Gesammeltes Schweigen

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3.1 Dienst fürs Vaterland

Die Ausbildung im Unteroffiziersausbildungsregiment war Geschichte. Zu guter letzt haben wir unsere Tassen gegen die Mauer des Speisesaales geworfen, um bleibende Spuren zu hinterlassen. Die Unteroffiziere schauten weg. Waren sie doch im Dienstgrad auch nicht mehr als wir. Die Scherben von ein paar hundert Tassen lagen dort. Der Scherbenhaufen bei einem Polterabend zu einer Dorfhochzeit war keinesfalls größer. Sollten sie ihn doch wegräumen (was sie auch bis zum Eintreffen der neuen Rekruten tun mussten), diesen Haufen, denn oft genug hatten wir ihre Zimmer sauber gemacht. Diesen Dreck hatten sie sich selbst besorgt.

Ich glaubte wieder in Pankow eingesetzt zu werden. Dann würde ich vor Emmas Hinterhofwohnung alle paar Tage Grenzdienst tun.

Tante Emma war die Schwester von Gustav, meinem Großvater, der 1963 starb. Emma, mit Berliner Herz und Schnauze ausgestattet, hatte Alfred, den Bruder meiner Oma Erna, Gustavs Frau, geheiratet. Alfred starb in den 1950er Jahren. Die Oma, später von unseren Kindern die "kleine Oma" genannt, lebte bis 1985.

Doch es kam alles anders. Die Organisationsabteilung hatte gemeinsam mit der Militärabwehr gründlich gewürfelt und für mich die 3./GR - 37 vorgesehen. Das "Grenzregiment 37" unter Führung von Major Petrus, war im Berliner Ortsteil Johannisthal stationiert, auf historischem Boden, dem ehemaligen Flugplatz, einer Wiege des deutschen Flugwesens. Es befand sich in Nachbarschaft mit Teilen des MfS-Wachregiments. In diesem dienten nur ausgewählte Zeitsoldaten, die sich als Elitetruppe verstanden und sich arrogant und überheblich aufführten. Das sollten wir im Ausgang mehrmals zu spüren bekommen, denn mehr als uns lieb war endeten unsere Begegnungen mit kleinen Rempeleien, oder auch mehr.

Wer die Arrestzellen in Treptow bevölkerte, war abhängig von dem Truppenteil, der die Standortstreife zu stellen hatte. Waren es die Grenzer, saßen die "Rotkehlchen" ein. Wurden sie vom Wachregiment gestellt, bevölkerten Grenzer die Arrestzellen.

Beide Kasernen stießen mit ihrer rückwärtigen Begrenzung an den ehemaligen Flugplatz Johannisthal, der in den zwanziger Jahren zur Berühmtheit gelangte, weil dort modernste Lufttechnik getestet wurde.

Die 3./GR-37 war keine schlechte Kompanie. Der Kompaniechef, Oberleutnant Katz, ein junger Mann, der sein Abitur auf der Volkshochschule nachholte, machte den Eindruck eines Reserveoffiziers. Er war klug, aber kein Vollblutmilitär. Sein Stellvertreter war ein, durch viele Dienstjahre gestählter Hauptmann. Unzählige Grenzdiensteinsätze hatten ihn geprägt. Er wurde von der Truppe „Papa Jahrisch“ genannt. Wenn die Kämpfer der Einheit Probleme hatten, war er väterlich nachsichtig und setzte sich für alle ein. Bitten und Anträge prüfte er wohlwollend und reichte sie an den Chef weiter, der sie ohne weitere Prüfung bestätigte. Manchmal, so schien es, wirkte unser Papa J. müde und abgekämpft.

Der Politstellvertreter war ein kleiner, rastloser Oberleutnant. Immer zur Stelle, wenn es irgendwo "brannte". Sein Gespür ließ ihn Vorkommnisse rechtzeitig erkennen, Alkohol durch fünf Türen riechen und die Wettbewerbsergebnisse im Voraus ahnen. Seine Führungsarbeit im Grenzdienst war vorbildlich, aber die tägliche Aktuell-Politische Information (API) war schlampig vorbereitet und langweilig.

