Harriet

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From the series: Joe & Johanna Trilogie #2
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"Hallo", sagte sie, ohne die Stimme zu erheben. "Hallo? Geht es Ihnen gut?"

Doch es kam keine Antwort.

Außer hochhackigen Schuhen trug die Frau nur ein einziges Kleidungsstück. War das tatsächlich eine ... konnte das wirklich eine ... Sie tat noch einen vorsichtigen Schritt und mit einem Mal erkannte sie, was ihre Augen schon die gesamte Zeit über wahrnahmen - eine Zwangsjacke. Aus grobem Leinen oder Segeltuch gearbeitet, an den Enden der Ärmel noch mit Leder verstärkt. Massive Schnallen, die mit dreifach vernähten Lederriemen geschlossen wurden. Einer dieser Riemen lief zwischen den Beinen hindurch um die Trägerin am Abstreifen der Jacke zu hindern. Als wäre das nicht schon genug, waren die Oberarme noch mit einem Strick an den Körper geschnürt und die Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Lang und strähnig hing das schwarze Haar vom Kopf. Jetzt erst fiel ihr auf, dass im Nacken eine schwarze Krawatte verknotet war, die offensichtlich als Knebel diente.

Sie schreckte zurück, als sie den Strick bemerkte, der straff um den Hals geschlungen war und zu einem monströsen Haken an der Decke führte.

Verdammt, was sollte das alles? Wo war sie? Joe was tust du hier? Wie bist du hier überhaupt hergekommen?

Die Frau im Raum konnte schwerlich auf ihren Füßen stehen, da ihre Zehenspitzen kaum den Boden berührten. Vielmehr hing sie von der Decke, was die seltsame, abschreckende Körperhaltung erklärte.

"Hallo?", fragte Joe leise und stupste mit dem Zeigefinger gegen ihren Rücken.

Nichts rührte sich. Kein Zucken, kein Stöhnen, kein Anzeichen von Leben.

Joe, tu doch was, du musst sie da runterschneiden!

Und wie?

Sie suchte den Raum ab, nach einem Messer, einer Säge, einer Axt. Doch außer ihr und der Frau schien nichts und niemand zu existieren. Sie rannte auf und ab, starrte in den düsteren Gang, der sie hergeführt hatte, konnte aber auch dort nichts ausmachen, was sie möglicherweise verwenden hätte können. Dann warf sie einen verächtlichen Blick in das Gesicht dieser Frau, als wolle sie ihr zu verstehen geben, was sie ihr mit dieser Erhängten-in-der-Zwangsjacke-Nummer für Schwierigkeiten bereitete.

"Oh, mein Gott", stieß sie hervor, ehe die Beine unter ihr nachgaben und sie zusammensackte, den Eindruck dieses schmerzverzerrten Frauengesichts auf ewig in ihr Gedächtnis gebrannt.

Wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen schreckte Joe, an der das schweißnasse Leintuch wie mit Sekundenkleber befestigt haftete, aus ihrem Traum hoch. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in das Dunkel des Schlafzimmers. Ihr Atem ging keuchend und unregelmäßig. Ein zarter Mädchenduft, der so gar nicht in die Situation passen wollte, kroch ihr in die Nase.

"Was is', mein Schatz" rekelte sich Sandra neben ihr. In ihre Decke bis über die Ohren eingerollt sah sie aus wie eine ägyptische Mumie.

"Es ist ... nichts", sagte Joe nach einer Weile.

"Dann is' gut", drehte sich Sandra auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfpolster.

Gar nichts ist gut, dachte Joe, und nahm ein paar Tropfen Bachblüten von ihrem Nachttisch.

*

Als der Smartphone-Wecker Joe brutal aus dem seichten Schlaf riss, waren sie sofort wieder zur Stelle, ihre Erinnerungen an den furchtbaren Albtraum, der sie während der Nachtstunden heimgesucht und ihre so harmlosen Gedanken und kaum vorhandene Fantasie bis zum Äußersten strapaziert hatte. Ihre schlimmsten Ängste hatten, unglaublich real, vor ihrem geistigen Auge Gestalt angenommen, hatten ihr gezeigt, dass das Spiel mit Seilen kein ungefährliches war und dass Vertrauen eine unabdingbare Voraussetzung für das war, was Sandra und sie teilten und sie selbst, nach anfänglicher Ablehnung, mittlerweile doch lieb gewonnen hatte: das Spiel, sich der Liebsten auszuliefern, sich ihr zu unterwerfen, sich komplett fallen zu lassen und die Verantwortung für den eigenen Körper abzugeben.

