Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Mobilisierung der Heimatfront

Im modernen Krieg wurde die Heimatfront ebenso wichtig wie das eigentliche Kampfgeschehen, denn sie lieferte die materielle und psychologische Unterstützung, die der Soldat brauchte, um weiterzumachen. Das allgemeine Einziehen männlicher Staatsbürger eines bestimmten Alters konnte nur funktionieren, wenn sich junge Männer dafür begeisterten oder wenigstens dazu bereitfanden, in einen Waffengang zu ziehen, der vielen unter ihnen das Leben kosten würde. Da die Produktion von Waffen und Munition für den militärischen Erfolg wesentlich war, musste der Wegfall eines Großteils der Arbeitskräfte kompensiert werden, indem man Nichtwehrpflichtige, Frauen, Kriegsgefangene und Leute aus den Kolonien heranzog. Gleichzeitig erforderte der Krieg enorme Summen Geldes, die durch höhere Steuern und öffentliche Anleihen aufgebracht werden mussten. Anders wären die horrenden Ausgaben für die Truppen und ihre Versorgung nicht zu finanzieren gewesen. Alle kriegführenden Länder starteten Propagandafeldzüge, um die neutralen Staaten von der Rechtmäßigkeit ihrer Sache zu überzeugen und um den Kampfgeist der eigenen Bevölkerung zu stärken. Wo patriotische Appelle zu wenig verfingen, sorgte die Militärzensur dafür, dass sich keine Kritik rührte und keine schädlichen Informationen verbreitet wurden.1 So intensiv wie der Erste Weltkrieg hatte noch kein Konflikt die Zivilisten daheim involviert.

Nach Ausbruch der Kämpfe war jeder kriegführende Staat bestrebt, sich so darzustellen, als ob er eine einheitliche Front bildete. Indem zu Hause praktisch keine Politik mehr stattfand, wollte man maximale Einsatzbereitschaft erzielen. In Deutschland versuchte Kaiser Wilhelm II., Wilhelm II.Gräben zwischen Regionen, Religionen, Klassen und Ethnien zu überbrücken, indem er vor dem Reichstag proklamierte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«. Es war der Appell zum sogenannten »Burgfrieden«. Weil ihnen daran lag, dass auch die Arbeiterbewegung in die nationale Gemeinschaft integriert wurde, sahen die Sozialisten sich gezwungen, für die Kriegskredite zu stimmen. Nun musste die Regierung sie nicht mehr als subversive Agitatoren einsperren. Ähnlich ging es in Frankreich zu: Die Mitte-Links-Regierung, in der zwei sozialistische Minister saßen, verkündete eine »heilige Union«, die nach eigenem Bekunden alle politischen Gruppen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausrichtungen zum nationalen Kampf vereinte und innerhalb derer alle auf parteipolitische Vorteilssuche verzichteten. In England sammelten sich konkurrierende Kräfte – darunter Liberale, Gewerkschafter, Labouristen und irische Nationalisten – ebenfalls hinter den Kriegsanstrengungen; allerdings wurde dort offener über die richtige Strategie debattiert. Sogar in den autoritär regierten Ländern Österreich, Russland und dem Osmanischen Reich gab es vergleichbare Schulterschlüsse, obschon die sich teilweise der Tatsache verdankten, dass die dortigen Oberen mehr Druck machen konnten.2 Dieser »Geist von 1914« begann erst zu schwächeln, als der Krieg sich in die Länge zog und das Leiden kein Ende zu nehmen schien.

