Choreographie - Handwerk und Vision

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Die Stoffquelle des inneren Raumes

Künstlerisch zu wirken bedeutet für viele Menschen, eine innere Spannung zu empfinden, die in der Arbeit ausgedrückt wird; das heißt, dass sich verschiedene Pole im Inneren konfrontativ gegenüberstehen. Beispiel: Ein Mensch aus Grönland zieht nach New York. Er kann sich an die Begrenzung des Raumes nicht gewöhnen. Das Bild der Häuserfassade überlagert er in Gedanken ständig mit der Weite. Die wahrzunehmende Enge und die Sehnsucht nach der Weite stehen sich in seinem Inneren als Spannungsfelder gegenüber. Aus diesem Spannungsfeld heraus entsteht in ihm der Wunsch, ein Stück zu kreieren, mit dem er diese Gedanken in eine Form bringen möchte, um seine Erfahrungen mit den in New York lebenden Menschen zu teilen.

Wollen Sie aus einem inneren Konflikt heraus Material erzeugen, das in eine Gestaltung mündet, dann brauchen Sie den inneren Raum in Verbindung mit einem offenen Kanal nach außen. Es nützt dem Grönländer noch nicht viel, wenn er Bilder der Weite zwischen den Hochhäusern sieht. Er muss die Empfindungen umsetzen können, um dann zu vergleichen, ob die Umsetzung dem entspricht, was in seinem Inneren entstand. Deshalb arbeitet dieser Kanal in beide Richtungen und ist Teil der handwerklichen Ausstattung, um künstlerisch zu gestalten. Und das ist keine Fähigkeit, die, einmal in uns etabliert, funktioniert. Es ist ein ständiger achtsamer Prozess, den inneren Raum mit dem äußeren in Verbindung und ins Verhältnis zu setzen. Funktioniert diese Verbindung, dann spüren wir es daran, wie die Welt, die wir sehen, ständig zu uns eindringt und Reaktionen und Spannungen auslöst, die uns antreiben, Stücke zu machen.

Andererseits entsteht mit diesem Kanal eine gewisse Verwundbarkeit, denn es ist ein Zustand ohne Mauern um unsere Seele - also ohne Schutz. Eigentlich wissen Sie, ob der Kanal funktioniert oder nicht. Sie wissen, ob die Welt in Sie eindringt oder draußen bleibt. Falls kein Impuls von außen nach innen dringt, dann äußert es sich zum Beispiel darin, dass wir uns in der Wahl der Themen wiederholen oder keine haben, und es stellt sich die Frage, ob wir uns mit der Wiederholung und der Leere begnügen oder an der Verbindung zwischen der mentalen und der äußeren Welt arbeiten.

Choreographen bilden ihre Tänzer immer auch mit aus. Zum einen geschieht das, um mit besseren Tänzern bessere Stücke zu machen, zum anderen entwickeln sich auch die Choreographen während der Ausbildung der Tänzer. Ich empfehle Ihnen deshalb, den inneren Raum bei Ihren Tänzern zu trainieren - es wird sich auch auf Sie als Choreograph auswirken. Was die Tänzer betrifft, so sollten diese mit dem Thema vertraut sein, wenn der Choreograph über die folgenden Zugänge seine Choreographie erarbeitet:


Geleitete Komposition Die Tänzer entscheiden in der Improvisation, wie sie sich bewegen, und reagieren dabei auf Anweisungen von außen.
Visualisierung Bewegungen entstehen über ein inneres Bild.
Identifikation Bewegungen entstehen durch die Einarbeitung in eine vorher umrissene Charakterisierung einer Figur.
Emotion Bewegungen entstehen über das Herstellen vorher definierter emotionaler Stimmungen.

Intensionen

Unabhängig davon, ob Sie für einen Showtanz ein Repertoire zusammenstellen oder aus Ihren innersten Regungen heraus schöpferisch authentisches Material entwickeln - für jede Bewegung, jede Szene und jedes Stück gibt es eine Intension und mit ihr eine übergeordnete, stilistische Form.


Sehen Sie sich die Proben oder Tanzstücke im Theater an und beurteilen Sie aus freiem subjektivem Empfinden heraus:

1 Sehen Sie eine Intension, eine Notwendigkeit im Aufeinanderfolgen der Bewegungen? Die Intension muss aber nicht unbedingt verbal benennbar sein.

2 Ergänzen sich bei Gruppentänzen die Intensionen der Tänzer bzw. stehen diese, weil es die Dramaturgie erfordert, zueinander im Kontrast?