Das sonst so angenehme Prickeln, das sie bei diesen Gedanken üblicherweise verspürte, wurde diesmal allerdings von Gänsehaut und einem undefinierbaren Knoten in ihrem Magen abgelöst. Joe schlich sich wie jeden Morgen, an dem Vormittagsordination war, aus dem Schlafzimmer und ließ ihrer Geliebten noch ein paar Stunden auf Wolke sieben. Sie machte sich mit ihrer Espressomaschine - ohne N vor dem Espresso -, die noch ohne Strom und Kapseln, nur mit Wasser, gemahlenem Kaffee und einer heißen Herdplatte funktionierte, Kaffee. Widerwillig schlang sie eine Banane hinunter, von der sie hoffte, dass sie auch unten bleiben würde. Ihrer Handtasche entnahm sie, nachdem sie jedes noch so kleinste Seitenfach durchstöbert hatte, eine zerknitterte Schachtel mit den beruhigenden Filmtabletten, die Baldrian und Hopfenextrakt enthielten. Als sie eine davon mit dem Kaffee runterspülte, dämmerte es ihr erst, dass es nicht besonders gescheit war, eine beruhigende Tablette mit einem aufputschenden Getränk zu nehmen. Spontan drückte sie noch eine zweite aus der Verpackung und spülte sie gleich hinterher. Das Medikament beeinträchtigte zwar die Reaktionsfähigkeit, doch in ihrem zarten Nervenkostüm konnte sie darauf nun wirklich nicht Rücksicht nehmen.

Wie ferngesteuert setzte sie sich in ihren Smart. Sie konnte sich nicht erinnern, im Bad gewesen zu sein und sich angezogen zu haben. An sich hinabblickend stellte sie beruhigt fest, dass sie mangels Kreativität wohl automatisch zu ihrer Standardgarderobe gegriffen hatte: einer an den Schenkeln nicht zu eng sitzenden Sommerhose in pastellem Hellblau und einer orangefarbenen Bluse. Sie startete den Wagen. Die Gleichmäßigkeit, mit der der Motor ihr auch akustisch zu verstehen gab, dass er zuverlässig seinen Dienst versah, machte sie bald schläfrig. Wie absurd ihr plötzlich dieser Traum erschien. Er konnte doch gar nichts mit der Realität zu tun haben, oder doch? Der Raum, den sie so genau vor sich gesehen hatte, war in der Mühle gewesen. Doch es gab in deren Keller nicht einen Raum, der auch nur annähernd wie das Gewölbe aus ihrem nächtlichen Hirngespinst aussah. Im Keller der Mühle gab es - so fing es schon einmal an - gar kein Gewölbe.

Dann hatte sie noch eine Zwangsjacke gesehen, so genau und detailliert, als wäre sie vor ihr gelegen. Unvermittelt sah sie wieder den Riemen vor sich, der tief zwischen den Pobacken der Gefesselten verschwand. Eine Übelkeit, als hätte sie bereits zwei Wochen gegen Windstärke zwölf vor Kap Hoorn angekämpft, trieb ihr die Blässe einer Leiche ins Gesicht. Hatte da gerade jemand gehupt? Oder war das schon vor Minuten geschehen? Joe konnte weder das eine noch das andere bestätigen bzw. ausschließen. Gedankenverloren blickte sie in den Rückspiegel. Sie spürte, wie sich selbst unter der langärmeligen Bluse die Härchen an ihren Armen aufrichteten. Nie im Leben würde Joe so eine Jacke freiwillig anziehen.

Womöglich hat die Frau in deinem Traum sie nicht "freiwillig" angezogen?

Möglich. Ganz bestimmt sogar.

Intensiv versuchte sie nachzudenken. Nein. Sie kannte ihres Wissens niemanden, der eine solche Jacke besaß oder besitzen könnte. Nicht einmal annähernd.

Dann war da noch dieses schwarze, so unnatürlich glänzende Haar dieser Frau. Noch nie zuvor hatte Joe im realen Leben Haare gesehen - egal in welcher Farbe -, die bei künstlichem Licht so intensiv schimmerten.

Vermutlich, weil es nur ein Traum war, Joe.

Ja, vermutlich, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

Aber ... warum hab' ich dann die Jacke so genau vor mir gesehen, so plastisch, so real, dass ich sie hätte anfassen können?

Tja ...

