Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Regeneration auf faschistische Art

Der Faschismus war keine rein reaktionäre Bewegung, sondern eher ein populistischer Versuch, auf die Modernisierungskrise der italienischen Gesellschaft zu reagieren. Strukturell gesprochen ging der Faschismus aus Italiens verspätetem Übergang von einer agrarischen zu einer industriellen Ordnung hervor, der Klassenkonflikte mit tiefen Trenngräben und ein regionales Gefälle zwischen dem sich industrialisierenden Norden und dem noch agrarischen Süden verursachte. Unter dem Aspekt der praktischen Politik betrachtet, hatte der Faschismus seine Ursache in den Schwierigkeiten des Übergangs vom Krieg zum Frieden. Denn das Parlament vermochte nicht, den seit jüngstem wahlberechtigten Massen ein angemessenes Auskommen zu sichern und der Enttäuschung zu begegnen, die sich angesichts überzogener Hoffnungen auf einen für Italien günstigen Frieden unvermeidlich einstellte. Die verschüchterten liberalen und katholischen Politiker waren nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung gegen die Gewalt zu behaupten, die von zwei Seiten kam: von den Kommunisten, die versuchten, Fabriken zu besetzen, und von der extremen Rechten, die sich bemühte, hierfür Vergeltung zu üben. Um ein kraft- und haltloses Italien zu revitalisieren, versprach die faschistische Bewegung soziale Gerechtigkeit innen und imperiale Macht außen, indem sie sich auf eine konfuse Mischung aus Futurismus, Nationalismus und Syndikalismus berief.1 Es war die Unfähigkeit der parlamentarischen Regierung, Italiens lang- und kurzfristige Probleme zu lösen, die diesem populistischen Newcomer eine Chance gab.

MussolinisMussolini, Benito entscheidender Beitrag war die Erfindung einer modernen Form rechtsextremer Politik, mit der er nicht nur eine nationale Erneuerung proklamierte, sondern auch tatsächlich die Macht ergriff und sie über mehrere Jahrzehnte behielt. Die Faschisten reagierten auf die Erosion des Respekts vor den traditionellen Autoritäten, indem sie eine neue Art von Massenbewegung erfanden, die für sich beanspruchte, die gesamte nationale Gemeinschaft zu repräsentieren. Um seine Gefolgsleute zu inspirieren, baute MussoliniMussolini, Benito systematisch einen Führerkult auf, der ihm, dem Duce, übermenschliche Eigenschaften zusprach, die ihn befähigten, den kollektiven Willen seherisch zu erahnen und in die Tat umzusetzen. Der Faschismus machte zudem geschickten und einfallsreichen Gebrauch von Medien wie Presse, Rundfunk und Wochenschauen; so ließ sich seine politische Botschaft unter erheblich mehr Menschen verbreiten als je zuvor. Gleichzeitig suchte er das ganze Land zu kontrollieren und zu indoktrinieren, indem er Organisationen ins Leben rief und so gestaltete, dass ihnen eine Massenmitgliederschaft zuwuchs. Zu guter Letzt hegte MussoliniMussolini, Benito keinerlei Skrupel, zur Unterdrückung von Feinden im Inneren Gewalt zu gebrauchen.2 Diese innovativen Strategeme, die den Faschismus kennzeichnen, gingen beträchtlich über die traditionellen Methoden der autoritären Regime hinaus, indem sie eine umfassendere Kontrolle über die Gesellschaft bezweckten.