Die Propaganda, mit der man die Heimatfront mobilisierte und auch die internationale Meinung für die eigene Sache zu gewinnen hoffte, erzeugte eine regelrechte »Kriegskultur«, die Patriotismus mit Hass verschmolz. Auf diesem Gebiet hatten die Alliierten einen gewaltigen Vorteil, weil die Großagenturen Reuters und Havas die Telegrafenverbindungen kontrollierten, über die der Nachrichtenverkehr lief. Die Entente konnte den Streit erfolgreich als Kampf zwischen zwei antagonistischen Kräften darstellen: hier die universellen Werte der westlichen Zivilisation, gestützt durch demokratische Regierungen, dort der preußische Militarismus, dessen Barbarei sich in seinen Gräueltaten gegen belgische Zivilisten offenbare.3 In diesem PR-Krieg gerieten die Mittelmächte in die Defensive, denn es gelang ihnen nicht, eine allgemeingültige Formel für ihre Sache zu finden, die ihnen erlaubt hätte, die Überlegenheit der eigenen »Kultur« glaubhaft zu betonen. Weniger versiert im Umgang mit und im Einsatz von Medien, verließ sich die deutsche Regierung lieber auf die vom Kriegsrecht diktierte Zensur: Man förderte patriotische Rhetorik, die man als »apolitische« Meinungsäußerung verstand, und unterdrückte die Kritik der Linken. Während Schriftsteller wie Maurice BarrèsBarrès, Maurice oder T. E. LawrenceLawrence, T. E. sich hinter die Sache der Entente stellten, polemisierten Intellektuelle wie Werner SombartSombart, Werner und Thomas MannMann, Thomas zugunsten der Mittelmächte.4 Auch Zeichner und Grafiker verstärkten die Wucht der patriotischen Appelle, indem sie farbenprächtige Plakate schufen, die den Feind in grauenerregenden Bildern zeigten.

Bei der industriellen Kriegsführung bedurfte es dringend einer hochpotenten Wirtschaft, um die für den Kampf benötigten Waffen in hinreichender Menge zu produzieren. Auch was die Mobilisierung der heimischen Wirtschaft betraf, waren die Entente-Mächte in einer besseren Position, denn sie verfügten über mehr Ressourcen und leichteren Zugang dazu. Auch konnten sie auf Reichtümer zurückgreifen, die sich in Jahrzehnten angesammelt hatten. Dass sie die Meere kontrollierten, ermöglichte ihnen, sich mit einschlägigem Nachschub zu versorgen, und zwar aus dem jeweiligen Imperium, aber auch aus den USA. Dort gaben Geschäftsleute fleißig Anleihen der Entente-Länder heraus und erzielten dabei gehörige Profite. Im Gegensatz zum wirtschaftlich unbeholfen und schwerfällig agierenden Russland erlangten England und Frankreich eine außerordentliche Dynamik, indem sie mit einer Mischung aus gouvernementalem Dirigismus und unternehmerischen Privatinitiativen ihre Leistung beträchtlich steigerten.5 Da die Mittelmächte weniger Ressourcen zur Verfügung hatten, mussten sie auf technische Innovationen wie Fritz HabersHaber, Fritz Ammoniaksynthese aus Stickstoff und Wasserstoff setzen. Sie ließen nach Wegen suchen, Rohstoffe durch Ersatzprodukte zu substituieren. Die Berliner Regierung bediente sich eher bürokratischer Methoden, um die Produktion zu koordinieren, und richtete die sogenannte Kriegsrohstoffabteilung ein, die Walther RathenauRathenau, Walter leitete. Außerdem wurden die Nahrungsmittel rationiert, damit die Preise nicht hochgingen. Als aber die Auswirkungen der Seeblockade sich immer mehr verschärften und die Kartoffelernte um 50 Prozent abnahm, verbreitete sich im Lande während des »Kohlrübenwinters« 1916/17 eine Hungersnot, die den Kampfeswillen untergrub.6