Ups. War das nicht eine Achtziger-Beschränkung gewesen? Dann bist du ja schon beinah da. Jetzt nur nicht die Abfahrt Strebersdorf verpassen, sonst kannst du wieder mühsam schauen, wo du in dem Straßengewirr umdrehen kannst.

Joe sah auf ihre Finger, die eiskalt und zitternd das Lenkrad umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das was sie wirklich fertig machte, was sie nicht mehr fähig war aus ihrem Gehirn zu vertreiben, war dieses furchtbar schmerzverzerrte Gesicht dieser Frau, dieses leblose, starre Gesicht - Sandras Gesicht.

Am nächsten Morgen, bereits zehn Minuten vor sieben war Joe auf der Baustelle bei der Mühle. Joe hatte sich dem Anlass entsprechend ... Das ist natürlich quatsch. Joe hatte sich der Stimme des Poliers entsprechend aufgebretzelt. Mit engem Top, oberschenkelkurzem Pencilskirt und den Sieben-Zentimeter-Pumps war sie den dreiviertel Kilometer bis zu der Baustelle gegangen, um dort mit ihren Schuhe in der aufgewühlten Erde zu versinken.

Ein großgewachsener, kräftiger Mann kam ihr entgegen und drückte ihr die Hand. "Jevtic", sagte er, "ich bin der Polier. Danke, dass Sie kommen konnten."

Joes Emotionen rannten mit einem Mal in wildem Amok durcheinander. Ein wohliges Prickeln lief durch ihren Körper, von dem sie nicht sagen konnte, ob es von seiner angenehmen Stimme oder dem etwas schmerzhaften Händedruck herrührte. Sein schwarzes Haar war schulterlang und Joe roch ein dezentes Aftershave und das, obwohl er sich schon seit Tagen nicht mehr rasiert zu haben schien. Wie lange war sie schon wie gelähmt herumgestanden, ehe sie ihm ein charmantes "Ich bin Joe Binder" entgegnete.

Michael Jevtic hatte daraufhin endlich Gelegenheit sein "Freut mich Sie kennenzulernen" an die Frau zu bringen. "Kommen Sie bitte mit. Ich muss Ihnen was zeigen. Aber seien sie vorsichtig, dass sie nicht in die Künette fallen."

Vorangehend betrat er die Mühle, öffnete die Tür, die in den Keller führte. Joe, vorsichtig über die schmalen Stufen stöckelnd, folgte ihm. Ihre Fantasie arbeitete, als hätte sie sich gerade eine Überdosis Amphetamine kombiniert mit Marihuana hineingezogen und zum Drüberstreuen noch den gesamten Vorrat ihrer angesparten Hanfkekse. Die Geschichten ihrer Großmutter fielen ihr ein, wie sie mit ihren "Freunden, Liebhabern, Kunden" in den Keller gegangen war, um dort ihre erotischen Spielchen mit ihnen zu treiben oder mit sich treiben zu lassen. Oma Johanna war wirklich vielseitig - und flexibel. Würde der Polier mit der erotischen Stimme ihr Ähnliches antun? Würde er sie gegen ihren Willen fesseln, knebeln, sie wehrlos machen, um sie dann ihrem Höhepunkt entgegen zu treiben? Und sie würde es geschehen lassen, würde sich nicht wehren, vielleicht etwas, um den Schein zu wahren, weil es gar nicht gegen ihren Willen war? Würde er sie auf brutalste Art foltern, mit seiner angenehmen Baritonstimme, die sie vermutlich schon allein zum Orgasmus bringen könnte, auch wenn er ihr nur den Wetterbericht oder die Börsenkurse vorlas?

 

"So, da wären wir" unterbrach er ihren orgastischen Tagtraum. Knöchelhoch verteilte sich Staub und abgeschlagener Putz über den Boden. Jetzt erst sah sie, warum er sie hierher geführt hatte. Keine Seile, keine Handschellen, keine Knebel und keine Reitgerte warteten hier auf sie. Sie hoffte ihre Enttäuschung war nicht zu offensichtlich.

"Geht es Ihnen gut?"

"Es sind nur ..." die Schuhe, hätte sie beinah gesagt. Steile Treppen in Stöckelschuhen war sie noch nicht gewohnt zu gehen. "... ich bin etwas schwindlig."

"Hier", sagte er und wies auf ein beinah türgroßes Loch, das in der Wand klaffte und den Blick in einen anderen Raum freigab.

"Um Gottes willen", entfuhr es Joe. "Statt die Mühle zu sanieren, reißen Sie sie immer weiter ein."