Vieles in der praktischen Politik der Faschisten beinhaltete auch Modernisierung – wobei es ihnen freilich eher um mehr nationale Stärke denn um mehr Wohlfahrt, Bildung und Aufklärung ging. Immer wieder beschworen sie Glanz und Glorie der Vergangenheit – und doch waren Mussolini und andere faschistische Führer fasziniert von der modernen Technologie, namentlich davon, welche Geschwindigkeit und Mobilität sie ermöglichte: Man sah sie oft am Steuer eines Flugzeugs oder eines schnellen Autos sitzen, manchmal brachten sie sich in diesem Schnelligkeitsrausch gar in tödliche Gefahr. Selbst ihre Kampagne für das Landleben war nicht allein durch Nostalgie motiviert, sondern auch durch ihr Bestreben, die agrarischen Ernten zu steigern und auf diese Weise Italiens Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen. Die Bemühungen um eine bessere Infrastruktur – so ließen sie neue Straßen, Eisenbahnlinien und Dämme errichten und das Stromnetz ausbauen – sollten natürlich ganz im nationalistischen Sinne das Land zusammenführen, aber eben auch materiellen Fortschritt noch in die entlegensten Gebiete bringen. Das militaristische Projekt eines unabhängigen Verteidigungssektors, das ermöglichen sollte, Schlachtschiffe und Kampfflugzeuge zu produzieren, erforderte auch eine Expansion der Schwerindustrie und eine Entfaltung des technischen Potenzials, die zivilen Nutzern ebenfalls zugutekam. Obwohl die Ziele des Faschismus oft irrational und manche seiner Maßnahmen ineffizient waren, wirkte er in seiner Praxis streckenweise wie eine Entwicklungsdiktatur.3

Im Bereich der Kultur warb der Faschismus mit einer eigenen Version der Modernität. Dieser Stil verschmolz Bezugnahmen auf eine ruhmreiche Vergangenheit mit technologischen Zukunftsvisionen. Während die Faschisten liberale Dekadenz und kommunistischen Materialismus ablehnten, strebten sie als Ersatz eine Art spiritueller Regeneration an. Zu diesem Zweck boten sie zahlreiche Kunstanstrengungen auf, bei denen verschiedene Tendenzen miteinander wetteiferten. In der Architektur war der faschistische Stil eine kuriose Mischung aus historistischen Zitaten und experimentellen Bautechniken, die zum Monumentalen neigte sowie suggestiv auf nationale Einheit und Macht hinwies. In den faschistischen Massenspektakeln vermischten sich Beschwörungen der altrömischen Größe mit dem Einsatz zeitgenössischer Technologien wie Lautsprecher und Lichtprojektionen. Zusammen mit der choreografierten Bewegung vereinte sich das Ganze zu einer Art Drama, das die Emotionen ansprach. Sogar bei Dingen des täglichen Bedarfs förderten die Faschisten weniger die Rückkehr zum Handgemachten als innovative industrielle Produkte im neuzeitlichen Design – so ließen sich, meinten sie, die Wünsche der Massen nach einem besseren Leben doch am ehesten erfüllen. Es konkurrierten also zwei Ausrichtungen, eine historisierende – Strapaese genannt – und eine futurisierende, die als Novecento firmierte. Die Balance zwischen den beiden blieb nicht immer stabil, aber alle Faschisten stimmten in dem Grundprojekt überein, einen neuen Menschen formen zu wollen, und dies müsse geschehen durch die »Ästhetisierung der Politik«.4

Der Faschismus war also nicht allein ein Rückfall, wie die Linke behauptete, sondern zumindest auch eine alternative Variante der Modernität, und zwar einer vitalistischen, die versprach, dass all die raschen Veränderungen, die sich einstellten und die Menschen desorientierten, sich kontrollieren ließen. Obwohl sie sich im Westen großer Beliebtheit erfreut, führt die Gleichsetzung der Modernisierung mit der kapitalistischen Demokratie in die Irre, denn sie verkennt, dass Kommunismus und Faschismus gerade dadurch modern sein wollten, dass sie sich bemühten, die Defekte des liberalen Systems, nämlich Ausbeutung und Degeneration, zu umgehen. Ein Teil der Verwirrung verdankt sich der Tatsache, dass der Duce und die Seinen so oft Altes idealisierten: MussoliniMussolini, Benito beschwor in seinen Reden ständig die romanità, die Faschisten benutzten antike Symbole und verwiesen auf ihre rühmliche Vergangenheit. Aber trotz all dieses Mythisierens war doch vieles an ihnen sehr modern, etwa das Ziel einer biologischen wie militärischen Stärkung der nationalen Gemeinschaft oder die Mittel der Massenmobilisierung und -propaganda. Die faschistische Vision faszinierte Intellektuelle aus aller Welt, so Ezra PoundPound, Ezra und Louis-Ferdinand CélineCéline, Louis-Ferdinand, weil sie versprach, die Krise der Moderne mit Hilfe einer dynamischen nationalen Einheit zu heilen.5 Tragischerweise brachte die Verwirklichung dieser konfusen Ideen statt Erlösung noch mehr Leiden, denn sie führte zur Unterdrückung daheim und zur Aggressivität nach außen.

