Gesammeltes Schweigen

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1.3 Leben zwischen den Ideologien

Mein Hang zur Natur zeigte auch in der Schule Wirkung. Als in der 5. Klasse das Fach Biologie in den Lehrplan aufgenommen wurde, war ich kaum zu schlagen. Zu gerne hätte ich ein Mikroskop besessen, um die Experimente, die wir in der Schule machten, zu Hause fortführen zu können. So konzentrierte sich meine Tierliebe auf die Tauben, Hühner, Kaninchen, Wellensittiche und vor allem auf meine Aquarien. Obwohl ich gerne Hühner- und Taubenbraten aß, konnte ich es nicht ertragen, wenn die Tiere geschlachtet werden sollten.

In unserem Nachbarhaus, im Erdgeschoss, wohnte ein älterer, einfacher Mann bei seiner alten, betagten Mutter. Er hieß Wunderow und war ein begeisterter Aquarianer. Er besaß mindestens zehn Aquarien, die mit unzähligen roten und grünen Schwertträgern und Guppys aller Arten und Zuchtrichtungen bevölkert waren. Einige seiner besten Fische schenkte er mir regelmäßig, um mir Gelegenheit zur Nachzucht zu geben. So wurden wir Freunde. Wir trafen uns oft, denn er erwartete mich schon am Fenster seines Wohnzimmers. Gesprächsstoff hatten wir immer, denn über Zierfische zu reden, ist ein unerschöpfliches Thema. Als seine alte Mutter starb, hatte er sich dem Alkohol ergeben. Tief erschüttert war er vom Verhalten seiner Schwester aus Westberlin (die Grenzen waren noch offen!), die es nicht für nötig hielt zur Beerdigung zu erscheinen. Oft stand er weinend am Fenster und trank dabei “seine kleine Flasche blauen Würger“. Ein wenig später fand er eine Frau. Diese hatte zwei erwachsene Töchter, um die sie sich besonders kümmerte. In der bescheidenen Wohnung kehrte Ordnung ein - und die Fische verschwanden und somit sein letztes Vergnügen. Abends, am Fenster stehend, klagte er mir sein Leid. Er fühlte sich überflüssig und unverstanden und klagte: „Meine Schwester werde ich wohl nicht wieder sehen“ (Ja, jetzt waren die Grenzen geschlossen). Der Kummer und der Alkohol machten ihn kaputt. Später, an seinem Grab, stand dann endlich seine reiche Schwester aus Westberlin. Er aber starb so, wie er immer war, als ein armer, bescheidener Kerl.

Seine Sachen wollte niemand. Die wanderten alle auf den Müll, einschließlich einiger Aquarien, die man noch im Keller fand.

In der Schule gab es einige strukturelle Veränderungen. Wir bekamen einige neue Lehrer, aber auch einige Mitschüler verabschiedeten sich. Zum Teil gingen sie mit ihren Eltern in den Westen. Dann gab es keine Gelegenheit sich zu verabschieden. Wer noch Gelegenheit dazu hatte, sich zu verabschieden, zog garantiert in eine andere Stadt innerhalb der DDR. So auch mein Klassenkamerad Martin B. Er wurde Kadett. Die Kadettenanstalt, einzigste Einrichtung dieser Art in der DDR, befand sich in Naumburg. Stolz und von dem Willen beseelt ein guter Flieger zu werden, zog er von Dannen. Auch Angelika W. verabschiedete sich. Sie sollte im Fernsehen der DDR eine bekannte Nachrichtensprecherin werden, während Martin kein Glück hatte. Die Kadettenanstalt wurde nach kurzer Zeit, als misslungenes Experiment, wieder geschlossen. Obwohl sie in langer Tradition stehend, auch gute Heerführer hervorbrachte, war sie nach Ansicht der Partei- und Staatsführung mit den sozialistischen Grundgedanken nicht vereinbar. Sie wurde in eine Weiterbildungseinrichtung und später als Fremdspracheninstitut der NVA umfunktioniert.