"Nicht ganz, Frau Binder", sagte er. "Als wir draußen anfingen, die Kellerwände bis runter zum Fundament freizulegen, um sie gegen Feuchtigkeit zu isolieren, haben wir bemerkt, dass der Kellergrundriss nicht mit dem des Erdgeschosses übereinstimmt. Wir haben dann hier ...", er wies auf die Wand mit der ausgefransten Öffnung, "... den alten Verputz abgeschlagen und diesen Durchgang gefunden. Er war provisorisch mit Holzstaffeln und Brettern zugemacht und dann schleißig verputzt worden. Hielt natürlich nicht besonders. War `ne Husch-Pfusch-Aktion. Aber sehen Sie hier, ein Rundbogen."

Joe betrachtete den halbkreisförmigen, mit alten Ziegeln gemauerten Bogen, der in den neu gefundenen Raum führte. "Was ist dahinter?"

"Nicht wirklich viel."

Eine aufwendig gearbeitete Holztruhe stand neben einem halb zusammengefallenen Regal. Von der Decke hing eine leere Lampenfassung, nicht weit daneben ein massiver Haken, an dem man ein Pferd hätte aufhängen können.

Fasziniert wie eine Teenagerin, der man soeben angeboten hatte, sie könne die Rolle der wunderschönen, entführten Prinzessin in Star Wars - Episode sieben spielen, stand Joe mit offenem Mund in all dem Durcheinander, das sich allerdings zum Großteil in ihrem Kopf abspielte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Obwohl sie den Raum zum ersten Mal in ihrem Leben sah, kannte sie ihn sehr gut. DAS war der Raum, der Dungeon - allerdings hieß er damals noch nicht so -, in dem ihre Großmutter so viele glückliche Stunden erlebt hatte.

"... hallo ... Ihnen gut?"

Joe stützte sich gegen die Wand. "Nur der Kreislauf. In der Früh braucht er immer, um in Schwung zu kommen. Geht gleich wieder." Für einen Augenblick glaubte sie, so etwas wie Besorgnis in seinen Augen zu sehen.

"Jetzt wollte ich von Ihnen wissen, sollen wir den Durchgang komplett freilegen und den angrenzenden Raum in die Sanierung mit einbeziehen, oder sollen wir ihn - diesmal ordentlich - mit Ziegeln abmauern und ..."

"Auf gar keinen Fall", platzte Joe echauffiert heraus.

Abwehrend, wie ein Eindringling, den frau gerade beim Durchstöbern ihres Kleiderschranks ertappt hatte, hob Michael Jevtic beide Arme und hielt ihr die offenen Handflächen entgegen. "War nur `ne Frage. Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen."

Wenn er noch lange weiterquasselt, wirst du noch hier unten, mitten in Omas Folterkeller, kommen, Joe.

"Scheiße", fauchte Joe leise. Doch nicht leise genug.

"Bitte?" Der Polier fuhr sich durchs Haar und brachte damit seinen muskulösen Oberarm genau in Joes Blickfeld.

"Ich ..." Joe sog die staubige Luft ein. "Auf jeden Fall möchte ich, dass der Rundbogen freigelegt und renoviert wird, wie der Raum dahinter auch."

"In Ordnung. Um den Rundbogen wäre es auch ewig schade."

"Gibt es noch etwas?"

"Nein, das war schon alles ..."

"Ich muss nämlich gleich ..."

"Verstehe. Als Ärztin haben Sie sicher jede Menge zu tun."

Sie versuchte ein Schmunzeln aufzusetzen. Als sie ihm ihren Arm hinstreckte und er ihre Hand drückte, wurden ihre Knie weich.

"Ups", sagte er nur, als wäre ihm grad ein Bleistift aus der Hand gefallen, während er sie an den Schultern packte und auffing.

"Danke. Es geht schon wieder." Joe glättete in ihrer Verlegenheit ihre Frisur, die wie frisch vom Coiffeur aussah.

"Einen schönen Tag noch", hörte sie ihn sagen, während sie vorsichtig die Treppe hinaufging.

"Ebenfalls", rief sie in das Verlies nach unten, als sie schon die Tür zum Vorraum erreicht hatte.

Sie strich über ihren Rock und kämpfte sich durch das Erdreich zurück zur asphaltierten Hauptstraße samt Gehsteig.

Joe, es ist wirklich keine Schande, wenn dir bei diesem Typen die Knie weich werden. Da würden ja sogar mir ...

