qual der schönen Erinnerungen! Auch er hat den Sombrero und das bunte Haarnetz getragen, auch er hat die Sammetjacke getragen und den Dolch im Gürtel. Schone den alten Örneclou, Maestro!

Aber Liliencrona spielt la cachucha, wieder und wieder la cachucha. Und Örneclou leidet wie der Liebende, der die Schwalbe den Weg zu der fernen Wohnung der Geliebten nehmen sieht, wie der lechzende Hirsch, der von den Verfolgern an der Quelle vorübergetrieben wird.

Liliencrona nimmt einen Augenblick die Violine unter dem Kinn fort.

»Fähnrich, entsinnst du dich der schönen Rosalie von Berger?«

Örneclou stößt einen gewaltigen Fluch aus.

»Sie war leicht wie eine Flamme. Sie glitzerte und tanzte wie der Diamant an der Spitze des Violinbogens. Du entsinnst dich ihrer wohl noch vom Theater in Karlstad? Wir sahen sie damals, als wir jung waren, entsinnst du dich dessen noch, Fähnrich?«

Ob sich der Fähnrich dessen entsinnt! Sie war klein und wild und sprühend wie Feuer. Sie konnte la cachucha tanzen! Sie lehrte alle die jungen Herren in Karlstad la cachucha tanzen und Kastagnetten schlagen. Auf dem Balle des Landrats tanzten der Fähnrich und Fräulein von Berger in spanischer Tracht la cachucha. Und er hatte so getanzt, wie man unter Feigenbäumen und Platanen tanzt – wie ein echter Spanier.

Niemand in ganz Wermland konnte die Cachucha tanzen wie er. Niemand außer ihm konnte sie so tanzen, daß es sich verlohnte, davon zu reden. Welchen Kavalier verlor nicht Wermland, als die Gicht seine Glieder steif machte und sich über den Gelenken große Knoten bildeten! Welch ein Kavalier war er, so schlank, so schön, so ritterlich! »Den schönen Örneclou« nannten ihn diese jungen Mädchen, die sich seinetwegen auf Lebenszeit verfeinden konnten.

Und Liliencrona stimmt abermals la cachucha an, wieder und wieder la cachucha, und Örneclou wird zurückversetzt in die alten Zeiten.

Da steht er, und da steht sie – Rosalie von Berger! Sie sind soeben allein im Toilettenzimmer gewesen. Sie war Spanierin, er Spanier. Er durfte sie küssen, aber vorsichtig, denn sie fürchtete seinen gewichsten Bart. Jetzt tanzen sie. Ach, wie man unter Feigenbäumen und Platanen tanzt! Sie weicht zurück, er folgt ihr, er wird kühn, sie stolz, er beleidigt, sie versöhnlich. Als er schließlich aufs Knie fällt und sie in den ausgebreiteten Armen auffängt, geht ein Seufzer durch den Saal, ein Seufzer des Entzückens.

Er war ein Spanier gewesen, ein echter Spanier!

Gerade bei dem Bogenstrich hatte er sich so herabgebeugt, die Arme so ausgestreckt, den Fuß vorgereckt, um auf den Zehenspitzen zu schweben. Welche Grazie! Man hätte ihn in Marmor aushauen können.

Er weiß nicht, wie es zugeht, aber er hat den Fuß über den Rand des Bettes gesetzt, er steht aufrecht da, er beugt sich herab, er breitet die Arme aus, knipst mit den Fingern und will über den Fußboden dahinschweben wie in alten Tagen, als er so enge Schuhe trug, daß man die Füßlinge von den Strümpfen abschneiden mußte.

»Bravo, Örneclou! Bravo, Liliencrona! Spiel Leben in ihn hinein!«

Der Fuß versagt ihm, er kann nicht auf die Zehenspitze kommen. Er zappelt ein paarmal mit dem einen Bein, mehr kann er nicht, dann fällt er wieder aufs Bett zurück.

Schöner Señor, Ihr seid alt geworden. Die Señorita vielleicht ebenfalls?

Nur unter Granadas Platanen wird la cachucha von ewig jungen Gitanos getanzt. Ewig jung sind sie wie die Rosen, denn jeder Lenz bringt neue.