Von der zweiten Klasse an verbrachte ich einen großen Teil meiner Sommerferien in Schortewitz, im Geburtshaus meines Großvaters bei dessen jüngerer Schwester. Diese hatte im Krieg ihren Sohn verloren und wenig Jahre später, zu Beginn der fünfziger Jahre, ihren Mann. Alle nannten sie Tante Minna. Sie war eine herzensgute Frau mit schlohweißen Haaren.


Alte Ansichtskarte von Schortewitz

Wir bekamen eine neue Klassenlehrerin, eine junge Frau mit großen Plänen. Leider konnte sie sich nicht durchsetzen. Schwammschlachten während des Unterrichtes, die auch die Bilder an den Wänden nicht ungeschoren ließen, führten dazu, dass unsere Leistungen ins Bodenlose sanken.

Als dann sogar Eierkohlen zu Wurfgeschossen wurden, die Lehrerin in Tränen ausbrach und jeder tat, was er wollte, musste eine harte Hand her. Es kamen gleich zwei, besser vier. Zwei Lehrer, in eingefärbten Stiefelhosen, Chromlederstiefeln und statt der üblichen Aktentasche trugen sie eine KVP (NVA)-Kartentasche.

In der Schule begann eine neue Ära, geprägt von zwei gedienten Ex-Offizieren, Jansen und Schnittke. Dazu aber später.

Die neue Ära begann mit der Abberufung der Direktorin, Frau Engels. Eine engagierte Frau verließ die Schule und die Gemeinschaft der Lehrer begann zu bröckeln. Die von ihr mit viel Enthusiasmus gegründete Schalmaienkapelle löste sich in Wohlgefallen auf. Die nach gut bürgerlichem Stil gehütete Aula (als letzter Bauabschnitt des Wiederaufbaus der Schule fertig gestellt) wurde zur profanen Turnhalle umfunktioniert. Der Hausmeister zog mit seiner Familie aus der Kellerwohnung in einen Neubau. In den ehemaligen Wohnräumen kam der technische Teil der Zentralheizung, so dass die Kohleöfen in den Klassenräumen ihre Funktion verloren. Weiter wurden Klassenzimmer speziell für den Physik- und Chemieunterricht eingerichtet, die man heute sicher Lernkabinett oder ähnlich bezeichnen würde.

Ich kam in die 5.oder 6. Klasse, als diese Maßnahmen (einschließlich neuer Fahrradaufbewahrungsplatz mit Parkkarte) fertiggestellt waren.

Der Unterricht plätscherte so dahin. Die Lehrerin spulte den Lehrstoff ab, immer in der Angst, dass einer ausrasten und durch grobes Verhalten den Unterricht stören könnte. Wie grausam wir sein konnten, kam mir erst viel, viel später zu Bewusstsein, denn unser Fräulein Schmiedes wollte uns ja nur etwas beibringen, uns auf die Zukunft vorbereiten und wir haben uns benommen wie eine Rotte Wildschweine. Wir hatten nichts begriffen, sondern die junge Frau gequält und zur Verzweifelung getrieben, weil sie unser Bestes wollte. Dafür sollten wir uns schämen.

Einer unserer Mitschüler hatte sich wieder einmal so recht daneben benommen und wurde durch unsere Lehrerin, unter dem Gejohle der Klasse, des Raumes verwiesen. Er ging mit höhnischem Grinsen und mit dummen, beleidigenden Worten auf den Flur. Dabei knallte er die Tür so zu, dass die Zarge bebte. Das Geräusch war noch nicht verklungen, da sprang die Tür wieder auf und unser Mitschüler flog, sich überschlagend, zurück in den Klassenraum. Schneller als er kam einer der neuen Lehrer in Stiefelhosen in den Raum. Er stand schon am Lehrertisch, die Arme vor der Brust verschränkt, da saß unser Mitschüler noch verwirrt auf dem geölten Parkettfußboden. Die Klasse war erstarrt. Es war still, so still, dass es unheimlich wurde.