Halt doch endlich mal die Klappe, ja?

Wenn ich mal deiner Meinung bin, passt's dir auch nicht.

Konzentriert und doch mit abschweifenden Gedanken klapperte sie zu ihrem Smart zurück, der bei Sandras Haus geparkt stand.

Da wär' noch was, meldete sich schüchtern ihre Stimme. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass der neue Kellerraum aussieht wie der in deinem Traum?

Joe hielt inne, wollte in ihre Erinnerungen eintauchen, um das Bild, das sie im Traum so klar vor sich gesehen hatte, erneut hervorzukramen. Der Boden unter ihren Füßen schien plötzlich zu schwanken. Sie fasste sich an die Stirn. "Sicher nur ein blöder Zufall", wisperte sie schließlich.

Joe war froh, als ihre Ordination vorüber war. So unkonzentriert wie an diesem Tag war sie, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie gewesen. Lag das nun an dem Josh-Holloway-Verschnitt mit dunklen Haaren oder an der Tatsache, dass diese Archäologen, die sich für einfache Bauarbeiter ausgaben, einen neuen Raum in dem unterirdischen Lusttempel ihrer Großmutter freigelegt hatten? In ihrer Erregung, zwischen Ekstase und Lähmung, hatte sie jedoch etwas Wichtiges vergessen. Sofort wischte sie die Nummer des Baumeisters auf ihr Smartphone. Beim zweiten Klingeln hob er auch schon ab. Was es denn gäbe? Die Sache mit dem Raum, so sagte er, hätte ja Herr Jevtic schon mit ihr geklärt.

"Könnten Ihre Leute vielleicht so gut sein und mir die Truhe, die sich dort befindet, an die Adresse von Frau Kienzl bringen. Ich kann sie unmöglich die schmale Treppe hinauf ..."

"Kaefer, Baumeister!", sagte er plötzlich, der Sarkasmus aus dem Telefon triefend.

"Bitte?"

"Soll heißen, wir sind keine Spedition, sondern eine Baufirma. Aber für so eine gute Kundin wie Sie", er machte eine Pause, "denke ich, kann ich eine Ausnahme machen."

"Danke. Ich bin Ihnen sehr verbunden."

Als Joe am folgenden Nachmittag von ihrer Ordination zurückkam, sah sie gerade, wie Josh Holloway und ein zweiter die Truhe in Sandras Haus schleppten. Sie kamen eben wieder heraus, als sie Joe bemerkten.

"Guten Tag, meine Herren", sagte Joe und hoffte, weit souveräner als am Vortag aufzutreten. Bitte, kommen Sie noch kurz mit rein."

Die Männer, die sich ratlos ansahen, folgten ihr ins Haus. Joe öffnete die Tür zum Vorratsraum, wies auf eine Kiste Bier, auf der obenauf noch eine Flasche Schnaps lag. "Wenn Sie so lieb wären und die Kiste samt Inhalt mitnehmen. - Die ist für Ihre Bemühungen."

Kapitel 2

Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß sie in dem Fauteuil und war bemüht, ihre mohnrot leuchtenden Fingernägel nicht in die ledernen Armlehnen zu krallen.

"Sie müssen es wollen, verstehen Sie?" Ihr Gegenüber blickte ihr tief in die Augen.

Sie schüttelte ihre rote Mähne, deren Farbe sich mit jener der Fingernägel schlug.

"War das jetzt ein Nein?" Dr. Tanner lächelte. Mit seinen Jeans, dem karierten Hemd und seinem gutmütigen Dackelblick sah er aus wie ein etwas zu jung geratener Großvater, der gerade im Begriff war, seine Enkelin zum letzten Gig der Stones zu begleiten.

"Nein", sagte sie und schüttelte erneut ihre Locken. "Es war kein Nein."

Dr. Tanner saß da und wartete. Er wusste, dass seine Klienten Zeit brauchten. Niemand konnte ihm etwas vormachen. Selbst dann nicht, wenn es sich bei seiner Patientin um die hübscheste junge Frau handelte, die er seit Jahrzehnten zu Gesicht bekommen hatte. Er, ein abgebrühter Haudegen, ließ sich auch von ihren makellos langen Beinen nicht dazu verführen, allzu oft und zu lange auf diese zu starren. Ab und zu ein kurzer, wie zufällig streifender Blick würde genügen müssen.