So ist denn die Zeit gekommen, wo die Saiten der Violine zerschnitten werden müssen?

Nein, spiel, Liliencrona, spiel la cachucha, wieder und wieder la cachucha! Lehr uns, daß wir hier im Kavalierflügel, selbst wenn wir schwere Körper und steife Glieder haben, im Herzen doch stets dieselben bleiben – stets Spanier!

Streitroß, Streitroß! Sage, daß du die Trompetenstöße liebst, die dich zum Galopp verleiten, wenn du dir auch das Bein blutig reißt an dem Strick, der dich bindet!

Der Ball auf Ekeby

O, ihr Frauen entschwundener Zeiten! Wenn man von euch spricht, das ist, als spräche man vom Himmelreich: eitel Schönheit waret ihr, eitel Licht! Ewig jung, ewig schön waret ihr, milde wie die Augen einer Mutter, wenn sie ihr Kind anschaut. Weich wie die jungen Eichhörnchen hinget ihr am Halse des Gatten. Niemals machte der Zorn eure Stimme erbeben, niemals legte sich eure Stirn in Falten, eure weiche Hand ward niemals rauh oder hart. Ihr sanften Heiligen! Gleich geschmückten Bildsäulen standet ihr im Tempel des Hauses. Räucherwerk und Gebete wurden euch geopfert, durch euch verrichtete die Liebe ihre Wunder, und um euren Scheitel wand die Poesie ihren goldigstrahlenden Glorienschein.

O, ihr Frauen entschwundener Zeiten, diese Erzählung soll jetzt berichten, wie eine von euch Gösta Berling ihre Liebe schenkte.

Vierzehn Tage nach dem Balle auf Borg fand ein Fest auf Ekeby statt. Es war das herrlichste Fest von der Welt. Alte Frauen und Männer konnten wieder jung werden, konnten lachen und sich freuen, wenn sie nur davon sprachen.

Aber die Kavaliere waren zu jener Zeit auch Alleinherrscher auf Ekeby. Die Majorin wanderte mit Bettelsack und Stab im Lande umher, und der Major wohnte auf Sjö. Er konnte nicht einmal teilnehmen an dem Fest, denn auf Sjö waren die Blattern ausgebrochen, und er fürchtete die böse Krankheit weiter zu verbreiten.

Welch eine Fülle von Genuß umschlossen nicht diese zwölf Stunden vom Knall des ersten Flaschenkorkes bei Tische bis zu dem letzten Bogenstrich, als die Mitternachtsstunde längst geschlagen hatte. Hinab in den Abgrund der Zeit sanken sie, diese gekrönten Stunden, angeregt von feurigem Wein, von den leckersten Speisen, von der herrlichsten Musik, von den geistreichsten Ausführungen, von den schönsten lebenden Bildern. Hinab sanken sie, schwindelig von dem wildesten Tanz. Wo gab es auch wohl so glatte Fußböden, so galante Kavaliere, so schöne Frauen!

Ja, ihr Frauen entschwundener Zeiten! Ekebys Säle wimmeln von den schönsten aus eurer schönen Schar. Da ist die junge Gräfin Dohna in ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit, stets aufgelegt zu Spiel und Tanz, wie es sich für ihre zwanzig Jahre ziemt, da sind die drei schönen Töchter des Landrichters aus Munkerud und die munteren Fräulein aus Berga, da ist Anna Stjärnhök, tausendmal schöner als früher, in der sanften Schwermut, die seit jener Nacht, als sie von den Wölfen verfolgt wurde, über sie gekommen war; da sind noch weit mehr, die wohl noch nicht vergessen sind, die es aber bald sein werden, und da ist auch die schöne Marianne Sinclaire.

Sie, die Weitberühmte, die am Hofe des Königs geglänzt, die in Grafenschlössern gestrahlt hat, die Königin der Schönheit, die durch das Land gezogen ist und überall Huldigungen in Empfang genommen hat, sie, die den Funken der Liebe entzündete, wo sie sich zeigte, sie hatte sich herabgelassen, zu dem Fest der Kavaliere zu erscheinen.

 

Wermlands Ehre strahlte hell in jenen Zeiten, aufrechterhalten von manch stolzem Namen. Die fröhlichen Kinder des schönen Landes hatten vieles, worauf sie stolz sein konnten, wenn sie aber ihre Schätze nannten, so unterließen sie es niemals, Marianne Sinclaires Namen zu nennen.

