Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Die Nachkriegskrise

Der Faschismus war ein Produkt der Krise, die der parlamentarischen Regierung nach dem Krieg zusetzte; Modernisierungsprobleme der geschilderten Art erleichterten ihm sein Wirken. Zwar erhielt Italien die meisten der Territorien, die ihm der Vertrag von LondonLondon zugesagt hatte, darunter TrientTrient, doch waren viele Veteranen enttäuscht, dass nicht auch die dalmatische Küste und die neuen Kolonien zur Kampfesbeute gehörten. Dass sich nicht all ihre Hoffnungen erfüllt hatten, machte die Nationalisten zornig, die von einer vittoria mutilata, einem ›verstümmelten Sieg‹ sprachen. Um den Verlauf der neuen Grenze zu Jugoslawien entbrannten heftige Kontroversen, denn in vielen Städten IstriensIstrien und DalmatiensDalmatien wohnten vorwiegend Italiener, während im Land ringsum meist mehrheitlich Slowenen und Kroaten lebten. Um RomRom unter Druck zu setzen, stellte der Dichter Gabriele d’Annunziod’Annunzio, Gabriele, ein Nationalist von kleiner Statur, eine Legion aus rund 2000 Ex-Soldaten, Deserteuren und Desperados zusammen und besetzte die Hafenstadt FiumeFiume (Rijeka), heute bekannt als Rijeka. Dort errichtete er ein Operettenregime mit reichlich Proklamationen und Paraden. Der Dichterd’Annunzio, Gabriele machte sich auch Gedanken über das äußere Erscheinungsbild und die Organisationsform der Bewegung, weshalb er einiges von dem erfand, womit die Faschisten später bekannt wurden, etwa einen spezifischen Gruß – damals die erhobene Faust – oder die »korporative Ordnung«. Schließlich musste die Marine d’Annunziod’Annunzio, Gabriele vertreiben, aber FiumeFiume (Rijeka) blieb eine italienische Stadt, was immerhin zeigte, wozu eine entschlossene rechte Miliz in der Lage war.1

Die Kabinette NittiNitti, Francesco Saverio und GiolittiGiolitti, Giovanni erwiesen sich als unfähig, den ökonomischen Übergang zur Friedenszeit zu regeln, sodass sich ein Gefühl der Panik in der Mittelklasse ausbreitete. Da nach Gewehren, Kanonen, Munition und Schlachtschiffen keine Nachfrage mehr bestand, traf nicht wenige Firmen, die Kriegsmaterial hergestellt hatten, der Kollaps. Nach der Demobilisierung der Veteranen waren rund zwei Millionen arbeitslos, während die Inflation in die Höhe schnellte: Die Preise kletterten auf 600 Prozent des Standes von 1914. Angeregt durch das revolutionäre Beispiel der Bolschewiki, reagierten die Arbeiter auf die sich stetig verschärfende Rezession mit wachsender Militanz. Eine Reihe von Streiks legte die Produktion lahm, Hungerrevolten brachen aus, Fabriken wurden monatelang besetzt. In den agrarischen Gebieten bemächtigten sich die Bauern des Landes und plünderten die reichen Lagerbestände der Großgrundbesitzer. Als die Regierung versuchte, der Unzufriedenheit des Volkes zu begegnen, indem sie ihm ein paar Konzessionen machte – sie führte etwa den Achtstundentag und eine erweiterte Sozialversicherung ein –, fürchteten die Begüterten, man wolle ihnen ihren Besitz abnehmen oder wegbesteuern. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts waren Urnengänge kein gemütliches Spiel innerhalb der Eliten mehr, sondern ein Wettkampf unter Beteiligung der Volksmassen, mit ungewissem Ausgang.2 Die Politik zeigte sich der Aufgabe, einen Weg aus dem Nachkriegschaos zu finden und Stabilität wiederherzustellen, nicht gewachsen.