Modernistische Provokationen


Der Bauhaus-Modernismus, 1929

Juli 1920, BerlinBerlin: Ein unscheinbarer Handzettel informierte über eine Ausstellung besonderer Art – die »Erste Internationale DADA-Messe«. Die experimentelle Kunstbewegung Dada hatte die deutsche Hauptstadt erreicht. Gegründet vier Jahre zuvor im Zürcher Café Voltaire aus Abscheu gegen den Weltkrieg, schockierte sie die Betrachter, indem sie eine »neue Wirklichkeit« schuf, die das Chaos des modernen Lebens repräsentieren sollte. Das sich gerade erst verbreitende Medium der Fotografie war den Dadaisten eine Inspiration. Künstler wie George GroszGrosz, George und John HeartfieldHeartfield, John verwarfen die Tradition, die ihrer Zunft die Aufgabe zuwies, Schönes zu schaffen. Lieber setzten sie mit brutaler Offenheit ins Bild, was der Krieg seinen Opfern antat, und kombinierten Alltagsobjekte auf neue erstaunliche oder verstörende Weise. Slogans wie »Die Kunst ist tot« und provokative Collagen aus Papierfetzen und anderem Fragmentären zogen sich an den Galeriewänden entlang. Das schockierendste Exponat war eine von der Decke herabhängende Puppe, die einen preußischen Offizier mit Schweinekopf darstellte. Die Kunstschau zeigte in krassem Ausmaß nihilistische, kommunistische, antiklerikale und antibourgeoise Tendenzen, die nicht allen gefielen. Die Reichswehr etwa sah sich durch die auf hohe Militärs gemünzte Parodie beleidigt und bemühte sich vergeblich, die Ausstellung schließen zu lassen. In vielfacher Hinsicht war der Dadaismus die radikalste Revolte gegen Konventionen, die im 20. Jahrhundert stattfand; laut einem ihrer Kombattanten, Raoul Hausmann, war er »der Beginn der modernen Kunst in einem internationalen Maßstab«.1

Im Gegensatz zu den Künstlern glaubten Wissenschaftler und Ingenieure unbeirrt weiter an den Fortschritt. Besonders deutlich wurde das bei der Einrichtung des Deutschen Museums in MünchenMünchen. Der Bauingenieur und Ausstellungsmacher Oskar von MillerMiller, Oskar von hatte das den »Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik« gewidmete Schauprojekt schon vor dem Kriege konzipiert. Im Mai 1925 öffnete das Deutsche Museum dann seine Pforten, Ingenieure und Handwerker formierten sich zu einer festlichen Parade und zogen durch die Straßen der bayrischen Hauptstadt. Die Ausstellung in den neumittelalterlich gestalteten Hallen begann mit den frühen Entdeckungen, setzte den Hauptakzent jedoch eindeutig auf die erstaunlichen Erfindungen der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, von Elektromotoren und chemischen Farbstoffen bis zu Automobilen sowie Flugzeugen. Die ganze Anlage des Museums propagierte ein heroisierendes Technikverständnis; besonders breiten Raum widmete es den Erfindern, die es als mutige Eroberer neuer Wissenswelten porträtierte und als Schöpfer von Verbesserungen, die der Menschheit zugutekämen. Zwar pries man ausgiebig die Leistungen deutscher Genies, doch ließen die Exponate keinen Zweifel, dass man auch den internationalen Charakter des wissenschaftlichen Fortschritts anerkannte.2 Besonders zeigte man sich bestrebt, die Neugier der Jugend anzusprechen. Unter den Schaustücken dieses größten aller Wissenschafts- und Technikmuseen der Welt waren einige Maschinen vertreten, die damals zur Speerspitze der technischen Innovation gehörten.