3 Gibt es eine Gesamtintension und eine daraus übergeordnete, stilistische Form?

4 Ist eine szenische Intension erkennbar?

5 Wie kommt die Bewegungsintension zum Ausdruck?

6 Was genau transportiert Intensionen?

7 Was wirkt austauschbar?

Da die getanzte Intension oft nicht in Worten fassbar ist, ist es wichtig, immer wieder mit den Tänzern in den Dialog zu treten. Begreifbar zu machen, WAS ES IST. Was wollen wir damit? Was passiert überhaupt? Wer hier keine Antworten spürt oder keinen Grund, warum er überhaupt losgeht, der wird auch nirgendwo landen.

Die Kraft des Antriebs, ein Stück zu inszenieren, geht nicht selten in der wachsenden Komplexität der Probenarbeit verloren. Wachstum endet dort, wo sich die Wurzeln verlieren. Machen Sie sich also immer wieder die Intension klar - dann gibt es etwas, das Sie mit dem Stück wollen, wonach die Tänzer suchen können und woran - insofern die Ansätze greifen - alle an der Produktion Beteiligten glauben werden.

Nehmen Sie Aufträge für die choreographische Umsetzung von gegebenen Themen an, werden Sie sich so lange mit dem Thema beschäftigen müssen, bis Sie persönliche Intensionen in dem Stoff entdecken - etwas, das Sie als Ihre persönliche Chance begreifen. Sie müssen die Schnittmenge Ihres Selbst und der des Materials entdecken, bevor eine Notwendigkeit entsteht, die Sie mit der Aufgabe hinaus auf die Bühne vor die Augen der Zuschauer treibt. Nehmen Sie Choreographieaufträge für Tanzeinlagen in Schauspielproduktionen an, kann es mitunter zu einem schwierigen Unterfangen werden, die Visionen des Regisseurs zu treffen und gleichzeitig eine Identifikation mit der Materie zu erlangen.

Um die Verbindung zwischen Form und Intension zu überprüfen, experimentieren Sie mit den folgenden Extremen:



2 Thema – Struktur – Dramaturgie


Die Energie eines Stückes ist vor dessen Entstehung schon da. Diese Energie sucht sich eine Form, in der sie sich entwickeln kann. Diese Form wird gebildet aus den in der oberen Abbildung vorhandenen Elementen, über denen ein Thema oder eine Idee schwebt.

Das Thema kann wirklich alles sein: die reine Bewegung an sich, die Besetzung zentralafrikanischer Staaten, einfach Tanz zu Musik, das Ausprobieren, alles kann ihr Thema sein. Aber Sie müssen es haben, sonst können Sie es nicht vertiefen. Die Tänzer, das Licht, alle Faktoren, die gestalterisch in Ihre Aufführung einfließen, alles, was außerhalb des Choreographen stattfindet, das alles wird es nur geben, wenn vorher im Innersten eine Notwendigkeit und eine damit verbundene Intension entstanden ist.

Thema und Stoff

Einerseits können Sie aus jedem Thema eine gute Arbeit machen, weil es wichtiger ist, was Sie aus dem Stoff machen, als was in ihm steckt. Andererseits, wenn der Stoff zu wenig Gehalt aufweist, wird er ungleich mehr Blut, Schweiß und Tränen kosten, um ein gutes Stück daraus zu machen. Manchmal entpuppt sich ein zuerst großes, vielversprechendes Thema während der Arbeit als Seifenblase, oder eine Lappalie, aus der man unter keinen Umständen ein ganzes Stück machen wollte, entwickelt sich dann jedoch zu einer großartigen Idee, die einen über einen langen Zeitraum begleitet. Läuft Ihnen ein Thema über den Weg, und Sie legen sich sofort fest, daraus ein Stück zu machen, kann es passieren, dass Sie sich dadurch bereits zu sehr fixieren. Geben Sie dem Stoff Zeit, sich zu entwickeln. Vergessen Sie ihn mit ruhigem Gewissen wieder. Wenn der Stoff etwas mit Ihnen zu tun hat, wird er Sie verfolgen, und der Stoff kommt wieder.

Eine als wertvoll erscheinende Idee, die ein Treffen des Zeitgeists erahnen lässt, in Ihnen aber keine Bilder zum Leben erweckt, die nach tänzerischen Übersetzungen verlangen, sollte auf das Potenzial für eine choreographische Lösung hinterfragt werden, bevor dem Stoff ein bloßes „Vertanzen" aufgezwungen wird, das ihn ärmer und oberflächlicher erscheinen lässt anstatt tiefer und mehrdimensionaler.