Diese Wirrnis bot Chancen für populistische Newcomer wie den Journalisten Benito MussoliniMussolini, Benito. Er wurde 1883 in PredappioPredappio geboren, einer kleinen Stadt der RomagnaRomagna, und war bescheidener Herkunft. Sein Vater, Schmied von Beruf und antiklerikaler Republikaner sowie Sozialist von Gesinnung, nannte seinen Sohn nach dem mexikanischen Revolutionär Benito JuárezJuárez, Benito. Der Knabe war widerspenstig, doch zeigte er vielversprechende geistige Fähigkeiten, weshalb man ihn auf ein katholisches Internat schickte. Nach mancherlei Schwierigkeiten – ausgelöst durch Handgreiflichkeiten mit Kameraden – erlangte BenitoMussolini, Benito schließlich ein Diplom, das ihn zum Unterricht an Elementarschulen berechtigte. Dem Ruhelosen sagte die biedere Routine eines Volksschullehrerdaseins allerdings nicht zu, und so ging er in die Schweiz, wo er bald mit radikalen Ideen in Berührung kam. Nach Italien zurückgekehrt, leistete er seinen Militärdienst ab und wurde Journalist. Er trat der Sozialistischen Partei bei und schrieb für deren Organ Avanti (›Vorwärts‹); dank seiner feurigen Rhetorik stieg er bald zum Chefredakteur auf. Nach Ausbruch des Weltkriegs brach er jedoch mit der PSI, denn diese plädierte für die Neutralität Italiens, er hingegen leidenschaftlich für dessen Beteiligung am Waffengang. MussoliniMussolini, Benito gründete eine neue, eigene Zeitung und gab ihr den Namen Popolo d’Italia (›Volk Italiens‹). Ein Polizeibericht aus den Nachkriegsjahren beschreibt ihn als »emotionale und impulsive Person«, »guten Redner«, als »sehr intelligent, gewitzt, umsichtig, bedachtsam« und »mit guter Menschenkenntnis« begabt.3

MussoliniMussolini, Benito war kein systematischer Denker, sondern eher ein weitgehend autodidaktischer Intellektueller, der sich leicht von starken Worten beeindrucken ließ und populäre Parolen mit emotionaler Rhetorik dramatisierte. In seiner Autobiografie gibt er an, er glaube nicht, dass man aus Büchern lernen könne; lehrreich sei für ihn nur eines gewesen: »Das Buch des Lebens – das ich gelebt habe«. Geprägt hatten ihn die Armut seiner Herkunft, der Antiklerikalismus seiner Jugend, die frühen Konflikte mit Autoritäten und das erregende Abenteuer des Krieges im Mannesalter. Trotzdem bezog er sich in seinen Reden immer wieder auf die Konzepte anderer Denker, die er sich zu eigen machte: So übernahm er den Protest gegen die Ausbeutung von Karl MarxMarx, Karl, die Strategie der direkten Aktion von Georges SorelSorel, Georges, die Forderung nach einer Elite von dem Soziologen und Ökonomen Vilfredo ParetoPareto, Vilfredo, den Willen zur Macht von Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich und die Thesen über die Formbarkeit der Massen vom Psychologen Gustave Le BonLe Bon, Gustave. All diese Vorstellungen, eher halb verdaut als gründlich reflektiert, flößten ihm einen tiefen Hass auf die politische Klasse Italiens ein, sei sie nun liberal, katholisch oder sozialistisch. Sich selbst betrachtete er als »Kämpfer im Redaktionsbüro«; er feierte den »Geist der nationalen Solidarität«, der zum ruhmreichen »Sieg der gesamten italienischen Rasse« führen werde. 1919 war MussoliniMussolini, Benito also ein Ex-Sozialist und ein Nationalist durch und durch, der sich selbst als »verzweifelt italienisch« bezeichnete.4

Die faschistische Bewegung, die sich im Frühling des Jahres gründete, vereinte bisher konkurrierende Gruppen jener italienischen Linken, die interventionistisch dachte. »Faschisten« nannte man damals verschiedene nationalistische Fraktionen, beispielsweise die Gefolgsleute d’Annunziosd’Annunzio, Gabriele, von Sergio PanunziPanunzi, Sergio inspirierte Syndikalisten, die von MarinettiMarinetti, Filippo Tommaso geführten Futuristen, daneben ausgemusterte Stoßtruppler. MussolinisMussolini, Benito eigenwillige Kombination von Egalitarismus und Nationalismus fand besonders bei Studenten und Offizieren Anklang, denen der Frieden nur Enttäuschungen gebracht hatte und die oft keine Arbeit fanden. Aus Furcht vor geschäftlichen Einbußen, die ihnen der Übergang zum Frieden bescheren könnte, finanzierten bestimmte industrielle Kreise MussolinisMussolini, Benito Leute. Entsprechend attackierte Popolo d’Italia die Sozialisten scharf und präsentierte eine so produktivistische wie hierarchische Agenda, mit der sich nach Meinung ihrer Urheber am ehesten eine nationale Wiedergeburt erreichen ließ. Um ihre zahlreichen Feinde einzuschüchtern, bildeten die Faschisten paramilitärische Kommandos, squadre genannt, die dann politische Gegner verprügelten oder die Redaktionsräume von PSI-Zeitungen verwüsteten. Dank seiner revolutionären Rhetorik, seinem persönlichen Magnetismus und seinem Organisationstalent gelang es MussoliniMussolini, Benito nach und nach, verschiedene linke und nationalistische Gruppen zusammenzuführen. So schuf er eine Massenbewegung aus Unzufriedenen, die sich fest entschlossen zeigte, das parlamentarische Regime zu stürzen.5