 

In jenen Jahren versuchten die Intellektuellen Mitteleuropas zu klären, wie sich mit der Modernisierung wohl zurechtkommen lasse. Den meisten ging es »nicht um einen Ausstieg aus dem Industriezeitalter, sondern um naturgemäßere oder menschlichere Formen der Existenz unter modernen Bedingungen«. Fasziniert von den ambivalenten Einwirkungen des großstädtischen Lebens auf die Individuen, dachte der Soziologe Georg SimmelSimmel, Georg über die zentrale Rolle des Geldes dabei nach. Ferdinand TönniesTönnies, Ferdinand wiederum unterschied kritisch zwei soziale Großkollektive: ein organisches, die »Gemeinschaft«, und ein gesichtslos abstraktes, die »Gesellschaft«. »Die ganze Zivilisation«, so resümierte Tönnies’ Gedanken ein späterer Kulturhistoriker, »sei auf den Kopf gestellt worden durch eine moderne Lebensweise, die von der bürgerlichen Marktgesellschaft dominiert werde, und diese Veränderung läute letztlich das Ende der Zivilisation als solcher ein.« Der Ökonom Werner SombartSombart, Werner hingegen feierte die Dynamik des Kapitalismus, indem er freilich die kreative und wagefreudige Unternehmerschaft dem krämerseligen und profitgierigen Händlertum gegenüberstellte. Erstere sah er, namentlich während des Weltkrieges, auf deutscher, Letzteres auf britischer Seite wirken. Die originellsten Gedanken zu diesem Thema äußerte Max WeberWeber, Max, der die verwirrenden Veränderungen im Zuge der Industrialisierung als Prozesse einer Rationalisierung und Bürokratisierung interpretierte. Doch wie seine wilhelminischen Kollegen hatte auch er zutiefst ambivalente Empfindungen gegenüber der Moderne samt ihren Auswirkungen und fragte sich, ob diese wohltätig oder problematisch würden.3

Diese Widersprüche, die der Begegnung mit der Moderne innewohnten, fanden besonders heftigen Ausdruck in der »Weimarer Kultur«, deren Entwicklung später oft als warnendes Exempel dafür verstanden wurde, was künstlerischer Extremismus anrichten kann.4 Diese Zuweisung ist nicht völlig unberechtigt; tatsächlich drängte der Kollaps mehrerer Imperien Intellektuelle und Künstler aus Mittel- und Osteuropa, scharenweise nach BerlinBerlin zu strömen und die Hauptstadt in ein Treibhaus für Experimente und Kontroversen zu verwandeln. Außerdem politisierte die Fragilität der ersten deutschen Demokratie die kulturelle Produktion in höherem Grad, als es die Verhältnisse in ParisParis oder LondonLondon mit vergleichbaren dortigen Bewegungen taten. Bei der Weimarer Kultur schien immer gleich die ganze Zukunft des besiegten Landes mitzuschwingen, wodurch aus Konflikten um Stile Zwistigkeiten um Ideologien wurden. Dass die Republik schließlich zusammenbrach, gab den intellektuellen Bemühungen ein tragisches Flair. Zudem kam es zu der »Flucht der Musen«, denn die Verfolgung durch die Nazis verstreute Kreative in alle Welt, in der sie viele der in den Weimarer Jahren ausprobierten Innovationen verbreiteten. Obwohl der deutsche Kontext in der historischen Diskussion seither eine besonders große Rolle spielt, bleibt doch festzuhalten, dass die kulturelle Konfrontation mit der Moderne ein europaweites Phänomen war und dass ähnliche Kämpfe überall stattfanden.