"Sie sagen, es war kein Nein. Das ist eine interessante Formulierung. Ein Ja war es demnach aber auch nicht. Und ein solches möchte ich ... muss ich von Ihnen hören, damit meine Arbeit überhaupt einen Sinn macht."

Sie nickte.

"Sie haben bereits vor ein paar Wochen bei mir einen Termin vereinbart. Was waren Ihre Beweggründe damals, das zu tun?"

Die Frau zog die schmalen Schultern hoch. Ihr Blick wanderte getrieben durch den Raum. "Ich ... mir ging es extrem schlecht. Ich wusste nicht ... was ich tun sollte."

Wolfgang Tanner notierte etwas auf seinen Block. "Hat sich Ihre Situation, Ihr Befinden seit jenem Tag in irgendeiner Weise verändert?"

Die Frau vergrub die Hände in ihrem Haar, als wolle sie es jeden Moment ausreißen. Ihre Augen waren glasig. "Ich ..." krächzte sie. "Könnt' ich ein Glas Wasser haben?"

Ohne ein Wort zu erwidern, stand er auf und holte ihr ein Glas Leitungswasser aus der Kochnische.

Sie trank in gierigen Schlucken und hinterließ dabei verschmierte Abdrücke ihrer Lippen auf dem Glasrand. "Danke", sagte sie, ohne ihn anzusehen. Eine Zeit lang, von der er schätzte, es wären vielleicht zwei Minuten gewesen, war es still. Selbst der sonst so rege flutende Straßenverkehr schien versiegt zu sein.

"Was haben Sie damals gefühlt?"

Als wäre ihr erst jetzt klar, dass sie nicht allein im Raum war, schreckte sie hoch. Sie straffte ihren Rücken und zog ihre Schultern zurück.

Tatsächlich, sie war eine wunderbare Frau, rein optisch, geisterte ein unprofessioneller Gedanke durch Wolfgang Tanners Kopf.

"Ich fühlte ... Leere, Einsamkeit ... und diese beschissene, unendliche Traurigkeit." Tränen liefen über ihre Wangen.

"Beschissene, unendliche Traurigkeit" notierte er, wobei er die beiden Adjektive doppelt unterstrich.

"Ich habe meine Liebe verloren ... den einzigen Menschen, der mir wirklich was bedeutet hat!", platzte sie, ihre Stimme bereits jenseits der Zimmerlautstärke, heraus.

Dr. Tanner nickte zufrieden. Nicht weil ihm das, was er gerade erzählt bekam, so gut gefiel, sondern weil seine Klientin sich nun doch dazu durchgerungen hatte, mit ihm zu sprechen. "Und was fühlen Sie heute, jetzt gerade, wenn Sie mir davon erzählen?"

Mit ihren wunderbar grünen Augen, die weit aufgerissen waren, sah sie ihn an. "Ich bin sauer, wütend ... scheiß angefressen ..."

Der Therapeut nickte und kritzelte die vier Worte auf seinen Block. Dann lehnte er sich entspannt auf der Couch zurück.

"Ich ..." Plötzlich begann ihr Körper zu beben und Schreie der Verzweiflung mischten sich unter die Tränen.

Gelassen nahm er die Schachtel mit den Kleenex, die stets für Fälle wie diesen in Reichweite auf dem Couchtisch standen, und hielt sie ihr entgegen. Sie raffte gleich vier oder fünf heraus und drückte sie sich vors Gesicht. "Ich ... weiß nicht womit ich das verdient hab? - Es ist nicht fair", sagte sie, noch immer heulend.

Das ganze Leben ist nicht fair, meine Teuerste, dachte Dr. Tanner, der seine Frau vor vier Jahren verloren hatte. Doch diese Weisheit nutzte seiner Patientin erst, wenn sie so weit war, es auch selbst zu verinnerlichen.

"Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie!", rief seine Patientin mit einem Mal aus voller Kehle. Dabei trommelte sie mit ihren zierlichen Fäusten auf die massiven Armlehnen.

Er zog die buschigen Brauen hoch und legte seine Stirn inklusive angrenzender Kopfhaut in Falten. Dann sagte er ruhig und so leise, dass es kaum zu hören war: "Warum hassen Sie mich?"

 

Die Augen seiner Patientin waren noch größer geworden. "Nicht Sie!" und dabei wies sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf seinen Oberkörper, als wolle sie ihn damit aufspießen.

Wer ist SIE, dachte Dr. Tanner und wusste, dass er ohne Beantwortung dieser Frage nicht weiterkommen würde. "Wer ist SIE?", fragte er schließlich, als handle es sich dabei bloß um eine unwichtige Nebensächlichkeit, die es rein pro forma abzuklären galt.