Die ganze faschistische Attitüde durchzog eine Art Männerbündelei. Es schien, als sei die Erneuerung Italiens ein Abenteuer, in dem sich Mannhaftigkeit zu bewähren habe. Die squadristi trugen schwarze Uniformen, weiße Schlagstöcke und Revolver; sie ahmten das Militär nach – in Struktur, Erscheinungsform und Gebaren. Viele waren heimgekehrte Veteranen, andere waren Jugendliche, die den Krieg, in dem sie vornehmlich eine spannende Sache sahen, nicht hatten erleben dürfen. Beide besaßen damit ihren jeweils eigenen Grund, sich nach der Kameradschaft der Schützengräben und der Geschlossenheit eines kämpfenden Verbunds zu sehnen. Ihre Phantasie gaukelte ihnen überall liberale und sozialistische Bedrohungen vor; nur eine heroische Aktion, glaubten sie, könne Italien noch vor dem Zerfall retten. Eine solche Aufgabe erforderte in ihren Augen nicht etwa Überzeugungskraft, sondern physische Aggression, die sie als »Gewalt der Gerechten« verstanden. So legitimierten sie ihre Straßenschlachten gegen kommunistische Arbeiter, durch die sie auch die Herrschaft über den öffentlichen Raum erobern wollten. Die Faschisten sahen sich als politische Elite, die, frei von den abgenutzten Dogmen ihrer Gegner, den Schlüssel zur Zukunft besaß. Was jeweils zu tun sei, werde von Tag zu Tag entschieden, mit der »Kraft des Willens« als Leitprinzip. In diesem manichäischen Universum war kein Platz für Frauen oder zärtliche Gefühle. Wie ihr duce (›Führer‹)Mussolini, Benito es vorgab, erhoben viele Faschisten männliche Härte in den Rang einer Ideologie.6

Dass der Faschismus im Chaos der Nachkriegsjahre solche Popularität erlangen konnte, lag zum großen Teil an seinem Kampf gegen die Sozialisten, der ihm die Sympathie einer verängstigten Mittelschicht eintrug. Im Gefolge des Sieges der PSI bei der 1919er Wahl und der Gründung einer Kommunistischen Partei kam es zu einer ganzen Reihe lokaler Erhebungen, die das Gespenst einer umfassenden Revolution ins Leben riefen. Als rebellische Bauernbanden Ländereien besetzten, gewannen die Faschisten die Gunst der Grundbesitzer, indem ihre Kommandos mit Macht anrückten, die sozialistischen Leitaktivisten verprügelten und den Boden den vorherigen Eigentümern zurückgaben. Analog verfuhren die faschistischen Milizionäre – die wegen ihrer Uniform auch camicie nere, also ›Schwarzhemden‹, hießen –, wenn kommunistische Arbeiter einen Streik organisierten: Handstreichartig stießen sie in die betreffende Stadt vor, setzten die Rädelsführer fest und ließen die Produktion quasi unter syndikalistischer Aufsicht weitergehen. Zwar verlangten sie für solche Aktionen Schutzgeld, aber das zahlte ihnen die dankbare Bourgeoisie ohne Murren, erschienen ihr doch die schwarzbehemdeten Straßenkämpfer als das kleinere Übel. Polizei und Militär vor Ort neigten dazu, wegzuschauen, wenn faschistische Vergeltungsmaßnahmen aus dem Ruder liefen; schließlich behaupteten deren Urheber, sie dienten der Wiederherstellung von Recht und Ordnung.7 Indem er sich dergestalt zur Schutzmacht der Besitzenden wandelte und sich mit den Eliten einließ, rückte der Faschismus nach rechts.