Der Explosion modernistischer Kultur in einer erregenden Vielfalt von Bewegungen und Stilen folgte eine harte ideologische Gegenreaktion. Schon im letzten Jahrzehnt vor 1914 hatte eine revoltierende Avantgarde versucht, die Grenzen des stickig gewordenen traditionellen Kanons zu sprengen. Die Leiden, die der Erste Weltkrieg brachte, vertieften das Empfinden einer Dissonanz. Umso dringender wollte man diese auch in der Kunst ausdrücken, was das Verwerfen der überkommenen Regeln beschleunigte und die Attacke auf die bürgerliche (Un-)Moral radikalisierte. Als Frieden und Wohlstand wiederkehrten, wurde daneben die Populärkulturindustrie aktiv, die die Massen primär unterhalten und der Modernisierung ein fröhliches, optimistisches Gesicht verpassen wollte. Linken Erneuerern wiederum gelang es, in ein paar Institutionen Einfluss zu gewinnen und dort Leistungen von bleibendem Wert zu erbringen; sie schufen den Stil einer klassischen Moderne. Traditionalisten hingegen beklagten, wie sehr das urbane Leben die Menschen ihrem Wesen entfremde; religiöse Führer empörten sich über Dekadenz, und Elitaristen bedauerten den Verfall der Standards. Neokonservative Ideologen versuchten gar, eine antimoderne Form der Moderne zu entwickeln.5 Die künstlerischen Experimente provozierten also intensive Konflikte, in denen die ideologischen Extreme die demokratische Vision, die sich zwischen ihnen befand, zerrieben.

Modernistische Revolte

Bei Anbruch des 20. Jahrhunderts empfanden viele Intellektuelle Unzufriedenheit hinsichtlich der hierarchischen Strukturen und der konventionellen Stile, die in Europas Hauptstädten immer noch vorherrschten. Während die Eliten auf dem Lande und in der Industrie noch fest die Kontrolle innehatten, verlangten die unteren Schichten, die sich in der Gewerkschaftsbewegung organisierten, lautstark mehr politische Rechte. Bürgerliche Werte wie Sauberkeit, Selbstdisziplin und Arbeitsamkeit blieben zwar weiterhin prägend, doch rebellierten feministische Aktivistinnen schon gegen das viktorianische Patriarchat und die Doppelmoral in sexuellen Angelegenheiten. Wohl erfreuten sich die Kirchen noch einer hohen Wertschätzung, aber wissenschaftliche Innovationen wie etwa die Evolutionstheorien untergruben die Autorität der Bibel. Technische Innovationen wie das elektrische Licht veränderten das Alltagsleben und weckten Hoffnungen auf weitere Verbesserungen. Während die meisten Architekten unverdrossen auf Bauweisen der Vergangenheit wie z. B. die Neugotik setzten, strebten die Wagemutigeren unter ihnen nach originellen, nie dagewesenen Ausdrucksformen. Dieser Suche schlossen sich auch Maler und Designer an; so entstand etwa jene neue Richtung der dekorativen Kunst, die hier »Jugendstil«, dort »Art nouveau« hieß.1 Es war dieser Widerspruch zwischen einer scheinbar unveränderlichen Ordnung und dem Empfinden, dass sich etwas bewegen sollte, der die modernistische Revolte inspirierte.