„Schade“, sagte der "Neue"; „das ich mich auf diese Weise vorstellen muss“. „Ich bin euer neuer Klassenlehrer, Fräulein Schmiedes übernimmt eine Klasse der Unterstufe. Dass, was ich hier heute erlebt habe, will ich nie wieder erleben und die Rolle rückwärts eures Mitschülers sollte allen Mahnung genug sein“. Die Entschlossenheit des “Neuen“ beeindruckte alle und nie wieder gab es ähnliche Vorkommnisse und entsprechende Reaktionen durch einen Lehrer.

Der Grundstein für eine gute, effiziente Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler war gelegt, zwar sehr ungewöhnlich, aber wirkungsvoll.

Wir wurden zu einer guten verschworenen Gemeinschaft, die bis zum Ende der 8. Klasse bestand.

Ab sofort zählte nicht mehr das größte Maul, die unflätigste Bemerkung und der schnellste Hieb, sondern schulische Leistung, Gemeinschaftssinn und echter Humor und Witz.

Herr Hansen, der neue Lehrer, erwarb mit Riesenschritten unser Vertrauen. Seine Gabe, war die genaue Beobachtung und Einschätzung unseres Verhaltens. Das führte nicht nur dazu, dass jeder einen treffenden Spitznamen erhielt, sondern er packte fast jeden an dessen Schokoladenseite, um die vorhandenen Leistungsfähigkeiten freizusetzen, die dann in guten Noten ihren Ausdruck fanden.

1962. Neunte Klasse. Angeregt durch meine große Liebe, Renatchen, lernte ich, mit zaghaften Schritten, politisch zu denken. Die Zeitung las ich aufmerksamer, stöberte in Vaters großen Bücherschrank nach politischen Schriften von Marx und Engels und kaufte hin und wieder die Tageszeitung "Junge Welt", für junge Leute gemacht. Wir gingen auch ins Kino, was mir des Glaubens wegen, eigentlich verboten war, aber ich setzte mich darüber hinweg. So erschloss ich mir eine „neue" Welt, die für Renate ganz alltäglich war.

Seit den Grenzbefestigungen vom August 1961 war noch nicht ein Jahr vergangen. Die unmittelbare Kriegsgefahr und die Flüchtlingsorgie des Kalten Krieges waren vorbei. Die Enttäuschten, Verbitterten, Enteigneten oder die aus falschen, nichtigen, egoistischen Gründen die DDR verlassen hatten, füllten nicht mehr die Auffanglager des Westens, fütterten nicht mehr die westlichen Geheimdienste mit Informationen, feilschten nicht mehr um die Anerkennung als politische Flüchtlinge.

Bei uns, den bodenständigen, den Hierbleibern blühte der illegale Handel mit der so genannten “Schundliteratur“. Für die Hefte von "Tom Brox", "Billy Yenkiens", "Mickey Maus", "Fix & Foxi" und wie sie noch hießen, stieg der Preis, weil der Nachschub aus Westberlin ausblieb. Die noch im Umlauf waren wurden immer unansehnlicher, weil sie von Hand zu Hand gingen. Echte Jeans waren absolute Mangelware und wurden jetzt mit ca. 200,- MdN gehandelt. Eine Grabesstille war jedoch nicht ausgebrochen. Im Gegenteil, der Staat blühte auf. Die Gesellschaft bewegte sich und wir jungen Leute strebten nach sinnvoller Diskussion und Betätigung. Die Schule war nicht mehr ein Ort der Qualen, sondern auch Treffpunkt am Nachmittag. Wir leisteten auch einen Beitrag, in dem wir den noch gut erhaltenen Keller unserer, nur zur Hälfte wieder aus - und aufgebauten Schule in Beschlag nahmen und den Ruinenteil zum Schießstand ausbauten. Bürokratische Hürden brauchten wir nicht zu überspringen, denn es war Aufbruchsstimmung. Die Schalmeiengruppe wurde wieder gegründet. Im Sport bestimmten Schul- und Kreiswettkämpfe der Leichtathletik, sowie Pionierfriedensfahrten das Geschehen. Der besten Schule winkte ein Ferienlager, drei Wochen in Ungarn. Die Sieger hatten 30,00 MdN zuzuzahlen.