Ein irrer Typ war der Hauptfeldwebel (Spieß), im Dienstgrad ein Stabsfeldwebel. Mit allen Wassern gewaschen, war er nach Papa J. der erfahrenste Angehörige der Kompanie. Es gab nichts, was er nicht organisieren konnte, weil er "Alles und Jeden" kannte. War er im Urlaub, so fehlte ein Stück vom Inventar. Ich hatte den Eindruck, dass er die Kompanie indirekt führte. In seiner Stimme klang immer etwas Hintergründiges, was durch seine Mimik noch verstärkt wurde. Seine Ratschläge wurden von allen Angehörigen der Kompanie, einschließlich des Kompaniechefs, angenommen und seine Hilfsbereitschaft nie ausgeschlagen. Es schien, als sei er als Spieß geboren. Vom Ausgangsappell über die Soldauszahlung, vom Wäschetausch bis zum Reparaturtausch der Bekleidung und Ausrüstung, vom Urlaubsschein bis zur Ausgabe der Zusatzverpflegung, alles war bei ihm in guten Händen. Der Disziplin, Ordnung und Sauberkeit hatte er sich verschrieben und setzte sie mit Ruhe und Sachlichkeit gegenüber jedermann in der Einheit konsequent durch.

Am Haarschnitt und an der Uniform sollte man erkennen können, wer aus der 3./GR-37 ist, war eine seiner Lieblingsfloskeln.

Er war von hagerer Gestalt, kein gütiger Vatertyp mit Schmerbauch, eher einer, der allen die militärischen Ausbildungsnormen mit Note 1 vormacht. Er stand auf langen, extrem dünnen Beinen. Von der Seite gesehen erinnerten sie an osmanische Krummsäbel. An seiner Uniform war nie etwas auszusetzen, nicht das kleinste Stäubchen, und in seinen Stiefeln konnte sich jeder spiegeln, so wie man sich mit seiner Bügelfalte rasieren konnte. Blank wie die Stiefeln des Hauptfelds, so sah es in der Kompanie aus.

Der Umgangston war "frontmäßig". Er duldete kein dröhnendes Gebrüll über den Flur, die Lautstärke der Kommandos war der Situation angepasst. In einer Grenzkompanie haben immer einige Kämpfer Nachtruhe, egal zu welcher Zeit, und andere sind gleichwohl im Dienst. Das zu berücksichtigen ist Teil der Kameradschaft.

Mein Zugführer war ein junger Unterleutnant. 1966 hatte er die Offiziersschule beendet. Er beherrschte nicht wenige Kniffe der Menschenführung, war gebildet, klug und sportlich, aber (fast zu) gutmütig. Sein Stellvertreter, Unterfeldwebel Martins, im 5. Diensthalbjahr, kam von der Küste. Er war ein Grenzfuchs, aber maulfaul, wie fast alle Norddeutschen. Dadurch wirkte er oft nicht wie ein Vorgesetzter, eher wie ein älterer Kumpel. Im Innendienst trat er nur bei Notwendigkeit in Erscheinung. Die anderen Unteroffiziere des 3. Zuges waren seit 6 Monaten in der Kompanie. Sie waren zwar körperlich fit, aber geistig nicht sehr beweglich und entwickelten keine Initiative. In der Ausbildung zum Unteroffizier hatten sie zwar Gehorchen gelernt, aber weniger eine Gruppe zu führen. Zu ihrer Truppe hatten sie ein eher kumpelhaftes Verhältnis. Im Innendienst herrschten die Gefreiten des dritten Diensthalbjahres. Während des Grenzdienstes hatten die Unteroffiziere alles im Griff, allerdings mit einem Schuss routinierter Nachlässigkeit. Die Männer meiner Gruppe machten einen guten Eindruck. Mein Vorgänger, ein Stabsgefreiter, hatte fast drei Jahre in der Kompanie gedient. Er muss es gut verstanden haben, diese Gruppe zu führen und zu formen. Ich sprach mit jedem Einzelnen und sie fügten sich in das Ungewohnte. So konnte ich am Besten erfahren, welche Schokoladenseite der Einzelne hatte und wie mein Vorgänger mit den Männern umgegangen war. Wer gut fragt, führt das Gespräch und so erfuhr ich nicht nur die Struktur der Gruppe, Erlebnisse aus dem Grenzdienst, sondern auch Widersprüche, Einsichten und Abneigungen. Ich war mit meinem Informationsstand zufrieden.

In den ersten Tagen kam es doch zu der einen oder anderen Kraftprobe zwischen der Gruppe und mir. Das wurde begünstigt dadurch, dass es einen Gefreiten des dritten Diensthalbjahres in der Einheit gab, der im Waggonbau in D. ein Jahr vor mir die Schlosserlehre beendet hatte.

Der glaubte allen Ernstes unsere Bekanntschaft ausnutzen zu können. Wie man sich doch manchmal täuschen kann. Jedenfalls endete die letzte der provokanten Kraftproben damit, dass sich ein Genosse Gefreiter in seinem Spind wieder fand, und zwei weitere mich hindern mussten, die Spindtür zu schließen. Es kam nicht zur Meldung, denn zu einem groben Klotz gehört ein grober Keil. Das hatten alle verstanden und die Gruppe akzeptierte mich. Die Befehlsausführung war ohne Tadel und die Disziplin war bis auf wenige Ausnahmen gut.