Dass damals so viele überzeugt waren, die Moderne beschere den Menschen Gutes, verdankt diese wesentlich den spektakulären Fortschritten der Wissenschaft während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Die biologischen Entdeckungen des britischen Forschers Charles DarwinDarwin, Charles boten eine rationale Erklärung des Ursprungs der Arten, die dem religiösen Schöpfungsmythos widersprach. Die dem franko-polnischen Forscherpaar PierreCurie, Pierre und Marie CurieCurie, Marie zuzuschreibenden Fortschritte der Physik öffneten die Tür zum Phänomen der Radioaktivität, während der deutsche Erfinder Werner von SiemensSiemens, Werner von Möglichkeiten fand, die Kraft der Elektrizität zu nutzen und kontrolliert weiterzuleiten. Zur gleichen Zeit bestätigten die Untersuchungen des französischen Biologen Louis PasteurPasteur, Louis und des deutschen Mediziners Robert KochKoch, Robert die Existenz und Wirkungsweise von Bakterien, sodass nun Krankheiten behandelt werden konnten, die zuvor als unheilbar galten. Und die Beobachtungen des österreichischen Psychiaters Sigmund FreudFreud, Sigmund zum neurotischen Verhalten seiner Patienten gaben einen Einblick in das Reich des Unbewussten, aufgrund dessen sich psychische Störungen besser in den Griff bekommen ließen. Die Liste der Durchbrüche könnte man in viele Richtungen erweitern, etwa um die Experimente in den chemischen Labors, die uns beispielsweise das Aspirin beschert haben.2

Auch technische Erfindungen trugen zum Fortschrittsbewusstsein bei, denn sie veränderten das Alltagsleben tiefgreifend. Der Bau städtischer Kanalsysteme ließ den flüssigen Unrat aus den Straßen verschwinden, und die Versorgung der Haushalte mit sauberem Wasser verbesserte die Volksgesundheit. Stromnetze brachten Licht in Wohnungen und Läden, beendeten die Tyrannei der Nacht und änderten den Schlaf-Wach-Rhythmus in den Metropolen. Telefonverbindungen ermöglichten Kommunikation über weite Strecken, selbst wenn gewaltige Distanzen die Gesprächspartner trennten – sie konnten miteinander in persönlichen Kontakt treten und Geschäfte tätigen. Schienen wurden verlegt und Tunnel gegraben; so war man dank Straßenbahn und U-Bahn in den boomenden Städten mobil. Eisenbahnlinien verbanden immer weiter voneinander entfernte Orte und verkürzten die Reisezeiten. Die Erfindungen Fahrrad und Auto sicherten die individuelle Beweglichkeit und schufen ein neues Bewusstsein für Geschwindigkeit.3 Indem sie uralte Einschränkungen zu überwinden halfen, beschleunigten solche technischen Entwicklungen die Zeit und ließen Entfernungen schrumpfen. Diese innige Verschmelzung der Moderne mit Mobilität und Schnelligkeit verlangte geradezu nach neuen Formen kulturellen Ausdrucks jenseits des Kanons der Tradition.

Ein Zeichen der Revolte waren die »Sezessionen«, programmatische Abspaltungen einzelner Künstlergruppen vom gerade tonangebenden Kunstbetrieb. Viele Maler wollten mit der Konvention der gegenständlichen Darstellung brechen und Farben und Linien freies Spiel gewähren. Als die Jury der PariserParis Kunstakademie 1863 impressionistische Gemälde ablehnte, arrangierte Edouard ManetManet, Edouard eine unabhängige Parallelausstellung, den »Salon des Réfusés« (»Salon der Abgelehnten«), der Leinwände zeigte, auf denen sich lauter Lichtpunkte tummelten. In den Jahrzehnten danach organisierten auch der Bildhauer Auguste RodinRodin, Auguste und der Maler Pierre-Auguste RenoirRenoir, Pierre-Auguste unabhängige Ausstellungen für innovative Werke und umgingen so die Kontrolle des Kunstmarkts durch konservative Akademiemitglieder. Die Experimente der Fauvisten mit kühner Farbgebung wurden ebenso gefördert wie die der Kubisten, die sich in die abstrakte Linienführung vorwagten. Schon bald präsentierte die autonom veranstaltete Werkschaureihe Maler, die traditionelle Vorstellungen von Schönheit bewusst überschritten, etwa Henri MatisseMatisse, Henri, Paul CézanneCézanne, Paul und Paul GauguinGauguin, Paul. 1897 sezessionierten in ähnlicher Weise die WienerWien Künstler Gustav KlimtKlimt, Gustav und Otto WagnerWagner, Otto aus der österreichischen Kunstakademie und proklamierten: »Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit«. Diese Forderung vertrat auch ihr BerlinerBerlin Kollege Max LiebermannLiebermann, Max, und so griff die Rebellion der Maler auf die deutsche Hauptstadt über. Dort bahnte sie der Eruption des Expressionismus den Weg, jener Richtung, die man eine Zeitlang schlicht »Moderne Kunst« nannte.4