 


Unsere Klasse 1962/63

In den Sommerferien gingen wir arbeiten, maximal drei Wochen waren erlaubt und schnell 500-600 MdN hinzu verdient. Ich arbeitete in einer Privatbrauerei, füllte Flaschen ab und vertrat den Haus - und Hofarbeiter. Renate betreute jüngere Schüler bei den Ferienspielen.

Die Stimmung unter meinen zeitweiligen Kollegen war gut. Es blieb noch Zeit für einen Schwatz, und auch gutwilligen Scherzen war man nicht abgeneigt. Der Heizer bereitete Brühpolnische Würste in der heißen Asche zu und auch der Bäcker an der Ecke sah uns jeden Tag. Wen der Hunger besonders plagte, der konnte auch ein warmes Mittagessen bestellen (Preis: 1 MDN).

Auf gute Musik verzichtete ich auch nicht. Da ich gern mit alten Radios experimentierte, hatte ich mir auch einen alten Volksempfänger (Geobbelsschnauze) flott gemacht. "Radio Luxemburg" war damit nicht zu empfangen, da dieser Sender über Kurzwelle im 41 oder 49 Megaband ausgestrahlt wurde und die G.-Schnauze nur in der Lage war, Mittelwelle zu empfangen. Dafür konnte ich den "Freiheitssender 904" und den "Soldatensender 935" störungsfrei empfangen. Beide Sender waren für Menschen in der BRD gedacht. Ein offenes Geheimnis war es, dass die Programme von Spezialisten der DDR gemacht und aus Burg, bei Magdeburg, in die BRD gesendet wurden. Für mich war der Empfang wichtig, weil über diese Sender immer die aktuellsten Lieder der Hit-Paraden gespielt wurden und man mitreden konnte, wenn die "Luxemburg-Hörer" diskutierten. Interessant waren auch die Probleme, mit denen sich die "Westdeutschen" herumschlagen mussten. Hier wurden sie ungeschminkt dargestellt und Lösungswege aufgezeigt. Der Freiheitssender lief seit 1956 und war eine der Antworten auf das Verbot der KPD in Westdeutschland. Die Sendungen erfolgten stundenweise (etwa zwei Stunden täglich) und begannen nach minutenlanger Kennung (hier ist der deutsche "Freiheitssender 904") mit der Eröffnungsmelodie "Freude schöner Götterfunken". Manches Mal wurden die Sendungen durch konspirative Meldungen unterbrochen (z.B.: Hase ruft Igel, der Fuchs hat die Tasche vergessen). Seit 1960 liefen die Sendungen des Soldatensenders etwas mehr als zwei Stunden täglich. Eine kurze Sendung am frühen Abend und eine in der Nacht jeweils eingeleitet mit mehreren Paukenschlägen und der Nennung des Sendernamens. Auch hier war die aktuelle Musik der Hitparaden zu empfangen. Dieser Sender hatte sicher gute “Westkontakte“, denn er sprach die Probleme der Soldaten genau an. Namen, Einheitsbezeichnungen und die Kasernennamen blieben den Hörern nicht verborgen und machten den Wahrheitsgehalt der Sendung perfekt. Sogar Warnungen vor Alarmüberprüfungen gehörten zum Programm. Das muss dem Militärischen Abschirmdienst der BRD auf dem Magen gelegen haben. Mir war es egal. Zuerst interessierte mich nur die Musik, dann die Problematik. Diese Sender waren meine Begleiter, bis ich meinen Dienst in der NVA begann und dann wieder an der Offiziersschule, wo die Programme sehr gut zu empfangen waren. Leider waren beide Programme im Berliner Raum durch den amerikanischen Sender AFN überlagert und für mich unerreichbar. Schade eigentlich, denn die sozialkritischen und Antikriegslieder und die Kennung über Probleme in der Bundeswehr habe ich schon vermisst. So habe ich auch das Ende dieser Sender nicht mitbekommen. Ich glaube, diese haben ihr Wirken zu Beginn der siebziger Jahre, im Ergebnis des Grundlagenvertrages zwischen der DDR und der BRD eingestellt. Heute vermisse ich einen Rundfunksender, der ungeschminkt die Probleme aufzeigt und den arbeitenden und um seine Rechte kämpfenden Menschen Orientierung gibt. Ein Sender tut Not, der sich wohltuend von den dümmlichen, dudelnden und verblödenden Sendungen der aktuellen Funk- und Fernsehsender unterscheidet und nicht nach den Prinzipien eines Propagandisten namens Goebbels handelt, der einst forderte: „Das Programm des Rundfunks muss so gestaltet werden, dass es dem anspruchlosen Geschmack gefällig und verständlich erscheint.“ Nun schnell zurück in die gewählte Zeitleiste anfangs der sechziger Jahre:

In der SED- und Staatsführung tat sich auch Einiges. W. Ulbricht (seit 1950 Generalsekretär der SED; am 08.04.1971 von dieser Position entfernt) leitete eine wichtige Wende ein. Er war zunehmend bestrebt, Ingenieure, Wissenschaftler, Wirtschaftsfachleute, Spezialisten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

Das entwickelte gesellschaftliche System wurde geboren. Die Kybernetik, Informationstheorie und die elektronische Datenverarbeitung spielten eine bedeutende Rolle. Man analysierte die Entwicklung des Landes seit 1945 und stellte fest, dass erfolgreich gearbeitet worden war. Dabei blieben Mängel, insbesondere in der Wirtschaft, nicht verborgen.

In der Sowjetunion hatte sich unter der Führung Chruschtschows (von Januar 1956 bis Oktober 1964 1. Sekretär des ZK der KPdSU) auch so manche Starre gelöst. Kommunistische Theoretiker sehen heute (von mir nicht verstanden) in Chruschtschows Politik die Anfänge des Untergang des sozialistischen Weltsystems. Sowjetische Wirtschaftswissenschaftler, einer besonders, Liebermann, diskutierten Reformen, um die sozialistische Wirtschaft zu vervollkommnen, sie zum Wohle der Menschen, effektiver und gewinnbringender zu gestalten. Obwohl man in der Sowjetunion diese klugen Gedanken nicht aufgriff, entschloss man sich in der Führung der DDR diese, gepaart mit den eigenen Erfahrungen, in Grundsätze für ein neues ökonomisches System (NÖS) der Planung und Leitung der Volkswirtschaft zu fassen. Besonders hervorgetan hatte sich dabei Erich Apel. Dieser Mann, einst Raketenspezialist und enger Mitarbeiter Werner von Brauns in Peenemünde (Raketenversuchsanstalt der Deutschen Wehrmacht), baute von 1945/46 bis 1952 Raketen in der Sowjetunion und war ab 1958 Vorsitzender der Wirtschaftskommission der Partei. Mit Männern, wie G. Mittag, W. Halbritter, Prof. Reinhold, H. Weiz u.a., zu dieser Zeit reformbereiten Mitstreitern, begann er die Ausarbeitung der neuen Wirtschaftsstrategie. Diese wurde auf dem VI. Parteitag der SED, im Januar des Jahres 1963, von W. Ulbricht offiziell bekannt gegeben und in der Wirtschaft der DDR eingeführt. Hatte die Vormachtstellung der Schwerindustrie, bei Minderung des Lebensstandards, wie in der Sowjetunion der 1950er Jahre dem Stand der Entwicklung entsprochen, so benötigte man in der Zeit der Wissenschaftlich-Technischen-Revolution (WTR) ein flexibleres System, nämlich das NÖS. Das bedeutete, dass grundsätzliche Entscheidungen und Planvorgaben zentral getroffen, übriges dezentral entschieden und unter Eigenverantwortung der Betriebe und deren Spezialisten geplant und umgesetzt werden sollte. Dies war insbesondere notwendig, um den erhöhten Konsumtionsbedürfnissen aller Bürger gerecht zu werden, die auch das Lebensniveau in der BRD sahen und ihr Heimatland danach maßen. Da der Gewinn von erstrangiger Bedeutung war, mussten auch flexible Preise her, um einen Druck auf die Selbstkosten zu erzeugen und um sich den Weltmarktkosten zu nähern. Diese realitätsnahen Vorstellungen führten zu Konflikten, die durch die Gegner des NÖS, die teilweise auch an der Spitze der Partei- und Staatsführung zu finden waren, als Munition verwendet wurde. Mit primitiven und listigen Attacken ging man gegen die Männer um Apel vor. Auch G. Mittag wurde vom Macher zum Kritiker, zum Gegner, sicher weil der Segen aus Moskau ausblieb.