 

MussoliniMussolini, Benito hatte den Eindruck – und da lag er nicht falsch –, dass die Schwäche des liberalen Parlamentarismus den Faschisten eine Gelegenheit bot, bei deren Nutzung sie sich auch konventionellerer Mittel bedienen konnten. Nachdem MussoliniMussolini, Benito in der ersten Nachkriegswahl jämmerlich gescheitert war, verdoppelte er seine journalistischen Anstrengungen und schrieb flammende Artikel in seinem Blatt Popolo d’Italia. Später sagte er über seine damalige Einschätzung der politischen Gesamtsituation: »Unsere Demokratie von gestern war gestorben, und was in ihrem Testament stand, wussten wir auch: Sie hatte uns nichts hinterlassen als das Chaos.« Bei wilden Massenkundgebungen fühlte sich der DuceMussolini, Benito so richtig in seinem Element. Dort schrie er seine Gegner nieder, mobilisierte seine Gefolgsleute mit heftigen Parolen und dramatisierte seine Reden zusätzlich durch übertriebene Gestik. Die beständige Litanei seiner antiliberalen und antisozialistischen Artikel sowie seine unablässigen revisionistischen Predigten gegen die Ungerechtigkeit des Friedensvertrags gewannen ihm allmählich die Anhängerschaft junger, sogar feinsinnigerer Geister, zu denen Italo BalboBalbo, Italo und Dino GrandiGrandi, Dino zählten, die später wichtige Rollen spielen sollten. Da Italien immer mehr in Chaos versank, konnte sich die faschistische Bewegung jeden Monat über Tausende neuer Mitglieder freuen; entsprechend wuchs ihr Selbstvertrauen. Die Doppelstrategie – Einflussnahme durch Straßengewalt einerseits, durch politische Organisation andererseits – trug vor allem deshalb Früchte, weil die Verteidiger der Demokratie sich als überaus unfähig erwiesen.8

Die Machtergreifung

Die damals in Italien verantwortlichen Politiker verstanden nicht, wie gravierend die Modernisierungskrise war und welch erhebliche Schwierigkeiten die Neujustierung der Verhältnisse nach dem Krieg bereitete. Deshalb waren sie auch unwillig, die drastischen Maßnahmen zu ergreifen, die zur Bewältigung jener Probleme hätten erfolgen müssen. In den frühen 1920ern zeigte sich die parlamentarische Landschaft von drei Parteien geprägt: erstens der neu gegründeten Popolari, die den politischen Katholizismus repräsentierten und rund 100 Sitze innehatten; zweitens der gerade eine Blütezeit erlebenden, allerdings zwischen revolutionärer Rhetorik und reformistischer Praxis zerrissenen Sozialisten mit ca. 150 Sitzen; drittens der langsam erodierenden liberalen Zentristen, hinter denen die weltlich gesinnten Kreise der Mittelschicht standen, mit etwa 90 Sitzen. Die Faschisten betraten diese Arena formal 1921 unter dem Namen Partito Nazionale Fascista (PNF). Nun waren die Führer der drei großen Parteien – Don SturzoSturzo, Luigi, TuratiTurati, Filippo und GiolittiGiolitti, Giovanni – seinerzeit vorwiegend mit parlamentsinternen Manövern beschäftigt und nahmen Mussolini nicht ernst. Der sei doch, hieß es, bloß ein populistischer Parvenü, den man bestimmt im Zaume halten könne, etwa indem man seiner Bewegung mit Kooptation zusetze. Wie der Rest des italienischen Establishments unterschätzte auch der sonst so gewitzte GiolittiGiolitti, Giovanni durchweg die Bedrohung, die von jener neuen rechten Formation ausging. Also setzte er die Faschisten auf seine Liste der zur 1921er Wahl zugelassenen Parteien – und verschaffte ihnen dergestalt 170 000 Stimmen und 35 Sitze.1 Obwohl es unter den Arbeitern immer stärker brodelte, die Gewalt in den Straßen zunahm und die Parlamentarier wissen mussten, dass sie sich um diese Dinge zu kümmern hatten, spielten sie gewissermaßen lieber weiter Reise nach Jerusalem und ignorierten den draußen aufziehenden Gewittersturm.