Ein weiterer Vorteil der Entente lag in ihrer höheren Einwohnerzahl, die von entscheidender Bedeutung für kontinuierliche Kampffähigkeit und Waffenproduktion war. Die Franzosen verlegten knapp eine halbe Million nordafrikanischer Soldaten an die Front, während die Briten 1916 die Wehrpflicht einführten; zusätzlich kamen ihnen zahlreiche Freiwillige aus den dominions und aus der indischen Armee zur Hilfe. Russland hatte zwar ein breites Reservoir an Soldaten, aber es tat sich schwer darin, sie adäquat auszubilden. Als 1918 ihre Reserven zur Neige gingen, beriefen die Deutschen auch sehr junge Männer des Jahrgangs 1900 ein. Auf die österreichischen Truppen war aus Gründen ethnischer Konflikte kein durchgehender Verlass, und unter den Völkerschaften des Osmanischen Reiches konnte man nur die Türken zu den wahren Verbündeten zählen. Die Sanitätsoffiziere, die sich einer riesigen Schar Verwundeter gegenübersahen, vollbrachten heroische Leistungen bei der Behandlung der Entstellten oder von der posttraumatischen Zitterneurose Befallenen. Sie retteten viele Leben – und sorgten dafür, dass die Versehrten möglichst rasch wieder in den Kampf zurückkonnten. Daheim mussten sachkundige Industriearbeiter durch Ungelernte ersetzt werden; auch auf den Bauernhöfen wurde das Personal knapp. Um diesen Defiziten abzuhelfen, proklamierte die BerlinerBerlin Regierung im Herbst 1916 im sogenannten Hindenburg-Programm die Verdoppelung der Rüstungsproduktion. Nun verpflichtete man alle Männer von 17 bis 64 zu einer Art nationalem Dienst; sie wurden entweder in einer Fabrik oder auf dem Lande eingesetzt. Den Gewerkschaften gewährte man als Gegenleistung für ihre Kooperation bei den patriotischen Bemühungen neue, erweiterte Vertretungsrechte.7

Frauen blieben zwar von den direkten Kämpfen noch ausgeschlossen, dafür trugen sie als Hilfskräfte immer mehr zu den Kriegsanstrengungen bei. Einerseits spielten sie unverändert die traditionellen, unterstützenden Rollen: symbolisch als patriotische Inspiration, praktisch als Trösterinnen, etwa durch das Versenden von Briefen und Paketen. Verheiratete wurden ermuntert, sich von ihren Gatten, wenn diese auf Heimaturlaub zurückkamen, schwängern zu lassen, um die Verluste auf dem Schlachtfeld durch Neugeborene auszugleichen. Andererseits übernahmen Frauen in wachsendem Ausmaß militärische Hilfsfunktionen, etwa als Krankenschwestern, Sekretärinnen oder Fahrerinnen in Uniform. Die Männer, die zuvor einige dieser Posten bekleidet hatten, konnten nun an die Front. Wichtiger noch war jedoch die Rekrutierung von weiblichem Personal für die industrielle Produktion, in der Frauen eingezogene Arbeiter ersetzten und Artilleriegranaten, Maschinengewehrmunition und sogar ganze Waffen fertigten – eine strapaziöse Arbeit in lauten, schlecht gelüfteten Fabrikhallen, die die körperliche Ausdauer und Konzentration auf eine harte Probe stellte. Obwohl das Kampfgeschehen selbst die alten Unterschiede verstärkte – die Männer töten, die Frauen liefern Hilfsdienste aus dem Hintergrund –, beschleunigte der Krieg insgesamt die Erosion der traditionellen Geschlechterrollen am Arbeitsplatz.8

Als die Kämpfe ins dritte Jahr gingen und keinerlei Ende in Sicht war, polarisierte sich die öffentliche Meinung zunehmend: Die einen befürworteten einen Sieg um jeden Preis, und die anderen forderten sofortigen Frieden. Die stetig wachsende Zahl der Toten, Verwundeten und Vermissten sowie der wiederholte Mangel an Nahrungsmitteln und Treibstoff gaben Anlass zu der Frage, ob die gesteckten Ziele diese ganzen Opfer wohl wert seien. Die Nationalisten aller kriegführenden Länder betonten, man müsse »durchhalten« bis zum siegreichen Ende, denn sonst seien alle bisherigen Leiden umsonst gewesen. Lehrer versuchten ihre Schüler im Sinne des Krieges zu motivieren, indem sie ihnen die Frontverläufe anhand von auf Landkarten festgesteckten Nadeln zeigten; Plakate ermunterten zur Zeichnung von Kriegsanleihen; patriotische Versammlungen feierten lokale Siege. Bei den Mittelmächten wurden unfähige oder glücklose Kommandeure wie General FalkenhaynFalkenhayn, Erich von abgelöst durch Militärs, denen man Erfolge zutraute, etwa HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich. Bei der Entente wiederum traten, nachdem es innerhalb der Armeen zu Meutereien und Streiks gekommen war, politische Hardliner wie Georges ClemenceauClemenceau, Georges, genannt le tigre, und der hyperaktive, freilich wechselhafte Lloyd GeorgeLloyd George, David in den Vordergrund. Sie übernahmen mehr Verantwortung, weil sie es verstanden, die Massen durch patriotische Appelle mitzureißen. Neu gegründete chauvinistische Bewegungen wie die Deutsche Vaterlandspartei versuchten ebenfalls den Siegeswillen zu stärken.9