Der Ruf von ihren Siegen erfüllte das ganze Land. Man sprach von den Grafenkronen, die über ihrem Haupt geschwebt hatten, von den Millionen, die ihr zu Füßen gelegt waren, von den Kriegerschwertern und Dichterkränzen, deren Glanz ihr gewinkt hatte.

Und sie war nicht allein schön, sie war auch geistreich und belesen. Die besten Männer der Zeit unterhielten sich gern mit ihr. Eine Schriftstellerin war sie selber nicht, aber viele ihrer Gedanken, die sie in die Seelen ihrer dichtenden Freunde gelegt hatte, lebten in Liedern auf.

In Wermland, im Bärenlande, hielt sie sich nur selten auf. Sie brachte ihr Leben auf Reisen zu. Ihr Vater, der reiche Melchior Sinclaire, saß mit seiner Frau daheim auf Björne und ließ Mariannen zu ihren vornehmen Freunden in die großen Städte oder auf die prächtigen Schlösser reisen. Er hatte seine Freude daran, von all dem Geld zu erzählen, das sie verbrauchte, und die beiden Alten lebten glücklich im Glanze von Mariannens strahlendem Dasein.

Ihr Leben war ein Leben voller Vergnügungen und Huldigungen. Die Luft um sie her war Liebe, Liebe war ihr Licht, ihre Leuchte, Liebe ihr täglich Brot.

Oft, gar oft hatte sie selber geliebt, niemals aber hatte eine solche Flamme lange genug gewährt, daß man in ihr die Fesseln hätte schmieden können, die fürs Leben binden.

»Ich warte auf die Liebe, die da kommt wie ein Eroberer«, pflegte sie zu sagen. »Bisher ist sie über keinen Wall geklettert und durch keinen Graben geschwommen. Ich warte auf die gewaltige Liebe, die mich über mich selber erhebt; so stark will ich die Liebe in mir fühlen, daß ich vor ihr erbeben muß; jetzt kenne ich nur die Liebe, über die mein Verstand lacht.«

Ihre Nähe verlieh dem Worte Feuer und dem Wein Leben. Ihre glühende Seele beschleunigte den Bogenstrich, der Tanz schwebte leichter, berauschender über den Boden dahin, sobald sie ihn mit ihrem schmalen Fuß berührte. Sie strahlte in den lebenden Bildern, sie flößte den Lustspielen Geist ein, ihre schönen Lippen –

Ach, stille, es war nicht ihre Schuld, es war niemals ihre Absicht gewesen! Der Balkon, der Mondschein, der Spitzenschleier, die Ritterkleidung, der Gesang waren schuld daran. Die armen jungen Leute waren ganz unschuldig.

Alles dies, was so viel Unheil anstiften sollte, war doch in der besten Absicht geplant. Patron Julius, der sich auf alles verstand, hatte ein lebendes Bild arrangiert, nur damit Marianne in ihrem vollen Glanze strahlen könne.

Vor der Bühne, die in dem großen Saal zu Ekeby errichtet war, saßen über hundert Gäste und sahen, wie Spaniens gelber Mond an dem dunklen, nächtlichen Himmel dahinzog. Ein Don Juan schlich sich über die Straßen Sevillas und machte halt unter einem efeuumkränzten Balkon. Er war als Mönch verkleidet, doch sah man eine geflickte Manschette aus dem Ärmel hervorgucken und eine blanke Schwertspitze unter der Kutte zum Vorschein kommen.

Der Vermummte stimmte ein Lied an:

 
»Ich trinke keinen Becher Wein,
Auf keinem roten Mädchenmund
Hat meine Lipp geruht.
Ein Antlitz noch so zart und fein,
Entfacht von meinem Aug in Glut,
Ein Blick, der fleht: ‘Ach, sei mir gut!’
Dringt nicht auf meines Herzens Grund.
 