Der wachsende Erfolg der Faschisten stellte MussoliniMussolini, Benito vor die Herausforderung, Popularität in Macht umzuwandeln, und das innerhalb eines Systems, das er explizit zu verachten vorgab. Dank ihres Zulaufs aus der Land- und Stadtarbeiterschaft sowie aus der unteren Mittelschicht war die faschistische Bewegung im Herbst 1922 auf rund 200 000 Mitglieder angeschwollen. Damit wurde es immer schwieriger, sie zu kontrollieren.2 Eine Weile versuchte MussoliniMussolini, Benito, das Spiel des Parlamentarismus mitzuspielen, und kooperierte mit seinen geschworenen Feinden, den Sozialisten, gegen die geschwächte liberal-zentristische Regierung, doch darin weigerten sich seine Milizen, ihm zu folgen. Ende 1921, als er die Bewegung zur PNF formalisierte, machte er die widerspenstigen squadristi zum militärischen Arm der Partei. Nach und nach eroberten die Faschisten mit ihrer Kombination aus Agitation und Gewalt strategisch wichtige Städte, so FerraraFerrara, CremonaCremona, ParmaParma, RavennaRavenna und LivornoLivorno. Nun endlich erwachten die Sozialisten, die angesichts der drohenden Gefahr zum Generalstreik aufriefen – doch dieser wurde ein grauenhafter Fehlschlag. Obwohl der DuceMussolini, Benito inzwischen offen verkündete, eine Diktatur errichten zu wollen, versuchten die bürgerlichen Parlamentarier immer noch, ihn auf ihre Seite herüberzuziehen. Im Herbst 1922 schien sein Aufstieg zur Macht unabwendbar – blieb nur noch die Frage, ob sie ihm angetragen wurde oder ob er sie sich mit Gewalt nahm.

Der berühmte »Marsch auf RomRom«, der den liberalen Parlamentarismus niederwarf, war überwiegend ein wohlkalkulierter Bluff. Einerseits verhandelte MussoliniMussolini, Benito im Geheimen immer noch mit den Regierenden, unter welchen Bedingungen er sich doch an der Lösung der festgefahrenen Lage beteiligen würde – es handelte sich um eine der vielen, Italien periodisch heimsuchenden Ministerkrisen –; andererseits drohte er ihnen auf dem PNF-Kongress großspurig, den Bürgerkrieg zu entfesseln: »Entweder wird uns die Regierung übertragen, oder wir nehmen sie uns durch einen Angriff auf RomRom!« Um seine Entschlossenheit zu unterstreichen, trieb er mit Leitartikeln die Kampfeslust seiner treuen Gefolgsleute auf den Siedepunkt; er selbst aber hielt sich im Hintergrund und verließ sein MailänderMailand Quartier nicht. Vielmehr befahl er seinen Statthaltern, Kolonnen von rund 30 000 bewaffneten squadristi zu formieren, die dann alle mit LKWs oder mit Sonderzügen der Bahn auf die italienische Hauptstadt vorrücken sollten. Endlich erkannte die Regierung des liberalen Premiers Luigi FactaFacta, Luigi, dass der »Versuch einer Revolution« unternommen wurde, und bemühte sich, die »öffentliche Ordnung mit allen Mitteln und um jeden Preis aufrechtzuerhalten«. Obwohl König Vittorio Emanuele III. Vittorio Emmanuele III.die Faschisten nicht mochte, weigerte er sich, das Kriegsrecht auszurufen. Er wollte Blutvergießen vermeiden und bot dem schon nervös werdenden MussoliniMussolini, Benito an, er möge »das verantwortungsvolle Amt des Ministerpräsidenten übernehmen«. Erleichtert, dass sein Wagnis geglückt war, grüßte der Duce die paradierenden Kolonnen: »An diesem Tag triumphierte ich – und das in RomRom!«3