 

Trotz solcher Bemühungen begann die patriotische Begeisterung bald nachzulassen. Kriegsmüdigkeit verbreitete sich unter Soldaten und Zivilisten, die sich dem Tod oder der Verarmung gegenübersahen. In allen Ländern hielt die Mehrheit der Elite unverändert an ihrer Eroberungspolitik fest, und die Mittelschicht zeigte sich für nationale Appelle weiterhin empfänglich. In den Schützengräben jedoch verweigerten die ersten Soldaten den Gehorsam, wenn ihre Vorgesetzten Attacke befahlen, und in den Fabriken verlangten viele der Beschäftigten mehr zu essen, kürzere Arbeitszeiten und bessere Bezahlung. Unabhängige Sozialisten, angeführt von Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I., Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa und Karl LiebknechtLiebknecht, Karl, brandmarkten den Waffengang als imperialistischen Krieg. Bei den Linken war diese Kritik immer lauter zu hören, deren Abgeordnete schließlich in einem symbolischen Akt den Kriegskrediten ihre Zustimmung versagten. Da er ein sofortiges Ende der Metzeleien versprach, fand der Slogan »Keine Annexionen, keine Entschädigungen« immer breiteren Widerhall unter den Industriearbeitern, die nun mit der Stilllegung der Politik an der Heimatfront brachen und Streiks organisierten. An der Westfront wiederum wagten rund 40 000 französische Soldaten eine Meuterei; freilich wurden ihre Proteste mit Gewalt und ein paar Zugeständnissen bald beendet. Da das Elend in den Schützengräben und der Hunger daheim die Attraktivität patriotischer Rhetorik verblassen ließen, geriet die Kriegsführung während des Winters 1916/17 in eine Krise.10

Äußerste Eskalation

Nachdem sich abzeichnete, dass weder der Eintritt Bulgariens noch der Rumäniens eine neue Entscheidung brachte, zog die totalisierende Logik des modernen Krieges schließlich auch die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten in den Konflikt hinein, die einzig verbliebene Nation, die das Gleichgewicht noch kippen konnte. Doch Amerika zeigte sich gespalten; weite Kreise gerade der Progressive Reform Coalition hielten George WashingtonsWashington, George Warnung hoch, die USAVereinigte Staaten dürften sich nie in europäische Händel verstricken lassen. Insbesondere im Mittleren Westen und Westen waren viele Bürger, namentlich solche irischer und deutscher Herkunft, gegen die Teilnahme an einem Kampf, der ihnen so blutig wie sinnlos erschien. Die Eliten an der Ostküste indes empfanden eine kulturelle Affinität zu Großbritannien und Frankreich. Geschäftsleute machten dort viel Geld durch Lieferungen an die Entente, und Bankiers legten Anleihen auf, um einschlägige Bestellungen zu finanzieren. Englands Herrschaft über die Meere und das Telegrafenwesen tat das Ihre dazu, dass Sympathien und materielle Interessen einflussreiche Teile der politischen Klasse und der Presse bewogen, sich auf die Seite der Entente zu schlagen. Präsident Woodrow WilsonWilson, Woodrow und seine Administration waren sich gleichwohl der Stärke des Widerstands seitens der Isolationisten bewusst und suchten zu vermitteln – bis die Aktivität deutscher U-Boote schließlich einen casus belli schuf und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten in den Krieg zwang.1