Die rote Mähne schniefte, schnäuzte sich in die schon patschnassen Tücher. "Die, wegen der ich hier bin. Meine Geliebte, mein Alles ... mein Leben. - Sie, die mich verlassen hat."

Der Therapeut kritzelte so rasch, als wären seine Finger eben erst aus ihrer Lethargie aufgewacht. Zumindest einigermaßen konnte er sich nun ein Bild machen. Frau liebt Frau, Frau verlässt Frau. Der verstoßene, verletzte Part der Beziehung, oder der, der am wenigsten imstande war, damit umzugehen, war der angeschissene. Warum sollte es bei gleichgeschlechtlichen Beziehungen anders sein. Er versuchte ein unprofessionelles Schmunzeln zu unterdrücken.

"Und", fragte er vorsichtig, um seine Klientin nicht noch zusätzlich zu reizen, "welche Emotion ist die, die Sie zur Zeit am meisten berührt, die vorherrschende?"

Ihre Augen schienen durch ihn hindurchzusehen, als könnten sie die Antwort auf der hinter ihm befindlichen Wand ablesen.

Schließlich, als er schon dachte, es käme nichts mehr, sagte sie nur ein Wort, und das kaum hörbar: "Hass."

Nachdenklich ließ er sich in die Lehne zurückfallen. Tanner versuchte eine neutrale Miene aufzusetzen. Hätte er die Enttäuschung, die in seinem Blick lag, nur selbst sehen können. "Leben ihre Eltern noch?"

Die Frau bestätigte mit einem Nicken.

"Haben Sie Geschwister?"

"Einen Bruder - warum?"

"Routine - The big Picture, Sie verstehen?"

Sie zuckte mit den Achseln.

"Ich mache mir nicht nur von meinen Klienten ein Bild, sondern auch von ihrem sozialen Umfeld."

Die Frau hatte sich noch ein paar Kleenex geangelt und tupfte damit ihre Wangen trocken, um ihr Make-up nicht vollkommen zu verwischen.

"Verstehen Sie sich gut mit ihm?"

"Ist okay. Für einen Bruder ist er wirklich okay."

Er glaubte dabei ein sanftes Schmunzeln um ihren Mund zu sehen. "Gut, damit ist unsere heutige Sitzung zu Ende. - Werden wir uns nächste Woche wiedersehen?"

Die Rothaarige mit der schmalen Taille war mittlerweile aufgestanden und schien zu überlegen. Mit ihren hochhackigen Schuhen überragte sie ihn um beinahe einen Kopf.

"Ich würde es Ihnen dringend empfehlen! In Ihrem eigenen Interesse." Er lächelte sie an.

"Ich werde da sein." Dann verabschiedete sie sich und verließ mit großen Schritten das Therapiezimmer.

Zehn Minuten später, er schrieb gerade am Dossier seiner Patientin, hörte er in seinem Kopf noch immer das grazile Klacken ihrer Absätze auf seinem Parkett.

*

"Also, habt ihr das jetzt verstanden, wie der Lichtwert mit Verschlusszeit und Blende zusammenhängt?" Sandra klang wie eine Universitätsdozentin im zehnten Jahr ihrer Berufslaufbahn.

Ein kleinlautes Ja, untermauert von heftigem, lethargischem oder gelangweiltem Nicken kam aus dem Auditorium, in dem sich immerhin elf Interessierte für diesen Fotokurs in Theorie und Praxis, wie er offiziell hieß, eingefunden hatten.

"Wer hat es nicht verstanden?"

Natürlich rührte sich niemand. Manche schienen sogar den Atem anzuhalten.

Sandra lachte. "Gut, dann möchte ich, dass jeder - und jede - von Ihnen", scheiß Gendern, jagte ihr ein Gedanke durch den Kopf, "bis zum nächsten Mal einen Gegenstand fotografiert. Manuelle Einstellung, korrekte Belichtung, beginnend mit offener Blende, bis zur geschlossenen Blende. Notieren Sie sich dabei die dazugehörigen Verschlusszeiten. Nächste Stunde besprechen wir die Ergebnisse, die Sie bitte auf Stick oder CD mitbringen. - Danke!" Es folgte ein kurzes, verhaltenes Hörsaaltischgeklopfe.