Dass sich die Komponisten von der Harmonie abwandten, wodurch die schrillen Dissonanzen und die hektischen Rhythmen des Großstadtlebens Eingang in die Konzertsäle fanden, war ein weiterer Indikator des Modernismus. Richard StraussBerlin, Vertreter einer überreifen Spätromantik, dehnte zwar das tonale Vokabular erheblich aus, doch der immer wieder hervorblitzende Humor und die unerwarteten harmonischen Auflösungen wussten das Publikum zu bezaubern. Ähnlich erschienen in Gustav MahlersMahler, Gustav schier endlosen Sinfonien die bedrohlichen dissonanten Crescendi ausgeglichen durch die Gefälligkeit volksliedhafter Melodik. Hingegen ließ Claude DebussyDebussy, Claude bei seinen Experimenten zur fein abgestuften musikalischen Nachzeichnung von Stimmungen und fluktuierenden Impressionen den Kanon der klassischen Formen oft hinter sich. Arnold SchönbergSchönberg, Arnold schließlich warf die Zwänge der Tonalität vollständig ab und wagte sich ins Offene vor, um »einen bunten ununterbrochenen Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen« zu erzeugen. Derlei Innovationen aber schockierten die Zuhörer, die gefälligere sinfonische Stile gewohnt waren. Durch seine mutigen Experimente mit der Atonalität lockte Schönberg zwar ergebene Schüler wie Anton WebernWebern, Anton und Alban BergBerg, Alban an, aber der intellektualistische Charakter dieser »modernen Musik« befremdete viele Konzertbesucher doch sehr; Attraktion vermochte sie nur auf einen kleinen Zirkel Eingeweihter auszuüben.5

 

Gegen bürgerliche Ordnung und Respektabilität rebellieren konnte man auch durch das Schreiben und Inszenieren von Dramen mit sozialer und psychologischer Thematik. In realistischen Stücken wie Nora. Ein Puppenheim und Hedda Gabler kritisierte der Norweger Henrik IbsenIbsen, Henrik die Familien der Mittelschicht, indem er die desaströsen Konsequenzen vorführte, die sich aus patriarchaler Dominanz ergeben konnten. Namentlich ging es ihm um die gesellschaftlichen Normen, die die Frau zur Häuslichkeit zwangen, dem Mann aber sexuelle Freizügigkeit gewährten. Heiterer kamen die Stücke des Iren George Bernard ShawShaw, George Bernard daher. Shaw, Schriftsteller und Mitbegründer der sozialistischen Intellektuellenbewegung Fabian Society, legte die verhängnisvollen Auswirkungen des britischen Klassensystems offen und gab es der Lächerlichkeit preis, indem er aufzeigte, wie viel Heuchelei ihm innewohnte. Er verfasste zu diesem Sujet eine ganze Reihe von Komödien, die viel Beifall ernteten, darunter Helden (original Arms and the Men) und Pygmalion. Mit ähnlicher Intention, aber in einer drastischen naturalistischen Sprache demonstrierte der deutsche Autor Gerhart HauptmannHauptmann, Gerhart die Herzlosigkeit des kapitalistischen Systems in seinem anklagenden Stück Die Weber, das den hoffnungslosen Widerstand der schlesischen Handwerker gegen die Konkurrenz der industriellen Fertigung auf die Bühne brachte.6 Während ShawsShaw, George Bernard Texte Vorurteile durch Ironie lächerlich machten, gingen IbsenIbsen, Henrik und HauptmannHauptmann, Gerhart ernster zu Werke. Sie griffen bürgerliche Empfindlichkeiten frontal an, wobei naturalistisches Drama und skandalträchtige Provokationen eine Einheit bildeten.