Anders als die britische Meerblockade war das U-Boot eine neue Art Waffe, deren uneingeschränkter Gebrauch die Regeln des Seekrieges verletzte. Während des Wettbewerbs um die beste Streitkraft zu Wasser hatte Admiral TirpitzTirpitz, Alfred von der Entwicklung der Unterseewaffe noch keinen Dringlichkeitsrang eingeräumt, denn dem Kaiser lag eine konkurrenzfähige Hochseeflotte am Herzen. Das allgemein akzeptierte traditionelle Reglement sah für die Kampfaktion eines U-Bootes Folgendes vor: Wollte es ein feindliches Schiff abschießen, musste es zunächst auftauchen, ihm einen Schuss vor den Bug setzen und es so zum Halten bringen, dann ein Prisenkommando hinübersenden und die gegnerische Crew in die Rettungsboote steigen lassen. Erst dann durfte es das Schiff versenken. Andererseits hatte das potenzielle Opfer auch diverse Abwehrmöglichkeiten: Es konnte, da schneller als das U-Boot, ihm davonfahren, es rammen oder seine verletzliche Hülle mit Feuer aus Maschinengewehren oder leichtkalibrigen Geschützen durchlöchern. Alternativ konnten Schiffe kriegführender Nationen ihren Namen ändern, falsche Schornsteine aufstecken oder neutrale Flaggen hissen, um ihre Herkunft zu verschleiern. Zunächst hatten die U-Boote mit den konventionellen Methoden durchaus einigen Erfolg. Dennoch entschieden sie sich mehr und mehr für die Taktik, das gegnerische Fahrzeug gleich zu torpedieren, sobald es ins Blickfeld kam, von unterhalb der Wasseroberfläche und ohne vorherige Warnung. Auf diese Art blieben das eigene Schiff und die eigene Mannschaft in Sicherheit, während der Feind keine Chance hatte zu entkommen. Auch Handelsschiffe wurden attackiert, weil man die Lieferung von Lebensmitteln und Rohstoffen zu unterbinden suchte, speziell nach England, das beides dringend brauchte.2

In den neutralen Ländern entzündete der uneingeschränkte U-Boot-Krieg mehr moralische Empörung als eine konventionelle Blockade, da Schiff und Crew verloren waren, statt festgesetzt und interniert zu werden. Die Briten dehnten die Regeln für den Seekrieg ziemlich weit aus, indem sie von den neutralen Schiffen verlangten, in ihren Häfen zu bleiben: Ausfahren dürften sie nur, wenn feststehe, dass sie keine Waren für den Transfer in die Länder der Mittelmächte dabeihätten. Die US-Regierung protestierte etwas halbherzig gegen diese Art der Handelsbeschränkung. Wurde jedoch ein Passagierdampfer versenkt, provozierte das schon einen lauteren öffentlichen Aufschrei. Im Falle der »Lusitania« gab es gewaltige Entrüstung, weil mit dem Schiff 128 Bürger der USAVereinigte Staaten in den Fluten verschwanden. Freilich war zuvor ein Hinweis an die Amerikaner ergangen, in der Kriegszone nicht auf einem britischen Schiff zu reisen, das möglicherweise Munition transportierte. Das Torpedieren von Passagierschiffen konnte seitens der USAVereinigte Staaten nicht ohne Antwort bleiben. Präsident WilsonWilson, Woodrow warnte den KaiserWilhelm II. energisch: Sollte die Strategie des uneingeschränkten Versenkens fortgesetzt werden, müsse Amerika in den Krieg eintreten. BerlinBerlin fügte sich – sehr zum Ärger der eigenen Marineführung. Während die britische Blockade langsam tötete, nämlich durch Aushungern, verletzte die Vernichtung von Leben durch U-Boot-Schüsse die Ethik der Zivilisation dramatischer.3