 
Kommt nicht in Eurer Schöne Glanz,
Señora, an das Gittertor.
Ich scheue Euren Blick!
Ich trage Kutt und Rosenkranz,
Madonna ists, die ich erkor,
Dem Wein zieh ich den Quelltrunk vor,
Der ist mein Trost, mein Glück!«
 

Sobald der letzte Ton verklang, trat Marianne in schwarzem Sammetgewande, in einen Spitzenschleier gehüllt, auf den Balkon. Sie beugte sich über das Gitter und sang langsam und ironisch:

 
»Weshalb denn weilst du, frommer Mann,
Um Mitternacht vor dem Altan,
Flehst für mein Seelenheil du bang?«
 

Plötzlich aber fuhr sie schneller und mit Wärme fort:

 
»Ach flieh, ach flieh, es geht nicht an!
Dein Degen guckt hervor gar lang,
Man hört durch deinen frommen Sang
Der Silbersporen hellen Klang!«
 

Bei diesen Worten warf der Mönch seine Vermummung ab, und Gösta Berling stand in einer Rittertracht aus Gold und Seide unter dem Balkon. Er kehrte sich nicht an die Warnung der Schönen, sondern kletterte an einer der Säulen, die den Balkon trugen, hinauf, schwang sich über das Gitter und fiel – wie Patron Julius es arrangiert hatte – der schönen Marianne zu Füßen.

Sie lächelte ihm holdselig zu, ihm ihre Hand zum Kusse reichend, und während die beiden jungen Leute einander, von Liebe bezaubert, betrachteten, fiel der Vorhang.

Und vor ihr lag Gösta Berling mit einem Antlitz, sanft wie das eines Dichters und keck wie das eines Feldherrn, mit tiefen Augen, die von Schelmerei und Geist strahlten, die flehten und drohten. Geschmeidig und kräftig war er, feurig, berückend.

Während der Vorhang aufgerollt und wieder herabgelassen wurde, verharrte das junge Paar regungslos in derselben Stellung. Göstas Augen sahen unverwandt die schöne Marianne an, sie flehten und drohten.

Dann verstummte der Beifall. Der Vorhang ward nicht wieder aufgezogen, niemand sah die beiden.

Da beugte die schöne Marianne sich hinab und küßte Gösta Berling. Sie wußte nicht, weshalb sie es tat, sie mußte es tun. Er schlang den Arm um ihren Hals und preßte sie an sich. Sie küßte ihn wieder und wieder.

Aber der Balkon, der Mondschein, der Spitzenschleier, die Rittertracht, der Gesang, der Beifall waren schuld daran; die armen jungen Menschenkinder waren ganz unschuldig. Sie hatten es nicht gewollt. Sie hatte die Grafenkronen nicht von sich gestoßen, die über ihrem Haupte schwebten, war nicht an den Millionen vorübergeschritten, die zu ihren Füßen lagen, weil sie sich nach Gösta Berling sehnte, und er hatte Anna Stjärnhök noch nicht vergessen. Nein, sie hatten keine Schuld daran, keiner von ihnen hatte es gewollt.

Der sanfte Löwenberg, dem die Träne im Auge und das Lächeln auf den Lippen schwebte, zog an jenem Tage den Vorhang auf. Bedrückt von der Erinnerung vieler kummervoller Ereignisse, schenkte er den Dingen dieser Welt nur wenig Aufmerksamkeit, hatte er es nie gelernt, sie gebührend zu beachten. Als er nun sah, daß Marianne und Gösta eine neue Stellung eingenommen hatten, meinte er, daß dies mit zu der Aufführung gehöre, und zog den Vorhang nochmals wieder auf.

Das junge Paar auf dem Balkon merkte nichts, ehe der Beifallssturm sie abermals umbrauste.

Marianne schreckte auf, sie wollte entfliehen, Gösta aber hielt sie zurück und flüsterte ihr zu: »Stehe still, man glaubt, daß dies mit zu den lebenden Bildern gehört.«

Er fühlte ihren Körper vor Angst erbeben, und die Glut der Küsse erlosch auf ihren Lippen.

»Fürchte dich nicht,« flüsterte er, »schöne Lippen haben ein Recht zu küssen.«

Sie mußten stillstehen, während der Vorhang fiel und wieder aufging und Hunderte von Augen sie jedesmal anstarrten, Hunderte von Händen ihnen stürmischen Beifall zuklatschten.