Etwas weniger lautstark suchten auch die Romanautoren, der Tradition zu entkommen, in diesem Fall den Erzählkonventionen. Den Bruch vollführten sie, indem sie über Tabuthemen schrieben und das subjektive Bewusstsein erkundeten. In Deutschland handelte sich der sozialkritische Schriftsteller Heinrich MannMann, Heinrich mit einer Satire auf die Arroganz des wilhelminischen Bürgertums, dem Roman Professor Unrat, Ärger mit der Zensur ein; nach dem Buch entstand später ein berühmter Film, Der blaue Engel mit Marlene DietrichDietrich, Marlene. In Frankreich mühte sich der hochproduktive André GideGide, André, gegen moralistische Zwänge vorzugehen. In Romanen wie Der Immoralist erkundete er seine eigene Homosexualität, zu der er sich wagemutig bekannte – genau jene »schwere Unzucht« hatte den britischen Dramatiker Oscar WildeWilde, Oscar in den Kerker gebracht. In Österreich experimentierte Arthur SchnitzlerSchnitzler, Arthur mit dem Erzählmodus des »Bewusstseinsstroms«; so zeichnet er in seiner Prosa psychische Störungen nach, die seinerzeit viele Wiener in den Selbstmord trieben. In England ergründete der Schriftsteller und Autodidakt D. H. LawrenceLawrence, D. H. die durch die menschliche Sexualität aufgewühlten Leidenschaften, und dies so unverhohlen und ungehemmt, dass viele Kritiker Romane wie Söhne und Liebhaber als Pornografie verrissen. In Abkehr von einem auf Äußerlichkeiten beschränkten Realismus überschritt »moderne Literatur« dieser Art die Grenzen, die das Ziel moralischer Erbauung dem Schreiben zog, legte die sozialen Probleme hinter den Erscheinungen offen und lotete die Tiefen der Psyche aus.7

Der produktive Künstler Pablo PicassoPicasso, Pablo kann als Beispiel dienen für die vielen Innovationen, welche die Kunstrevolte brachte, aber auch für einige ihrer Schattenseiten. Geboren 1881 in MálagaMálaga, wuchs das Wunderkind Pablo in BarcelonaBarcelona auf, wo er bald ein versierter Zeichner wurde. Seine frühen Gemälde der blauen und rosa Periode benutzten noch die Techniken des Gegenständlichen und übersteigerten nur Farbe und Linie, um einen eindringlicheren ästhetischen Reiz zu erzeugen. In ParisParis beteiligte Picasso sich aber dann an den Experimenten der Avantgarde, indem er sich mehr und mehr vom Figurativ-Erkennbaren entfernte, einem freieren Spiel der Formen und Töne zuliebe. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde PicassoPicasso, Pablo, der sich zunehmend der Abstraktion annäherte, einer der Pioniere des Kubismus. Er hantierte mit gedämpften Farben und komplexen Formen in einer Weise, die über die ikonische Tradition hinausging. Man feierte ihn als Vorkämpfer der Innovation, seine Bilder verkauften sich bestens und machten ihn ziemlich reich. Dennoch wurde er Kommunist und schuf ein großes Gemälde, das die Bombardierung der Stadt GuernicaGuernica durch die Nazis während des Spanischen Bürgerkriegs anprangerte. Privat führte er ein Bohème-Leben und wechselte häufig die Ehefrauen bzw. Mätressen. Als Meister der Moderne, der die künstlerischen Ausdrucksweisen modernisierte, wurde PicassoPicasso, Pablo bewundert – aber auch geschmäht.8