Die so genannte EK-Bewegung (EK war die Bezeichnung für Entlassungskandidat) verschonte auch unser Kollektiv nicht, wenn gleich in einer abgeschwächten Form, die mit der in anderen Teilstreitkräften üblichen Art und Weise nichts zu tun hatte. Jeder zählte die Tage bis zur Entlassung. Wenn man Berichte aus der NVA dazu liest, war diese Bewegung ekelhaft und herabwürdigend, weil sie die Würde des Einzelnen verletzte. Bei uns, die wir jeden Tag Schulter an Schulter zum Grenzdienst antraten, war alles mehr übersteigerte Freude, bald wieder zu Hause sein zu können. Nach kulthaften, überlieferten Ritual wurden von einem Bandmaß, welches sich in der EK-Maschine (kunstvoll verzierte Leuchtpatronenhülse) befand, die man an einer Uhrenkette trug, täglich ein Schnipsel abgeschnitten. Bei uns lief das recht harmlos ab. Mitternacht – wenn kein Grenzdienst war, versammelte sich die Gruppe um den Tisch in der Unterkunft und einer der Jüngeren, ein Dachs, oder auch S-Bahnbremser genannt, musste seine Tage ansagen. Unter Beifall der Älteren nannte ein EK die noch zu dienende Anzahl der Tage des dritten Diensthalbjahres. Ein Dachs musste dann das Bandmaß kürzen. Ende der Vorstellung!

Mit mir hatte man es auch versucht, schließlich befand ich mich im zweiten Diensthalbjahr. Sie staunten nicht schlecht, als ich die Schere nahm und den Schnipsel abtrennte. Anschließend habe ich die EK-Maschinen eingesammelt und vorbei war der Spaß. Ein EK ohne Maschine war wie ein Hund ohne Schwanz. Die Jungs waren sprachlos und das Grinsen gefror ihnen im Gesicht. Das hatte sich bisher noch kein Unteroffizier gewagt. Murrend gingen sie zu Bett. Am nächsten Morgen kamen sie, um sich zu entschuldigen, denn selbst der größte Esel hatte begriffen, dass der Bogen überspannt war und wer hier das Sagen hatte.

Zur unangenehmsten Zeit und in unregelmäßigen Abständen habe ich die EK dann zu mir befohlen, um sie, bei Nennung meiner Tage, das Bandmaß beschneiden zu lassen. Der Hartnäckigste unter ihnen hat es fünfmal ausgehalten, dann hatte auch er die Nase voll.

 

Ich wurde mehrfach der Alarmgruppe zugeteilt oder als UvD eingesetzt. Das hatte ich dem Kompaniechef zu verdanken, denn das gab ihm die Gelegenheit, mir seine Hausaufgaben für die Volkshochschule zur alsbaldigen Erledigung anzudrehen.

Da waren ihm gute Noten sicher, meinte er und hatte recht. Aber nicht immer war dafür Gelegenheit. Manchmal waren betrunken heimkehrende Ausgänger zu betreuen, oder Zusatzaufgaben des Hauptfeldwebels zu erfüllen. Der Spieß sah es überhaupt nicht gerne, wenn wir mit Schulbüchern hantierten und so unsere Dienstpflichten nur oberflächlich erfüllten. Mit den Betrunkenen war es so ein Gräuel. Eines Nachts kam einer der stellvertretenden Zugführer aus der Kneipe zurück. Sonst ein arroganter Vogel, setzte er sich zu mir und behauptete in seiner Trunkenheit, dass er für den Sozialismus gar seinen Vater erschießen würde. Am nächsten Morgen stellte ich ihn zur Rede. Selbst im nüchternen Zustand blieb er bei seiner unsinnigen Bemerkung. Ich fand keine Worte mehr, über soviel arroganter Dummheit und Verblendung und beschloss mit diesem Menschen kein Wort mehr zu reden. Wie kann man so böswillig sein? Nur ein paar Wochen später verunglückte sein Vater tödlich. Erschüttert kam er zu mir. Er brauchte jemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte. Selbstanklage, Angst und Trotz wechselten einander ab. Die Hälfte der Nacht hörte ich ihm zu. Als der Morgen graute, kannte ich die Lebensgeschichte seiner Familie. Erleichtert schlich er auf sein Zimmer, traurig und doch froh, dass ich seine trunkenen Sprüche, vor Wochen geäußert, für mich behalten hatte.