Denn es ist erhebend, zwei schöne junge Menschen eine Darstellung von dem Glück der Liebe geben zu sehen. Niemand kam auf den Gedanken, daß die Küsse etwas anderes sein könnten als Theaterblendwerk, niemand ahnte, daß die Señora vor Scham errötete, daß der Ritter vor Unruhe bebte. Sie alle glaubten, daß das mit zur Aufführung gehöre.

Endlich standen Marianne und Gösta hinter der Bühne Sie strich sich mit der Hand das Haar aus der Stirn. »Ich verstehe mich selber nicht«, sagte sie.

»Pfui Kuckuck, Fräulein Marianne,« sagte er, machte eine Grimasse und eine abwehrende Bewegung mit den Händen, »Gösta Berling zu küssen! Pfui Kuckuck!«

Marianne mußte lachen.

»Alle Welt weiß ja, daß Gösta Berling unwiderstehlich ist. Mein Vergehen ist nicht größer als das anderer.«

Und sie kamen überein, daß sie gute Miene dazu machen wollten, damit niemand Verdacht über den wahren Sachverhalt schöpfen solle.

»Kann ich mich darauf verlassen, daß die Wahrheit nie ans Licht kommt, Herr Gösta?« fragte sie, ehe sie sich unter die Zuschauer begaben.

»Darauf kann Fräulein Marianne sich verlassen. Die Kavaliere wissen zu schweigen, für die stehe ich ein.«

Sie schlug die Augen nieder, und ein eigentümliches Lächeln kräuselte ihre Lippen.

»Wenn nun die Wahrheit trotzdem ans Licht kommen sollte, was werden die Leute dann nur einmal von mir denken, Herr Gösta?«

»Sie werden nichts denken; sie werden wissen, daß die Sache nichts zu bedeuten hat. Sie werden meinen, daß wir in der Rolle gewesen sind und weiter gespielt haben.«

Noch eine Frage schlich sich unter dem gesenkten Blick, unter dem erzwungenen Lächeln hervor: »Was aber denkt Herr Gösta selber davon?«

»Ich denke, daß Fräulein Marianne in mich verliebt ist«, lachte er.

»So etwas sollte Herr Gösta nicht glauben,« erwiderte sie lächelnd, »da müßte ich Herrn Gösta mit diesem spanischen Dolch durchbohren, um ihm zu beweisen, daß er unrecht hat.«

»Teuer sind Frauenküsse«, sagte Gösta. »Kostet es das Leben, von Fräulein Marianne geküßt zu werden?«

Da traf ihn ein Blick aus Mariannens Augen, der war so scharf, daß er ihn wie einen Dolchstoß empfand.

»Ich möchte Ihn tot vor mir sehen, Gösta Berling, tot, tot!«

Diese Worte erweckten aufs neue ein altes Sehnen in der Brust des Poeten.

»Ach,« sagte er, »wären doch diese Worte mehr als Worte. Wären sie Pfeile, die aus dem finstern Dickicht herausflögen, wären sie ein Dolch oder Gift – hätten sie doch die Macht, diesem elenden Körper ein Ende zu machen, meiner Seele die Freiheit zu geben!«

Sie hatte ihre Ruhe wiedergewonnen und lächelte. »Torheiten«, sagte sie, seinen Arm ergreifend, um sich zu den Gästen zu begeben.

Sie behielten ihre Kostüme an, und ihr Triumph wiederholte sich, sobald sie sich im Publikum zeigten. Alle waren des Lobes voll, niemand hegte den geringsten Verdacht.

Der Ball nahm seinen Fortgang, Gösta aber floh aus dem Tanzsaal. Sein Herz krümmte sich unter Mariannens Blick, als habe es ein scharfer Strahl getroffen. Er verstand sehr wohl den Sinn ihrer Worte. Eine Schande war es, ihn zu lieben, eine Schande, von ihm geliebt zu werden, eine Schande, schlimmer als der Tod. Er wollte nie wieder tanzen, wollte sie nicht wiedersehen, die schönen Frauen. Er wußte es nur zu gut: diese schönen Augen, diese roten Wangen strahlten nicht für ihn. Für ihn schwebten diese leichten Füße nicht, für ihn erklang nicht dies gedämpfte Lachen. Ja, mit ihm tanzen, mit ihm schwärmen, das konnten sie, keine von ihnen aber wollte im Ernst die Seine werden.