Die Entscheidung der Deutschen vom 9. Januar 1917, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg doch wiederaufzunehmen, war daher ein verzweifeltes Wagnis, das den absoluten Sieg erzwingen wollte. Das Scheitern der Friedensofferte BerlinsBerlin, die realistische Verhandlungen hatte ermöglichen sollen, ließ der zivilen Führung um Kanzler Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von keine andere Alternative als mitzuziehen. Während die Oberste Heeresleitung, an deren Spitze nun HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich standen, für die Westfront eine defensive Strategie vorsah, hoffte sie England mittels ihrer Unterseewaffe aus dem Krieg hinauszujagen: Eine stetig wachsende Zahl von U-Booten sollte die Versorgung der Britischen Inseln mit Kriegsgütern, Rohstoffen und Lebensmitteln verhindern. Erfreut, endlich eine entscheidende Rolle spielen zu können, unterstützte die Marineführung diese Strategie, indem sie fadenscheinige Statistiken fabrizierte, denen zufolge das Vereinigte Königreich binnen sechs Monaten zusammenbrechen werde. Die zivilen Experten, die man heranzog, äußerten sich vorsichtiger, denn sie wussten etwas besser Bescheid über das Potenzial der Vereinigten StaatenVereinigte Staaten. Aber während der entscheidenden Sitzung taxierte die militärische Führung fatalerweise Amerikas Kräfte falsch, indem sie die Kapazitäten seiner Kriegsproduktion ebenso unterschätzte wie seine Fähigkeit, hinreichend Soldaten auszubilden, um den Ausgang der Kämpfe an der Westfront zu beeinflussen.4

Die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges bewirkte AmerikasVereinigte Staaten Eintritt in den Ersten Weltkrieg; so wandelte sich die wohlwollende Neutralität gegenüber der Entente in einen veritablen Kombattantenstatus. Die Boulevardpresse hatte die öffentliche Meinung bereits zuvor mit sensationalistischen Stories über deutsche Sabotage und deutsche Spione aufgestachelt, die ein paar törichte Aktionen zu einer allgegenwärtigen Gefahr aufbliesen. US-Nachrichtendienste fingen ein Geheimtelegramm ab, das der deutsche Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur ZimmermannZimmermann, Arthur, an die mexikanische Regierung gesandt hatte. Der Inhalt sorgte für einen weiteren Aufschrei, offerierte BerlinBerlin dem mittelamerikanischen Staat darin doch ein Bündnis. Falls es einwillige, solle MexikoMexiko die Territorien zurückerhalten, die es ein Jahrhundert zuvor an die Vereinigten Staaten habe abtreten müssen. Diese diplomatische Intrige nach der Methode »sei nett zum Feinde deines Feindes« verletzte die Monroe-Doktrin und lieferte Präsident WilsonWilson, Woodrow endlich den gewünschten öffentlichen Vorwand, sich den Alliierten anzuschließen. Man vollziehe den Schritt in der Hoffnung, hieß es, so eine neue, friedliche Weltordnung zu schaffen. Der Affront, den das Reich durch das schlichte Ignorieren rechtzeitiger Warnungen AmerikaVereinigte Staaten zugefügt hatte, trug entscheidend dazu bei, dass beide Häuser des Kongresses mit überwältigender Mehrheit für den Eintritt in den Konflikt votierten. Unter Berufung darauf, dass »die deutsche Regierung wiederholt kriegerische Akte gegen die Regierung und das Volk der Vereinigten Staaten begangen« habe, erklärte WashingtonWashington am 6. April 1917 BerlinBerlin den Krieg.5

Militärisch hatte der amerikanische Eintritt zunächst nur begrenzte Wirkung; immerhin aber bestärkte schon die formale Rückendeckung die Entschlossenheit der Entente, weiterzukämpfen. Da sie bisher lediglich in lokalen und imperialen Feldzügen, an Orten wie KubaKuba, den PhilippinenPhilippinen und MexikoMexiko eingesetzt worden war, galt die U. S. Army lediglich als Kolonialstreitkraft, während sich die Navy bereits in raschem Wachstum befand. Obwohl Präsident WilsonWilson, Woodrow auf einer Sonderrolle AmerikasVereinigte Staaten als »assoziierte Macht« beharrte, damit es von den Geheimverträgen innerhalb der Entente unberührt blieb, bedeutete seine Beteiligung, dass den Alliierten die gesamte industrielle und finanzielle Potenz der Vereinigten Staaten zur Verfügung stand. Nun konnte die Navy ganz offen gemeinsam mit anderen Marineverbänden ein Konvoisystem quer über den Atlantik organisieren; Handelsfahrzeuge waren durch Kriegsschiffe geschützt, die Sonar und Wasserbomben an Bord hatten, was die U-Boot-Waffe wirkungsloser werden ließ. Schließlich begann auch die Army ein ehrgeiziges Expansionsprogramm, das ihr erlauben sollte, Zehntausende frischer Rekruten auszubilden und die erschöpften Personalreserven der Entente durch junge Männer aufzustocken, die noch bereit waren, ihr Leben in einer Attacke zu riskieren.6 Auch wenn seine Schlagwirkung anfangs bescheiden blieb, verwandelte der Eintritt der USA den Krieg in einen echten globalen Konflikt.