UvD einer Grenzkompanie zu sein ist eine undankbare Aufgabe. Man rennt 24 Stunden umher, ist das "Mädchen für Alles" und handelt sich nur Ärger ein.

Es kam, wie es kommen sollte. ALARM!!! Drei Sekunden Panik. Dann vertraute ich meinem Wissen und Können. Der Alarmplan, gelernt, bis er in Fleisch und Blut übergegangen ist, wurde Punkt für Punkt abgearbeitet. Kommandos an die Einheit, Waffenkammerschlüssel vom Stab holen, Kfz organisieren (Schützenpanzerwagen hatten wir damals noch nicht), die Truppen mit voller Bewaffnung und Ausrüstung aufsitzen lassen...

Der diensthabende Offizier war unauffindbar, aber die Truppe saß nach 22 Minuten auf den Lkws. Geschafft, aber immer noch kein Offizier aus der Kompanie anwesend.

Plötzlich die unwirsche Stimme des Regimentskommandeurs aus der Dunkelheit hinter mir: „Wollen sie keine Meldung machen?“. Neben dem Kommandeur stand noch einen Gestalt, durch die Finsternis nicht zu erkennen. Ich meldete die Stärke der Einheit. Die Zahl hatte ich mir vor dem Aufsitzen noch schnell mit dem Kugelschreiber auf die Hand geschrieben. „Lassen sie absitzen und zur Kontrolle antreten“, befahl der "Alte". Die Männer der Kompanie hatte seine Stimme erkannt und spurten wie ein Mann. Einige Stabsoffiziere stürzten herbei, um die Männer zu "filzen".

Eine unbedeutende Anzahl von Ausrüstungsgegenständen waren vergessen worden.

Abgehetzt und schwitzend meldete sich plötzlich der Kompaniechef. „Was wollen sie noch hier?“, fragte die in der Dunkelheit verbliebene Gestalt und trat in das Licht der Taschenlampen der Kontrolleure. „Wer solche Unteroffiziere hat, kann doch zu Hause bleiben“. Ich erstarrte, denn die Gestalt war ein General, wieder einmal der Stadtkommandant.

Am späten Vormittag war die Auswertung, in Form eines Regimentsappells. Nach allen Seiten wurde Kritik ausgeteilt und Strafen angedroht. Wir hatten die beste Zeit erreicht und die wenigsten Fehler aufzuweisen und waren die einzigste Einheit, die nicht von einem Offizier geführt worden war. Plötzlich wurde mein Name genannt. Unteroffizier Braun vortreten! Mit straffem Exerzierschritt trat ich vor. Zurückgetreten bin ich mit fünf Tagen Sonderurlaub im Gepäck. Verdient hatte es die gesamte Mannschaft.

Eine der wenigen Abwechselungen bildete der Politunterricht. Dieser war, in unserem Fall, speziell auf das Unteroffizierskorps ausgerichtet. Der für uns zuständige Instrukteur kam aus einem Aufgebot, welches aus Mitarbeitern der SED Kreis- und Bezirksleitungen bestand. Sie waren kürzlich einberufen worden und waren als Offiziere im Dienstgrad Oberleutnant/Hauptmann zur politischen Schulung eingesetzt worden.

Vom “Offizier“ war wenig zu erkennen, aber ihr großer Schatz an Informationen und Erfahrungen in der politischen Massenarbeit war unverkennbar. "Unser Hauptmann" gab sich redlich Mühe, uns die Beschlüsse des aktuellen Parteitages der SED zu übermitteln. Er hatte viel Hintergrundwissen, welches er uns nicht vorenthielt. Das machte seinen Unterricht so interessant. Obwohl es auch bei uns einige Penner gab, traf der bekannte Soldatenspruch "Wenn alles schläft und einer spricht, dass ist in der NVA der Politunterricht" nicht zu. Seine wichtigste Methode war die Diskussion in der Gruppe, ohne militärische Förmlichkeiten. So erreichte er, dass die Mitarbeit gut war und jeder, der es wollte, auch etwas für seine Arbeit ableiten konnte. Ich hörte dort eine Version vom "Neuen Ökonomischen System", wie Walter Ulbricht die kleine DDR zu einer Wirtschaftsmacht aufbauen wollte, oder das beschlossen wurde, für alle jeden zweiten Sonnabend arbeitsfrei zu machen. Letzteres prägte sich am schnellsten ein, wenn es auch für uns nicht zutraf. Ich lernte das "wissenschaftliche Studium" der Parteitagsdokumente durchzuführen, sowie Schlussfolgerungen und Vorschläge für die Arbeit in der Truppe abzuleiten. In persönlichen Gesprächen gab es ab und an auch einige Hintergrundinformationen, wie ich sie, in der Nachwendezeit bearbeitet, vorher schon einmal aufgeschrieben habe.