Der Poet begab sich zu den alten Herren ins Rauchzimmer und nahm Platz an einem der Spieltische. Zufälligerweise kam er an denselben Tisch, an dem der mächtige Herr von Björne saß; bald spielte er, bald hielt er Bank und häufte eine ganze Menge von Sechs- und Zwölfschillingstücken vor sich auf.

Man spielte bereits hoch, Gösta aber brachte noch mehr Fahrt hinein. Die grünen Scheine kamen zum Vorschein, und der Geldhaufen vor dem mächtigen Melchior Sinclaire wuchs von Minute zu Minute.

Aber auch vor Gösta häufte sich das Kupfer- und Papiergeld an, und bald war er der einzige, der den Kampf mit dem Besitzer von Björne aushielt. Es währte denn auch nicht lange, bis der große Geldhaufen von Melchior Sinclaire zu Gösta Berling hinüberwanderte.

»Nun, Gösta,« rief der Gutsherr lachend, als er alles verspielt hatte, was sich in seiner Börse und in seinem Taschenbuch befand, »was sollen wir jetzt anfangen? Ich bin völlig ausgeplündert, und mit geliehenem Gelde spiele ich niemals, das habe ich meiner Mutter versprochen.«

Er fand aber einen Ausweg. Er verspielte seine Uhr und seinen Biberpelz und war gerade im Begriff, sein Pferd und seinen Schlitten aufs Spiel zu setzen, als Sintram ihn davon zurückhielt.

»Setze doch lieber gleich etwas ein, was sich verlohnt«, rief der böse Besitzer von Fors. »Nimm etwas, was den Unglücksbann brechen kann!«

»Der Teufel mag wissen, was ich aussetzen soll!«

»Spiel um dein rotestes Herzblut, Melchior, spiel um deine Tochter!«

»Das kann der Herr Sinclaire getrost wagen«, lachte Gösta. »Den Preis bekomme ich nimmer unter mein Dach!«

Der mächtige Melchior konnte ebenfalls nicht umhin zu lachen. Er duldete es nur ungern, daß Mariannens Name am Spieltisch genannt wurde, aber diese Idee war zu toll, um darüber böse zu werden. Mariannen an Gösta zu verspielen – ja, das konnte er getrost wagen.

 

»Das heißt, Gösta,« erklärte er, »unter der Bedingung, daß, wenn du ihr Jawort erringen kannst, so setze ich meinen väterlichen Segen auf diese Karte.«

Gösta setzte seinen ganzen Gewinn dagegen, und das Spiel begann. Er gewann, und der Gutsherr Melchior Sinclaire hielt mit dem Spielen inne. Gegen das Unglück konnte er nicht ankämpfen, das sah er ein. –

Nun, Gösta Berling, pocht nicht dein Herz bei alledem! Begreifst du nicht, was dein Schicksal will? Was bedeuteten Mariannens Küsse, was bedeutete Mariannens Zorn? Verstehst du dich denn nicht mehr auf Weiberherzen? Und nun dies gewonnene Spiel! Siehst du denn nicht, daß das Schicksal will, was die Liebe will? Auf, Gösta Berling!

Nein, an diesem Abend ist Gösta Berling nicht in Erobererlaune. Er murrt über die Unbeugsamkeit des Schicksals. Warum wird Liebe nur von Liebe gestillt? Er weiß, wie alle diese schönen Lieder enden. Liebe kann er bekommen, aber keine Gattin. Es kann nicht nützen, das zu versuchen. –

Die Nacht verstrich, es war bereits über Mitternacht. Die Wangen der schönen Damen fingen an zu erbleichen, die Locken fielen aus, die Spitzengarnituren waren zerdrückt. Die alten Damen erhoben sich aus ihren Sofaecken und sagten, das Fest habe nun volle zwölf Stunden gedauert, da sei es Zeit, aufzubrechen.

Und das schöne Fest sollte wirklich ein Ende haben, da aber griff Liliencrona selber zur Fiedel und spielte die letzte Polka. Die Schlitten hielten vor den Türen, die alten Damen hüllten sich in ihre Pelze und Kapuzen, die alten Herren knoteten die Schals um den Hals und knöpften die Pelzstiefel zu.