Da der Großteil der Gefechte in Europa stattfand, lancierte die US-Regierung eine Propagandakampagne, um die eigene gespaltene Bevölkerung hinter den Kriegsanstrengungen zu versammeln. Präsident WilsonWilson, Woodrow versuchte den Konflikt mit einem höheren Sinn aufzuladen, indem er verkündete, dieser Waffengang werde »ein Krieg [sein], der alle Kriege beendet«, und diene dem Zweck, »die Welt sicher genug für die Demokratie zu machen«. Außerdem schuf seine Regierung ein Committee on Public Information, an dessen Spitze George CreelCreel, George stand. Der engagierte Journalist prangerte den preußischen Militarismus an und nannte »Kaiser Bill« spöttisch »den Hunnen«. Damit nahm Creel Bezug auf eine unüberlegte Äußerung Kaiser Wilhelms II. Wilhelm II.: Der hatte 1900, als ein internationales Expeditionskorps nach ChinaChina aufbrach, um dort die antichristliche Revolte der Boxer niederzuwerfen, deutschen Soldaten aus diesem Einsatzkommando zugerufen, sie mögen so furchterregend dreinschlagen wie »vor tausend Jahren die Hunnen«. Diese diplomatische Fehlleistung ging als »Hunnenrede« in die Geschichte ein. CreelsCreel, George Bemühungen, unterstützt von einer blindwütigen Massenpresse, schürte eine regelrechte »Kriegshysterie«. Es war nunmehr verboten, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen; nicht nur Straßennamen wurden patriotisch umbenannt, sondern auch harmlose Esswaren: Sauerkraut etwa hieß jetzt victory cabbage (›Siegeskohl‹). Die nationalistische Raserei forderte sogar einige Menschenleben, beispielsweise wurde in East St. Louis / Illinois East St. Louisein unglücklicher Deutsch-Amerikaner gelyncht.7 Die Propaganda überhöhte den Krieg zu einem Kampf zwischen der »westlichen Zivilisation« und dem deutschen Barbarentum.

 

Obwohl sich nun der Kreis der Kombattanten um einen erweitert hatte, blieb der Ausgang des Krieges bis Frühling 1917 unentschieden. Die Briten setzten ihre Massenoffensiven in Frankreich und Belgien fort: Unermüdlich rannten sie gegen jene Kette aus schwer befestigten deutschen Positionen an der Westfront an, die den Namen »Siegfriedstellung« trug (die Alliierten nannten sie »Hindenburglinie«); immer wieder eroberten sie kleine Areale verwüsteten Territoriums, und jeden dieser Erfolge bezahlten sie mit einem enormen Blutzoll. Die Deutschen drangen langsam von Polen aus in russisches Gebiet vor. Auch sie erlitten schwere Verluste, doch gelangen ihnen größere Geländegewinne von den baltischen Provinzen im Norden bis zur rumänischen Grenze im Süden. Was den Seekampf betraf, schien noch nicht klar, ob die Konvois oder die U-Boote ihn gewinnen würden. In den Ländern des Westens gab es bald wieder ernstliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der militärischen Strategie: Sollte man den Waffengang beenden oder weiterkämpfen? Schließlich setzten sich aber die Befürworter der letzteren Option durch. Deutlich überforderter zeigte sich das zaristische Russland, in dem Hungerrevolten die imperiale Ordnung auf eine harte Probe stellten. Nicht besser erging es dem Habsburgerreich, in dem die Stimmen des separatistischen Nationalismus immer lauter wurden. Am Ende des Krieges standen also zwei Entwicklungen, die den Wettlauf zwischen den Parteien bestimmten: hier der allmähliche Kollaps Russlands, der zum Sieg der Deutschen im Osten führte, dort die Ankunft der amerikanischen Truppen, die der Entente half, den Krieg im Westen zu gewinnen.