Die Parteigrundorganisation in der Kompanie arbeitete formell gut. Es gab aber auch aus späterer Sicht keine Auseinandersetzung und kein Problem an das ich mich erinnern kann.

3.2 Im Grenzabschnitt

Neben dem allgemeinen Dienst, der auch ein paar wenige Ausbildungsstunden enthielt, waren wir vorrangig zum Grenzdienst eingesetzt. Innerhalb 24 Stunden waren acht Stunden Grenzdienst, je zwei Stunden Vor - und Nachbereitung und acht Stunden Schlafen. Zwei bis drei Stunden Ausbildung vor dem jeweils ersten Nachtdienst waren üblich. Vorrangig wurde MKE (Militärische Körperertüchtigung), Nahkampf und Schießausbildung durchgeführt. War das Wetter schlecht oder eine Lage an der Grenze, wurde die Ausbildung sofort abgesetzt. An der Zeit für den Politunterricht wurde nie gespart.

Die Grenzdienstplanung machte der Kompaniechef oder sein Stellvertreter. Dabei spielte die Zug- und Gruppenstruktur keine Rolle. Je nach Zuverlässigkeit wurde der Grenzposten (Postenführer und Posten) zu dem Postenbereich geplant. Dabei wurde streng darauf geachtet, dass die Zusammensetzung des Grenzpostens und der Postenbereich sich innerhalb von zehn Tagen nicht wiederholten. Diese Planung wurde von der Militärabwehr (VO, oder auch V-2000), die auch das Vetorecht hatte, mit gezeichnet. Der Sicherungsabschnitt des Grenzregimentes wurde immer durch eine Kompanie für 8 Stunden gesichert. Die Kräfte und Mittel waren von rechts, Treptower Weichengestell bis links, Rudower Chaussee in drei Sicherungsabschnitten eingesetzt.

Kleine Betriebe, Wohnblöcke, Gartenanlagen, Kanäle und Brücken, ein Friedhof, eine Geflügelfarm, Gleisanlagen und ein Kindergarten begrenzten den Abschnitt. 2 Grenzübergangsstellen (GÜST) befanden sich in der Mitte bzw. an der linken Flanke des Regimentsabschnittes. Ein großer Teil der Sperranlagen stammte noch aus der Zeit um 1961-62:

 Drahtzaun auf drei Pfählen, als das vordere Sperrelement;

 Postentürme, etwa 5-6 m hoch aus Holzbalken und -bohlen;

 Kfz-Sperrgraben mit 4-5 cm starken Hölzern faschiniert;

 Lampen mit Glasglocken und je zwei Leuchten, teilweise Signalzaun aus Kupferdraht, selten funktionstüchtig;

 Hinterlandszaun aus Maschendraht;

 ein paar Kilometer Kolonnenweg aus Betonplatten.

Neu entstanden waren oder befanden sich im Bau:

 Postenhäuser, viereckig im Grundriss, etwa 5 Meter hoch;

 Streckmetallzaun, verzinkt, als vorderes Sperrelement;

 Halogen-Peitschenlampen;

 Grenzsignalzaun, mit rostfreiem Stacheldraht belegt;

 Kfz - Sperrgraben, mit Betonfertigteilen ausgelegt;

 Hinterlandszaun aus Streckmetall, etwa 2,5 Meter hoch.

Der Handlungsraum, so nannten wir das Gelände zwischen dem vorderen Sperrelement und dem Hinterlandzaun, war zwischen 15 und 50 Meter breit.

Der Sechs-Meter-Kontrollstreifen war immer gepflügt und geeggt und ließ auch die kleinste Spur erkennen. Nirgendwo im Handlungsraum durfte Unkraut wachsen, Sträucher und Bäume wurden gar nicht geduldet. Der Abstand zwischen den Postenpunkten betrug 50-400 Meter, manchmal auch mehr, je nach den Sichtverhältnissen und der Tiefe des Handlungsraumes. Dazwischen konnten auch Streifen zu Fuß handeln.