Sandra packte gerade ihre Unterlagen in den Rucksack. Sie hatte den Teilnehmern zusätzlich zu den Kopien, die sie austeilte, noch das Grundlagenbuch "Andreas Feiningers große Fotolehre" empfohlen, das sie auch als Ansichtsexemplar mitgebracht hatte. Digitale Fotografie gut und schön, aber die fotografischen Grundlagen sowie der Blick aufs Wesentliche - im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn - waren in diesem Buch aus dem Jahr 1978 ihrer Meinung nach am besten zusammengefasst.

"Entschuldigung", hörte sie eine Stimme hinter sich. Sie wirbelte herum.

"Entschuldigung", lachte der junge Mann mit dem Dreitagebart. Er war neben einsamen Pensionisten und gelangweilten Hausfrauen über fünfzig mit Abstand der Jüngste in der Runde.

"Bitte?", lächelte Sandra und war fasziniert, dass er bei seiner geringen Körpergröße weder auf ihren Rocksaum noch auf ihren Busen starrte.

"Kann ich Portraits auch machen?"

"Zu Portraits kommen wir erst später, aber prinzipiell kein Problem." Sie schulterte ihren Rucksack.

"Würden Sie mir Modell stehen?"

Sandra war so überrascht, dass sie gar nicht auf die Idee kam zu erröten oder seine Bitte als Kompliment aufzufassen. Machte sich der Mann, der vielleicht nur ein paar Jahre jünger war als sie, womöglich Hoffnungen. Sie sah auf ihren Ringfinger. Den Partnerring von Anika hatte sie mittlerweile abgelegt und mit Joe hatte sie sich noch auf kein Symbol für ihre Beziehung festgelegt.

"Bis zum nächsten Kurs habe ich leider keine Zeit."

"Das macht nichts. Muss ich eben einen Baum oder sonstwas knipsen. - Sagen Sie mir einfach einen Termin, wann es für Sie passt. Sagen Sie mir, wann und wo."

"Das ist wirklich ..."

"Kein Problem, Sandra. Ich darf doch Sandra sagen!"

Ihr war es nicht entgangen, dass es sich dabei um eine Feststellung und nicht um eine Frage handelte.

"Musst dich auch nicht jetzt entscheiden. Ich geb' dir meine Karte. Wenn es für dich passt, rufst du mich einfach an oder schickst mir `ne Mail." Dabei zwinkerte er neckisch mit einem Auge.

"Aber nicht sauer sein, wenn's in den nächsten Wochen nicht klappt."

"Klar! Null Problem." Damit verschwand er aus dem Klassenzimmer und ließ sie allein zurück.

Seine Karte war ein beinahe rechtwinkelig zugeschnittenes Stückchen Papier, auf das mit Kugelschreiber eine 0676-Nummer gekritzelt war. Darunter stand Heinz und eine Gmail-Adresse. Sandra wusste nicht, warum sie den Zettel überhaupt in ihre Handtasche steckte. - Das war das Furchtbare bei Männern. Selbst wenn sie passabel aussahen, mussten sie sich stets beweisen, wie toll sie waren, sich ständig aufdrängen, stets auf der Jagd nach noch kürzeren Röcken oder längeren Beinen sein. Sandra besaß nicht nur beides in generösem Überfluss, sondern obendrein auch noch eine Menge anderer Qualitäten.

Als sie am Abend nach Hause kam, stand eine dreckige, verstaubte Holztruhe mitten in ihrem Vorraum, die aussah, als stamme sie von Bord der Black Pearl. "Captain Sparrow!?, bist du da?" Hohl wie der Ruf des Klabautermanns polterten ihre Worte durch das Haus.

Joes abgeschminktes Gesicht tauchte mit einem Handtuchturban in der Tür zum Bad auf. "Was gibt's, meine Große?"

"Ist das die Beute deiner letzten Kaperfahrt?"

"Was?"

"Ich meine diese dreckige, vergammelte Seemannskiste hier, die mein ganzes Vorhaus verschandelt."

"Das ist ... was hältst du davon, wenn wir sie gemeinsam öffnen?"

"Ich krieg' aber die Hälfte, wenns spanische Dublonen sind. Nachdem du mir schon den ganzen Dreck hier reinbringst."

Joe nahm die Hände hoch, als würde sie mit einer Waffe bedroht. "War nicht ich. Die Kiste haben die Typen vom Bau gebracht."

"Ah", lachte Sandra verächtlich. "War leicht Padrone Aqua-Alta hier, der dich mit seiner Stimme neulich zum Überlaufen gebracht hat?"

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