Rein formal gesehen war das neue Kabinett, das sich dort am 20. Oktober 1922 mit MussoliniMussolini, Benito als Premier bildete, eine Koalition, innerhalb derer die Faschisten sich in der Minderheit befanden, denn numerische Stärke besaßen sie im Parlament keineswegs. MussoliniMussolini, Benito überspielte die Grenzen seiner Macht, als er für eine vereinigte nationale Regierung warb: Dies würde, versprach er, den ewigen Kämpfen zwischen den Parteien ein Ende machen und alle Italiener miteinander versöhnen. Außer ihm selbst saßen nur drei Faschisten im Kabinett, daneben zwei Popolari, vier Liberale, ein Nationalist und drei parteilose Personen, darunter der Philosoph Giovanni GentileGentile, Giovanni. Nach einer mitreißenden Rede des Premiers bestätigte das Parlament die neue Regierung mit einem eindeutigen Votum: 306 dafür, 116 dagegen, 7 Enthaltungen. Während alle bürgerlichen Parteien nun Mussolini unterstützten, wagten nur die Sozialisten (PSI) und die Kommunisten (PCI), sich seinem Regime entgegenzustellen. Um die Schwarzhemden zu belohnen, die ihm so eifrig beigestanden hatten, schuf der DuceMussolini, Benito eine Nationalmiliz als feste Institution, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde. Dieses Geld schuf nicht zuletzt Arbeitsplätze als Gegenleistung für Wohlverhalten gegenüber dem, was nun Recht und Ordnung war. Außerdem absorbierte MussoliniMussolini, Benito auch ältere nationale Verbände, so die Associazione Nazionalista Italiana, en bloc in die faschistische Partei. Desgleichen integrierte er zahllose Karrieristen, um seine Basis im Volk auszuweiten.4

Mit dem klassischen Parlamentarismus hatte Mussolini nichts im Sinn, aber er brauchte ein vorzeigbares Mandat des Volkes, das seine Macht zementierte und jeder Herausforderung standhielt. Um die politische Fragmentierung zu überwinden, die proportionale Repräsentation mit sich bringt, verfiel er auf einen genialen Ausweg, den ihm sein faschistischer Kombattant Giacomo AcerboAcerbo, Giacomo eröffnet hatte und den er in einem neuen Wahlgesetz kodifizieren ließ. Es besagte, dass eine Partei, die mindestens ein Viertel der Wählerstimmen erreichte, zwei Drittel der Sitze in der Deputiertenkammer beanspruchen konnte, sodass sie auf jeden Fall eine stabile Mehrheit innehatte. Als die Neuregelung zur Abstimmung anstand, befahl der Heilige Stuhl den Popolari, sich zu enthalten, doch dank der Unterstützung der Liberalen und der Nationalisten gewannen die Faschisten das entscheidende Votum über das Acerbo-Gesetz, das Italiens Demokratie entmannte. Nach ein paar kleineren außenpolitischen Erfolgen ließ MussoliniMussolini, Benito im April 1924 erste Wahlen abhalten; bei der Zusammenstellung der Kabinettsliste achtete er sorgfältig darauf, dass sie neben faschistischen Aktivisten auch Politiker traditioneller Ausrichtung enthielt. Dieses gemischte Angebot erfuhr überwältigende Zustimmung: Die Sammelliste erhielt 66,3 Prozent der Wählerstimmen, und schließlich saßen 374 Deputierte in der Kammer, 275 davon waren Faschisten. Die verschiedenen Oppositionsgruppen sahen sich dezimiert. Von den unversöhnlichen Radikalen in seiner eigenen Partei distanzierte MussoliniMussolini, Benito sich mittlerweile: »Ordnung, Hierarchie und Disziplin«, erklärte er, seien nunmehr die obersten Werte; dem »verfaulten Leib jener Göttin namens Freiheit« möge man hingegen fernbleiben.5

Die finalen Schläge, derer es noch bedurfte, waren die Enthauptung der Arbeiterbewegung, die Vernichtung der parlamentarischen Opposition und das Mundtotmachen der Presse. Nachdem der Sozialist Giacomo MatteottiMatteotti, Giacomo in der Deputiertenkammer die Gewalt und Korruption der rechten Extremisten attackiert hatte, wurde er am 10. Juni 1924 von der faschistischen Geheimpolizei ermordet. MussoliniMussolini, Benito schob die Tat seinen Untergebenen zu, aber die Abgeordneten der Opposition schenkten dem keinen Glauben. Aus Protest verließen sie das Parlament und zogen sich, einem altrömischen Brauch folgend, auf den Aventin-Hügel zurück, in der Hoffnung, so die Kammer beschlussunfähig zu machen und weitere üble Gesetze zu verhindern. Aber der Boykott entwickelte keine Mobilisierungskraft, weswegen er ins Leere ging. Weder ließ sich das niedere Volk zur Erhebung gegen Mussolini motivieren, noch wollte die Elite den Abenteurer fallenlassen; selbst der Philosoph Benedetto CroceCroce, Benedetto pries den Faschismus wegen seiner »Liebe zu Italien«. So konnten die Faschisten die Pressefreiheit abschaffen, teils per Regierungsdekret und teils, indem sie Druck auf Zeitungsbesitzer ausübten, liberale Chefredakteure wie Luigi AlbertiniAlbertini, Luigi zu entlassen. Als ihm seine Verwicklung in den Matteotti-MordMatteotti, Giacomo nachgewiesen wurde, übernahm MussoliniMussolini, Benito in dramatischer Pose »die volle Verantwortung für alles, was geschehen ist« und behauptete, er allein könne Italien »Ruhe und Frieden« verschaffen. Anstatt ihn zu stürzen, markierte die Matteotti-Krise den Übergang zur offenen Diktatur.6