Der zu sichernde Abschnitt war in drei Zugabschnitte und diese in je zwei Gruppenabschnitte eingeteilt. Die Zugabschnitte wurden, je nach Schwierigkeitsgrad von Offizieren oder Unteroffizieren geführt. Entsprechend dieser Dislokation war auch das Grenzmeldenetz geschaltet. Es verband die Postenpunkte untereinander, aber auch jeden Postenpunkt mit dem Kommandeur des Zugabschnittes, der zusätzlich über ein Festnetz-Telefon und ein tragbares UKW-Funkgerät verfügte. Der Kommandeur Grenzsicherung (KGS) führte die gesamte Einheit aus dem Führungspunkt im Regimentsstab. Dort war auch die Alarmgruppe stationiert, die vier bis sechs Mann stark war. Dem KGS waren ein Schreiber und ein Fahrzeug zugeteilt. Dieses war ein Kübelwagen GAS mit UKW-Funkgerät sowjetischer Produktion. Die Alarmgruppe wurde bei Notwendigkeit mit einem LKW des Typs H3A transportiert. Die Zugführer hatten den Trabant P-601 A oder ein Krad MZ 250-A. Die Kommandeure - Gruppenabschnitt hatten ebenfalls Kräder.

Die Kfz und Kraftfahrer waren im Bestand des 4. Zuges jeder Grenzkompanie. Die Lastkraftwagen (LKW) waren in der schweren Kompanie des Grenzregimentes konzentriert. Dort befand sich auch je ein Zug Granatwerfer 120 mm und ein Zug mit Panzerabwehrkanonen (PAK) sowie ein Pionier- und Nachrichtenzug.

Das sind die äußeren Bedingungen gewesen, unter denen wir damals den Grenzdienst zu verrichten hatten.

In dieser Zeit war die Vorbereitung des Entlassungstags, gekoppelt mit der Einführung der Genossen des zweiten Diensthalbjahres, eine aufregende und hektische Angelegenheit. In späteren Jahren wurde dafür mehr Zeit aufgewandt.

Die Neuen, nur wenige Stunden auf der Kompanie, gingen, Soldaten als Posten und die Unteroffiziere als Postenführer oder als Posten bei einem älteren Unteroffizier, zum ersten Grenzdienst. Zur gleichen Zeit fieberten die Heimgänger in den Klubräumen ihrer Entlassung entgegen.

Mein erster Einsatz erfolgte als Postenführer auf dem Postenpunkt Forsthausallee. Ein windiger Abschnitt, weil dort schon mancher Grenzverletzer sein Glück (erfolglos) probierte.

Vor uns eine fast unbebaute Allee mit großen wuchtigen Bäumen und einem kleinen, einer Gartenlaube gleichenden Postenhaus der Westberliner Polizei. Rechts, etwa 300 m weit befand sich die Umzäunung der Grenzübergangsstelle (GÜST) Sonnenallee und links, unweit vom Postenpunkt, befand sich der Britzer Zweigkanal. Im Hinterland mehrere eng aneinander gebaute Neubaublöcke. Die eigene Bewegung eingeengt, Hilfe von rechts oder links nicht möglich, standen wir auf einsamen Posten.

Nachtdienst. Der Großstadtlärm ebbte auf beiden Seiten des Zaunes ab. Die Geräusche der Nacht nahmen uns gefangen. Ab und zu kamen die Laute der Enten vom Kanal zu uns herüber. Nach und nach verlosch das Licht in den Fenstern der Neubauten hinter uns. Die GÜST, ständig hell beleuchtet, war bis Mitternacht stark belebt. Den Schwerpunkt bildete die Richtung zum dunklen, dunstigen Kanal. Vorsicht, die Lampen auf dieser Seite spendeten nur ein trübes Licht und bald taten mir die Augen weh. Also Fenster auf und auf die Ohren verlassen, mit dem Posten quatschen und zusehen, dass die Zeit vergeht. Mein Posten, schon ein halbes Jahr auf der Kompanie, wusste eine Menge zu erzählen. Ich stellte eine Frage nach der anderen. Besonders interessierten mich die ungeschriebenen Gesetze und Regeln des Soldatenlebens im Grenz- und Garnisonsdienst, also hörte ich aufmerksam zu, ohne in Beobachtung und Sicherung meines Abschnittes nachzulassen. Besonders anstrengend waren die "Stunden der toten Augen", zwischen zwei und vier Uhr morgens. Wir standen uns gegenüber, so dass wir, aneinander vorbeisehend, den jeweiligen Beobachtungssektor einsehen konnten. So konnte man sich beim Plaudern in die Augen sehen, aber auch die kleinste Unaufmerksamkeit des Gegenübers registrieren. Während dieser Stunden kämpft jeder mit sich, mit der Müdigkeit und ist dennoch mit den Gedanken bei dem anderen, dem zweiten Mann. Wie wird er sich verhalten, wenn eine Handlung notwendig würde.