Wenn Sie über Themen nachdenken, nehmen Sie jene, die bildhaft sind und eine Notwendigkeit zur tänzerischen Auflösung in Ihnen auslösen. Beobachten Sie, wie Sie in Bildern und Gedanken auf die Themen reagieren. Wenn Sie sich von einer Geschichte angezogen fühlen, denken Sie über die mythologischen Aspekte dieser Geschichte nach - oder ob die Geschichte eine archaische Komponente hat, die eine tiefe, nonverbale Thematik in Ihnen anspricht. Damit will ich sagen: Es sollte etwas darin geben, das Sie nur mit Tanz ausdrücken können. Vermeiden Sie das bloße tänzerische Illustrieren einer Geschichte oder einer Handlung.

 

Der Vorteil einer theatralisch erzählten Geschichte ist, dass sich der Zuschauer mit den Figuren identifiziert, durch die Handlung der Geschichte in einen aufsaugenden, den Zuschauer hineinziehenden Sog gerät, und sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und fiktiver Geschichte im erzählerischen Moment verlieren. Dieser Sog baut sich aus „Plot Points" auf, welche die Figuren, die wir verstehen und lieben lernen, in Situationen bringen, in denen sie über sich selbst hinauswachsen müssen. Dadurch lösen die Figuren innerhalb ihrer Reise durch die Handlung oft einen tiefen unbewussten, eigenen Konflikt, durchlaufen eine Metamorphose mit vielen Rückschlägen und Prüfungen und sind am Ende eine Persönlichkeit, die sich von der am Beginn der Geschichte gelöst oder erweitert hat.

Die Identifikation mit den Figuren über eine erzählende Handlung lässt sich im Tanz nur sehr schwer realisieren, da das erzählerische Moment stark an verbale Ausdrucksformen geknüpft ist. Es entspricht nicht dem Wesen des Tanzes, als Sprachrohr für eine Erzählung zu dienen, bei der es um Identifikation und eine Dramaturgie entlang einer Plot-Point-Linie geht. Vielmehr vermag der Tanz die Geschichte in eine höhere Ebene zu transformieren, eine Ebene, die seelischen Dingen näher ist als rationell-gedanklichen. Untersuchen Sie Ihre Themen nach solchen Ansätzen. Wenn Sie dabei allerdings zu dem Schluss kommen, dass Sie einfach nur eine Geschichte erzählen wollen, dann sollten Sie sich fragen, ob es nicht besser oder effizienter ist, mit Schauspielern zu arbeiten.

Alles, was Sie tänzerisch zu erzählen bemüht sind, lediglich um eine Handlung zu illustrieren, wird über mühsames Gestikulieren schwerlich hinausragen. Es geht darum, die Aspekte einer Handlung oder einer Figur mit dem Wesen des Tanzes zu begreifen, das dem Narrativen weniger nah ist als dem Allegorischen. Handlung ist nicht zu verwechseln mit der Intension eines Beziehungsaspektes, der eine handlungsähnliche Charakteristik aufweist. Wie zum Beispiel: A will zu B. Aber B erträgt es nicht, weil B unberühr-barer sein will, als es den Intensionen von A entspricht.

Das hat mit Charakteren zu tun und lässt sich auch wie ein dramatischer Ablauf konstruieren, aber es ist noch keine Geschichte wie die von Romeo und Julia.

Nun mögen Sie dem entgegensetzen, dass Sie Tanzvorstellungen einer Geschichte wie Romeo und Julia gesehen haben, die mit den tänzerischen Mitteln sehr berührt haben. Aber fragen Sie sich: „Ist es wirklich die Geschichte, die berührt, oder wurde mit dem Ausdruck des Tanzes eine Vertiefung geschaffen, die über das Narrative der Geschichte hinausgeht?" „Hat die Vorstellung nicht andere Aspekte der Geschichte beleuchtet als das Erzählerische?"

Jeder berührende Roman bringt eine tiefere Ebene als die der bloßen Handlung ans Licht. In der Literatur geschieht dies mit literarischen Mitteln, die in der choreographischen Umsetzung mit tänzerischen Möglichkeiten ersetzt werden müssen. Allzu oft aber wird die tänzerische Entsprechung dieser Vertiefung deshalb vergessen, weil wir das, was mit literarischen Mitteln erzeugt wurde, intuitiv der Geschichte anhaften, obwohl es eigentlich Kunstfertigkeiten sind, die, losgelöst von der Handlung, dem Roman eine weitere Dimension schenken.