 

Die diktatorische Herrschaft etablierte sich nach und nach, vorangetrieben einerseits von einem Faschismus, der Zwang ausübte, und andererseits von einer Öffentlichkeit, die ihn hinnahm. Die Machtergreifung wiederum war teils ein verfassungskonformer Akt – MussoliniMussolini, Benito wurde ja zum Premierminister ernannt –, teils ein Zugeständnis an den außerparlamentarischen Druck einer gewaltbereiten Massenbewegung. Die Kollaboration des Establishments trug Entscheidendes bei, denn die liberalen und nationalen Eliten kooperierten im guten Glauben, MussoliniMussolini, Benito lasse sich durch das Wundermittel des transformismo im Zaum halten. Eine unaufhörliche Propaganda mit Pressekampagnen und Massenversammlungen sorgte auf ihre Weise dafür, dass die Zustimmung zum nationalistischen coup d’état wuchs. Skeptische Politiker sahen bald keine Alternative mehr, wollten sie doch einer nationalen Erneuerung nicht im Wege stehen. Mit einer Mischung aus Anreizen und Repression spalteten die Faschisten die Front ihrer Gegner und blockierten sie; dies betraf die Vertreter der Arbeiterbewegung ebenso wie die demokratischen Intellektuellen, die sich von der Öffentlichkeit verlassen sahen. Mussolinis Regierung beruhte auf einem faulen Kompromiss zwischen bestimmten etablierten Institutionen – Monarchie, Kirche, Armee – und neu ins Leben gerufenen faschistischen Körperschaften wie der PFN, der Schwarzhemdenmiliz und der Geheimpolizei.7

MussolinisMussolini, Benito erfolgreicher Griff nach der Macht elektrisierte die jugendlichen Anhänger der europäischen Rechten, denn sein Modell führte Tradition und Moderne in einer neuartigen Legierung zusammen. Geboren aus der Kameradschaft in den Schützengräben, versuchte Mussolinis aktionsorientierte Bewegung einerseits, konservative Werte wieder zur Geltung zu bringen, etwa Ordnung, Hierarchie, soziale Gemeinschaft und nationale Macht. Andererseits war der Faschismus zutiefst modern: er verehrte die Technik, bediente sich der elektronischen Medien und wandte sich an die Jugend. All dies verlieh ihm ein Image von Dynamik, das den Verteidigern der alten Ordnung fehlte. In ganz Europa, von Norwegen bis Frankreich, von Portugal bis Rumänien, fand die faschistische Ideologie bei den jungen Neokonservativen Anklang, denn sie suchten ja eine Alternative nicht nur zu den diskreditierten Autoritäten, sondern auch zu Marxismus und Liberalismus. Mit dem Faschismus schien sich ein Weg in eine bessere Zukunft zu öffnen.8 Obwohl die Bewegung viel von ihrem Charakter speziellen italienischen Zuständen schuldete, nämlich den dortigen Nachkriegswirren, stellten sich bald ausländische Bewunderer ein. Zu ihnen gehörte der rassistische Hetzer Adolf HitlerHitler, Adolf, der die erregende Neuartigkeit des Faschismus hinreichend durchschaute, um ein Jahr später einen Coup nach MussolinisMussolini, Benito Muster in MünchenMünchen zu wagen. Der Versuch ging als »Bürgerbräuputsch« oder »Marsch auf die Feldherrnhalle« in die Geschichte ein.