 

Nicht ohne Grund hatte der Gegner auf der anderen Seite lebensgroße Plakate aufgestellt. Diese zeigten Grenzposten bei einem schlampigen Dienst.


Antwort der DDR auf Provokationen aus dem Westen.

War es wirklich so? Auf jeden Fall zeigte es Wirkung, denn wir dachten darüber nach. An meinen Posten kann ich mich nicht mehr erinnern, der den erfolgreichen Nachtdienst ohne Handlung im April 1967 mit mir teilte. Ungeteilt jedoch war unsere Erleichterung, als der Zugführer am Ende des Dienstes feststellen konnte, dass der Kontrollstreifen ohne Spuren war.

Es gab noch einige andere Postenpunkte, wo vorrangig Unteroffiziere eingesetzt wurden, denen man hohe Zuverlässigkeit zutraute. Einer dieser Schwerpunkte war der Postenpunkt Spätbrücke. Dieser Postenbereich hatte bei einer geringen Tiefe von ca. 25 Meter eine seitliche Ausdehnung von jeweils ca. 350 Meter. Eine zuverlässige Sicherung war Glückssache, weil eine Beobachtung des Vorfeldes durch große Bäume behindert war. Eine Beobachtung des Hinterlandes war besonders zur Nachtzeit unmöglich, da die als Baumschule genutzten Flächen nicht beleuchtet waren. Im linken Teil des Hinterlandes befanden sich Kleingärten mit dichter Bebauung. Der linke vordere Fuß des Postenturmes, in der schon beschriebenen Holzbauweise, ragte bis in den Zaun des vorderen Sperrelementes. Auch der Gegner schien diesen Bereich mit großer Aufmerksamkeit zu überwachen, denn fast rund um die Uhr war ein Schutzpolizist präsent.

Wenn wir den Schupos keinen Spitznamen, wie Heinz, Fritz, Willi gaben, nannten wir sie Duepos (Duensing-Polizei). Der Polizeipräsident von West-berlin, in der Zeit von April 1962 bis Dezember 1967, hieß Erich Duensing, ein Ex-Oberst der Deutschen Wehrmacht.

Nun schnell wieder eintauchen in das Grenzerleben von 1967: Spätbrücke. Ein langer, hagerer Duepo löste sich mit einem grauhaarigen, untersetzten ab. Der Dicke versuchte bei jeder Gelegenheit mit uns Kontakte aufzunehmen. Sei es mittels Zeichen, Gesten oder mit Worten. Nicht selten kommentierte er, politisch rechts-national motiviert, das Geschehen an den Brennpunkten dieser Welt.

Mit viel Häme sprach er uns eines Tages, im Sommer 1967 an, ein süßliches Lächeln mühsam unterdrückend: „Eure Freunde in Ägypten haben gestern einen auf den Deckel bekommen. Israelische Soldaten marschieren auf Alexandria. Es sieht schlecht aus für euch“, sprach er wie ein großer Feldherr. Während er auf unseren Postenturm zuging brüllte er plötzlich hasserfüllt:

„Ihr seid als Nächste dran!“.

„Nein“, sagte ich völlig ruhig, „zuerst sind Sie dran“ und warf meine fast leere (besser: halb volle) Büchse Ölsardinen hinunter, die ihn "zufällig" an der rechten Schulter traf. Sein Uniformrock war hinüber. Uns lautstark, auf das Übelste beschimpfend, zog er sich in sein Postenhaus zurück.

Dort sprach er so erregt und laut, dass wir die Meldung an seinen Vorgesetzten mithören konnten. Diese war dann auch Bestandteil unseres Berichtes an den Kommandeur Grenzsicherung. Dieser billigte unsere Handlung keinesfalls, lobte aber später das "klassenmäßiges Verhalten" des Grenzpostens Spätbrücke.

Der "Hellmuth", so nannten wir diesen Duepo, wurde gegenüber des gesamten Regimentsabschnitts nie wieder gesehen. Man hat ihn sicher, aufgrund seines "heldenhaften" Verhaltens, in eine Schreibstube versetzt.

Was hatte diesen Duepo in diese Sieger-Stimmung versetzt? Was hatte seine Aggressivität angestachelt? Es sah nicht gut aus im Nahen Osten.