Machen Sie sich bewusst, dass es neben der Handlung eine mythologische Ebene gibt, die Sie, wenn Sie eine Geschichte in Tanz transformieren, kennen oder wenigstens erahnen müssen, um sie vertiefen zu können. In vielen Geschichten gibt es eine vom Autor bewusst erzeugte Mythologie, wie zum Beispiel das Aschenputtel-Syndrom in Liebesgeschichten im Film „Pretty Woman" oder den Sieg des Schwachen über den Starken wie in „Rocky" oder die Fügung einer von den Göttern vorbestimmten Liebe, die stärker als der Tod ist. In vielen Geschichten aber wird sich die mythologische Ebene nicht klar definieren lassen; sie wird sich eher als Ahnung um eine weitere Dimension über der Geschichte abzeichnen, die von jedem anders empfunden wird. Ein Beispiel: Das Buch „Fleisch ist mein Gemüse" erzählt die Jugendjahre eines Singlemusikers, der am Ende dieser Zeit mit etwa Mitte zwanzig doch noch eine Frau findet. Manch ein Leser stellt sich die ahnende Angst vor, dass hinter den Figuren und dem Milieu, in denen sich diese bewegen, die große Leere wartet; dass da nichts mehr ist. Ein Gefühl, das viele Menschen in Augenblicken der Selbstreflexion als subtiles Aufflackern erleben, das sie dann im Keim ersticken. Die Angst vor der großen Leere, die hinter allem wartet, ist ein Thema mit einer mythologischen Dimension, das für manche Leser über der Geschichte schwebt und als Impuls für die Arbeit mit einer Choreographie genommen werden kann. Für einen anderen Leser aber wiederum liegt in der Geschichte das Ahnen, dass auch auf den, der weit weg von einer Beziehung lebt, noch irgendwann das Happy End mit der großen Liebe wartet - ein Wunsch, den viele in ihrer Einsamkeit und Isoliertheit durch einen selbst geschaffenen Kosmos gar nicht mehr zu träumen wagen, aber in einer ungesehenen, tiefen Bewusstseinsebene noch immer die Hoffnung auf eine vom Schicksal gebrachte Wendung schwebt. Auch hier findet sich viel Mythologisches, das weit entfernt vom sprachlichen Bewusstsein in einer choreographischen Lösung Ansätze finden kann.

Fragen an das Thema:

 Lässt sich, speziell mit Tanz, eine Essenz der Thematik treffen?

 Entwickeln Sie zu dem Thema Assoziationen, die sich schwer verbalisieren lassen, aber tänzerische Bilder initiieren.

 Welche Annäherungsmöglichkeiten bietet der Stoff? (Filme, Bücher usw.)

 Welche Unterthemen ergeben sich aus dem Thema?

 Was hat das Thema speziell mit Ihnen selbst zu tun? Provoziert es unterschiedliche emotionale Haltungen?

 Haben Sie der Thematik ausreichend Zeit gelassen, sich zu entwickeln?

 Was wollen Sie für sich selbst mit diesem Stück erreichen?


Von der Eröffnung bis zum Finale baut sich die Struktur auf.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Plexiglaskugel, die durch einen dreidimensionalen Raum fliegt. Manchmal fliegt die Kugel mit Ihnen durch eine Art enges Geäst und weicht schnell aus, aber dann schlagen die Äste gegen die Kugel. Daraufhin taucht die Kugel mit Ihnen im Inneren durch eine eigenartige Masse, die sich lautlos und unheimlich an ihr vorbeiquält. Das Gefährt nimmt an Geschwindigkeit auf, die Masse, durch die Sie sich eben noch hindurchbewegten, verflüchtigt sich, und Sie fliegen durch einen weiten offenen Raum, der in einen Trichter hinein führt, in dem Sie eine Straße entdecken, auf der Sie sich jetzt entlangbewegen. Aber die Kugel kommt ins Schleudern, jagt steuerlos, Kapriolen schlagend durchs Ungewisse, bis die Kapsel zerbricht, und Sie auf einer watteweichen Unterlage laden.