Die Jungen aber konnten sich nicht vom Tanz losreißen. Sie tanzten in ihren warmen Hüllen, es war ein wildes, wahnsinniges Tanzen. Sobald ein Kavalier eine Dame zu Platz führte, kam ein anderer und riß sie mit sich fort.

Selbst der schwermütige Gösta Berling wurde mit hineingezogen in diesen Wirbel. Er wollte den Kummer und die Demütigung forttanzen, er wollte sich brausende Lebenslust ins Blut tanzen, er wollte fröhlich sein wie die andern. Und er tanzte, so daß die Wände im Saal sich drehten und seine Gedanken schwindelten.

Aber was für eine Dame war es denn, die er aus der Menge mit sich fortgerissen hatte? Sie war leicht und geschmeidig, und es war ihm, als wenn Feuerströme zwischen ihm und ihr hin und her zuckten. Ach, Marianne!

Während Gösta mit Marianne tanzte, saß Sintram bereits unten im Hof in seinem Schlitten, und neben ihm stand Melchior Sinclaire. Der mächtige Gutsherr war ungeduldig, weil er auf Marianne warten mußte. Er stampfte mit den großen Pelzstiefeln in den Schnee und machte sich Bewegung mit den Armen, denn es war bitter kalt.

»Du solltest doch nicht am Ende Marianne an Gösta verspielt haben, Sinclaire?« sagte Sintram.

»Wie beliebt?«

Sintram ordnete die Zügel und hob die Peitsche in die Höhe, dann erwiderte er: »Diese Küsserei vorhin gehörte nicht mit zu den lebenden Bildern.«

Der mächtige Gutsherr erhob den Arm zu einem vernichtenden Schlage, aber Sintram war bereits fort. Er fuhr dahin, hieb auf die Pferde ein, so daß sie in wilder Flucht von dannen jagten, und wagte es nicht, sich umzusehen; denn Melchior Sinclaire hatte eine schwere Hand und eine kurze Geduld.

Der Besitzer von Björne begab sich nun in den Tanzsaal, um seine Tochter zu holen, und da sah er denn, wie Gösta und Marianne tanzten.

Wild und stürmisch war die letzte Polka. Einige Paare waren bleich, andere glühendrot; der Staub lag gleich einer Rauchwolke über dem Saal, die Wachskerzen flackerten tief herabgebrannt in den Leuchtern, und inmitten all dieser ungemütlichen Zerstörung flogen sie dahin – Gösta und Marianne, königlich in ihrer unerschöpflichen Kraft, ohne Makel an ihrer Schönheit, glücklich in dem Gefühl, sich dieser herrlichen Bewegung ganz hingeben zu können.

Als Marianne aufhörte zu tanzen und nach ihren Eltern fragte, waren diese nach Hause gefahren. Sie ließ sich jedoch ihre Überraschung nicht merken, sondern kleidete sich ruhig an und ging hinaus. Die Damen im Toilettenzimmer glaubten, daß sie im eigenen Schlitten fahre.

Sie aber eilte in ihren dünnen, seidenen Schuhen den Weg entlang, ohne jemand ihre Not zu klagen. In der Finsternis erkannte keiner der Gäste sie, wie sie dort am Rande des Weges ging, niemand würde geglaubt haben, daß diese nächtliche Wanderin, die von den vorübereilenden Schlitten in die hohen Schneeschanzen gedrängt wurde, die schöne Marianne sei. Sobald sie ungestört in der Mitte des Weges gehen konnte, fing sie an zu laufen. Sie lief, solange sie konnte, ging dann eine Strecke und lief darauf wieder. Eine unheimliche, qualvolle Angst trieb sie vorwärts.

Von Ekeby bis Björne ist nur eine Viertelmeile. Marianne war bald zu Hause, aber sie glaubte beinahe, daß sie sich verirrt habe. Als sie auf den Hof kam, waren alle Türen verschlossen, alle Lichter ausgelöscht, sie glaubte anfänglich, daß ihre Eltern noch nicht nach Hause gekommen seien.