Am 05.06.1967 hatte die Führung des Staates Israel einen Krieg gegen seine arabischen Nachbarn ausgelöst, die zweite Aggression in der erst neunzehnjährigen Geschichte dieses Staates. Es war ein räuberischer Blitzkrieg, der nach nur sieben Tagen mit einem Sieg für den Aggressor beendet werden konnte. Dies brachte Israel die absolute Kontrolle über ein strategisch wichtiges Gebiet, dem Schnittpunkt dreier Kontinente (Europa, Afrika und Asien). Durch dieses Gebiet verlaufen die Hauptverbindungen zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Die wichtigste strategische Verbindung stellt der Suez-Kanal dar. Auf ihm wurden 1966 13,5 % des Welthandels, davon ca. 70% des Ölhandels, abgewickelt. Die US-Streitkräfte in Vietnam deckten ihren Treibstoffbedarf zu 50% aus diesem Raum, die BRD 80% ihres Gesamtbedarfs. Nicht vergessen sollte man, dass der Nahe und Mittlere Osten die Südflanke der NATO bildet.

Die aktiven Streitkräfte Israels, etwa 70.000 Mann, konnten, aufgrund einer bestens organisierten Mobilmachung in kürzester Frist, auf 270.000 Mann verstärkt werden. Weiter verfügten sie über 1.950 Panzer, 1.930 Rohre Artillerie, 450 Kampf- und Schulflugzeuge und 420 Schiffseinheiten. Die Blitzkriegsstrategie beruhte auf ein ausgezeichnetes Spionagesystem, Diversionstätigkeit, sowie auf einer harten und gefechtsnahen Ausbildung der Soldaten und des Offizierskorps.

Der Krieg war meines Erachtens auf allen Gebieten (politisch, militärisch und ökonomisch) bestens organisiert. Perfekter und wirkungsvoller, als es je eine Armee während und nach dem zweiten Weltkrieg fertiggebracht hatte. Vor allem wurden die Kenntnis über den Gegner und dessen Schwächen schonungslos ausgenutzt.

Die Schlussfolgerungen und Maßnahmen für die NVA, aus dem Beginn und Verlauf dieses Krieges gezogen, sollten mich später noch oft begleiten. Aber dazu später, denn wir sind noch im Grenzabschnitt des GR-37.

Einen weiteren Schwerpunkt bildete der Postenpunkt Wredebrücke, unmittelbar am Teltowkanal, neben einer schmalen Behelfsbrücke aus Holz und nur für Fußgänger (Grenzer) zugelassen, gelegen.

Auf der Gegenseite befand sich ein Eternitwerk. Dort wurden Formteile aus Asbestzement hergestellt. Im Hinterland waren die Gebäude des DFF zu erkennen. Rechts, vor der Massantebrücke, war der nächste Postenpunkt. Dazwischen befand sich die Straße C. Links folgte der Postenpunkt Kiesberg, dazwischen lag die Geflügelfarm an der Rudower Straße. Rechts verlief die Grenzlinie am feindwärtigen Kanalufer, die Sperranlagen waren am freundwärtigen aufgestellt. Ca. 50 Meter vom Turm verlief die Grenze in südliche Richtung, sich vom Teltowkanal entfernend und zum Hinterlandszaun eine Freifläche bildend, die mit einer Vielzahl Signalgeräte bestückt war.

Die Spanndrähte verliefen kreuz und quer. Wäre dort ein Grenzverletzer hindurch gelaufen, er hätte ein Feuerwerk entfacht, wie es bei einer Silvesterfeier nicht hätte besser sein können.

Auf der rechten Seite war zwischen Hinterlandszaun und Str. C ein Getreidefeld angelegt worden. In der Mitte des Feldes, parallel zum Hinterlandszaun, befand sich, unsichtbar von der Straße und vom Grenzabschnitt, eine Trasse mit drei Hunden am Laufseil.

Während eines Nachtdienstes erzählte mir ein Kamerad: „Ich war Kommandeur dieses Gruppenabschnittes, als ein Stern rot am Himmel, rechts der Wredebrücke leuchtete“. Das bedeutete: "Kommandeur zur Grenze". Mein Posten, genannt "Sony Listen", so groß wie ein Zwerg, warf das Motorrad an (sehr oft auch um, weshalb ich meist auch selbst gefahren bin!). Mit maximaler Geschwindigkeit, auf schmalen Stegen, erreichten wir den Posten. Die Meldung: „Geräusche im Getreidefeld Orientierungspunkt eins, 50 Meter näher“. Dunkelheit, trübes Wetter, geringe Sichtweite, wer will unter diesen Umständen ein Getreidefeld durchsuchen? Wir pirschten uns vorsichtig in die angegebene Richtung, ohne das Feld zu betreten. Absolute Stille! Zur Sicherheit des Postens besetzten wir den Zwischenposten. Damit erhöhten wir die Chancen des Postens und die eines möglichen Grenzverletzers waren gleich null.

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