Die Struktur des Stückes
Die Plastik der Struktur

Der Zuschauer ist der Mensch in der Kapsel, das Stück, das Sie choreographieren, bildet die Landschaft, und es liegt an Ihnen, wie lange Sie in welcher Gegend bleiben. Der Wechsel der Umgebung, über die gesamte Reise betrachtet, formuliert die Struktur. Wenn der Zuschauer nach wenigen Minuten das Gefühl entwickeln wird, er sei auf einer endlosen Straße, die sich noch endlos lange so weiter zieht, wird sein Interesse für den Verlauf der Straße einfach irgendwann gegen null tendieren, denn er muss sich nicht mit dem, was Sie machen, auseinandersetzen; er kann es, wenn Sie ihn mitnehmen, wenn Sie die Strukturlandschaft so schaffen, dass er ohne sein Zutun mitgezogen wird. Sie müssen ein Gespür dafür entwickeln, wann die Kugel zur Genüge in dem jeweiligen Raum war, und wie der Raum aussehen muss, in den das Gefährt, in dem der Zuschauer sitzt, nun eintaucht. Das heißt, die Beschaffung der Struktur des Stückes hängt erst einmal von der Reise ab, die Sie mit dem Zuschauer in dem Raumgleiter zusammen zurücklegen wollen, und zwar im Kontext des Themas. Das wiederum bedeutet, dass Sie die Inhalte in die Landschaften hineinlegen müssen und nicht umgekehrt.

Beispiel

Wenn Sie so etwas wie Krieg darstellen wollen, heißt das nicht, dass unbedingt 15 Tänzer wie von der Tarantel gestochen über die Bühne jagen müssen. Es kann auch ein Kind eine Straße entlanggehen oder ein einzelner Mensch völlig bewegungslos dasitzen. Der Krieg, den Sie im ersten Moment sehen wollen, ist vielleicht der mit den 15 Tänzern. Aber wird Ihr Publikum da mitgehen? Mit 15 rasenden Tänzern formulieren Sie eine andere Landschaft als mit einem allein gehenden Kind, und Sie müssen darüber entscheiden, auf welchen Krieg Ihr Publikum sich an welcher Stelle der Gesamtstruktur einlassen wird.


Die emotionale Intensität eines Stückes und deren zeitliche Entwicklung

Beharren Sie nicht steif auf dem, was Sie sehen wollen, sondern denken Sie darüber nach, was es mit Ihnen macht, wenn Sie den Vorgang zum allerersten Mal ohne ein erklärendes Wort und im Zusammenhang mit den vorangegangenen Szenen sehen. Wenn sich nicht das herstellt, was Sie wollen, werfen Sie die Struktur um. Vielleicht funktioniert Ihre Vorstellung von der Szene an einer anderen Stelle des Stückes problemlos. Wenn Sie an eine Reihenfolge gebunden sind, dann müssen Sie sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, die Szene zu ändern.


Ein und dieselben Inhalte einer Szene verlangen an unterschiedlichen Stellen innerhalb des Stückes eine unterschiedliche Form, weil der Zuschauer auf seiner Reise in der „Kugel“ zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich bewegt werden will.

Den Inhalt in die Struktur einzubetten bedeutet nicht, dem Publikum gefällig zu sein, sondern es mitzuziehen. Das ist ein großer Unterschied. Es gibt Filme, in denen möchte man gern wegsehen, schaut aber unablässig zu. Das ist das beste Beispiel für einen ungefälligen Strudel, der einen gefangen nimmt, weil die Struktur des Filmes flüssig bleibt und den Sog beibehält. Das hat mit Achtsamkeit und Handwerk zu tun. Einer holprigen Stückstruktur bringt die entstehende Ungefälligkeit nichts, weil das Interesse des Zuschauers verloren geht. Wenn es Ihnen davor graut, Gefahr zu laufen, die Zuschauer gefällig zu bedienen, so versuchen Sie nicht, über eine holprige Struktur ungefällig zu sein, sondern über Ihre Bewegungssprache und darüber, was diese zu erzählen vermag.


Einführung

Der Zuschauer will abgeholt werden. Er kommt mit der ganzen Welt im Nacken ins Theater, und es wird einige Zeit dauern, bis er die Welt aus seinen Gedanken entlässt und sich auf Ihr Projekt einlassen kann. Die ersten Überlegungen gelten demnach also der Einführung des Zuschauers in das Stück:

 Wie wollen Sie den Zuschauer in das Stück hineinführen?

 Wie viel Zeit haben Sie für die Einführung? 15 Sekunden? Zehn Minuten?

 Müssen Sie die Figuren einzeln einführen oder als Gruppe?

 Wie viel Zeit ist für die Einführungsphase notwendig?

 Wollen Sie ein Postulat setzen?

 Wie tragen Sie das Thema an den Zuschauer heran?