Sie ging an die Haustür und klopfte mit einigen schweren Schlägen an. Sie faßte an das Schloß und rüttelte daran, daß es im ganzen Hause widerhallte. Niemand kam und öffnete; als sie aber die eiserne Türklinke loslassen wollte, die sie mit den bloßen Händen erfaßt hatte, riß sie sich die an dem Metall festgefrorene Haut von den Händen.

Der mächtige Gutsherr Melchior Sinclaire war nach Hause gefahren, um seinem einzigen Kinde die Tür zu verschließen. Er war berauscht von Getränken, wild vor Zorn. Er haßte seine Tochter, weil sie Gösta Berling liebte. Jetzt sperrte er die Dienstboten in die Küche und seine Frau in die Schlafstube. Mit kräftigen Eiden gelobte er, denjenigen totzuschlagen, der es wagen würde, Marianne einzulassen. Und man wußte, daß er Wort halten würde.

So erzürnt hatte ihn noch niemand gesehen. Ein größerer Kummer war ihm noch niemals widerfahren. Wäre ihm seine Tochter vor die Augen gekommen, so würde er sie vielleicht getötet haben.

Er hatte ihr goldenes Geschmeide und seidene Kleider geschenkt; er hatte ihr eine feine Bildung und eine wissenschaftliche Erziehung zuteil werden lassen. Sie war sein Stolz gewesen, seine Ehre. Er hatte zu ihr aufgesehen, als trüge sie eine Krone. Ach! seine Königin, seine Göttin, seine angebetete, schöne, stolze Marianne! Hatte er jemals gespart, wo es sich um sie gehandelt hatte? Hatte er sich nicht zu niedrig gefühlt, um ihr Vater sein zu können? Ach, Marianne, Marianne!

Mußte er sie nicht hassen, wenn sie in Gösta Berling verliebt war und ihn küßte! Mußte er sie nicht verstoßen, ihr seine Tür verschließen, wenn sie seine Hoheit kränkte, indem sie einen solchen Mann liebte! Laßt sie auf Ekeby bleiben, laßt sie zu den Nachbarn laufen, um Nachtquartier zu begehren, laßt sie im Schnee schlafen, das ist einerlei, sie ist doch schon durch den Schmutz geschleift, die schöne Marianne. Der Glanz von ihr ist fort. Der Glanz von seinem Leben ist dahin!

Er liegt in seinem Bett und hört sie an die Haustür klopfen. Was geht das ihn an! Er schläft! Da draußen steht die Dirne, die sich mit einem abgesetzten Pfarrer verheiraten will – für die hat er kein Heim. Hätte er sie weniger geliebt, wäre er weniger stolz auf sie gewesen, so hätte er sie hereinlassen können.

Ja, seinen Segen kann er ihnen nicht verweigern. Den hatte er verspielt. Ihr aber seine Tür öffnen, das wollte er nicht. Ach, Marianne!

Das schöne junge Mädchen stand noch immer vor der Tür des Hauses. Bald rüttelte sie in ohnmächtigem Zorn an dem Schloß, bald fiel sie auf die Knie, faltete ihre zerfleischten Hände und flehte um Vergebung.

Niemand aber hörte sie, niemand antwortete, niemand öffnete ihr.

Ach, war dies nicht schrecklich! Entsetzen erfaßt mich, während ich dies erzähle. Sie kam von einem Ball, dessen Königin sie gewesen war. Sie war stolz, reich, glücklich gewesen, und einen Augenblick später war sie in ein so bodenloses Elend gestürzt. Aus ihrem Hause ausgeschlossen, der Kälte preisgegeben, nicht verhöhnt, nicht geschlagen, nicht verflucht, nur mit kalter, mitleidsloser Härte ausgeschlossen.

Ich denke an die kalte, sternklare Nacht, die sie umgab, gab, diese große, weiße Nacht mit den leeren, öden Schneefeldern, mit den stillen Wäldern. Alles schlief, alles war in schmerzlosen Schlummer versenkt; nur einen einzigen lebenden Punkt gab es in diesem schlafenden Weiß. Aller Kummer, alle Angst, alle Sorgen, die sonst über die ganze Welt verteilt sind, schlichen an diesen einen Punkt heran. Ach Gott! so allein mitten in der schlafenden, steifgefrorenen Welt leiden zu müssen!