Selbst W. Ulbricht, einst begeistert, stimmte in die Kritik ein. Das NÖS blieb unvollendet.

Somit wurde wieder eine reelle Chance vertan, die Ökonomie der DDR stabil und effizient zu gestalten. Wenige Tage vor der 11. Tagung des ZK der SED, das die "kritische" Abrechnung bringen sollte, erschoss sich E. Apel in seinem Dienstzimmer (03.12.1965).

Mit dem NÖS, etwa im Juni/Juli 1963, formulierte die SED-Thesen für eine neue Jugendpolitik. Die Grundthese: Der Jugend Vertrauen und Verantwortung, Spaß und Lebensfreude. Das Jugendkommunique wurde beschlossen und bekannt gemacht.

( Beat-) Gitarrengruppen wurden gegründet und gefördert, die Weltfestspiele der Jugend und Studenten wurde vorbereitet, Jugendclubs gegründet, ein Jugendradio wurde geboren und vieles andere mehr.

Die Veränderungen in der Wirtschaft, der Jugendpolitik, der Kultur und bei der Rechtsordnung führten zu mehr Demokratie, frei nach dem Marxschen Lehrsatz: Mit zunehmenden Sozialismus muss die Rolle des Staates abnehmen. Doch dann kam im Dezember 1965 das 11. Plenum. Als Wirtschaftsplenum gedacht, wurde es zu einer Kulturtagung. Führende Politiker, aber auch Künstler, sprachen über ihr Verständnis zur Kultur und Kunst. In Wirklichkeit bekämpften die Reformgegner all die Personen, die in irgendeiner Art und Weise Reformen erdacht, in Bewegung gebracht oder unterstützt hatten. Man schlug die Mitstreiter und wollte sicherlich W. Ulbricht treffen, der sich geschickt unter die Kritiker mischte und sich somit aus der Schusslinie brachte.

Es wurde aufgerufen zum Kampf gegen:

 Rowdygruppen;

 Skeptizismus und Zweifel;

 kleinbürgerliche Sozialismusauffassungen;

 Untergrabung des Ansehens der Justizorgane und

 Entfremdung des Einzelnen von seinem Staat.

Im Ergebnis dessen, wurde stillschweigend das NÖS zurückgeschraubt, Bücher bekannter Autoren nicht verlegt. Filme, wie "Spur der Steine", "Das Kaninchen bin ich" und "Denk nur nicht ich heule" wurden nicht in den Kinos gezeigt. Sicher sind noch viel mehr Dinge geschehen, die aus meiner Perspektive nicht zu erkennen waren und über die auch hinter vorgehaltener Hand nicht gesprochen wurde. Einen großen Teil der hier aufgeführten Zusammenhänge hatte ich erst viel später begriffen.

Es sollte aber doch noch eine Gemeinschaft für mich geben, die Kirche. Die einfachen Menschen dort waren familiär, vorbildhaft und menschliche Wärme ausstrahlend. Sie gaben uneigennützig Rat und gegenseitige Hilfe. Man war nett und freundlich zu jedermann. Die Glaubenszugehörigkeit dieser Menschen, zu denen der größte Teil meiner Angehörigen gehörte, führte zu einer Spaltung der Seele, da sie sich zu einer "ausgewählten" Schar zählten, welche bei der Rückkehr Jesu bevorzugt behandelt werden würden. Alle anderen Menschen seien Weltmenschen, dem ewigen Verderben preisgegeben. Das klang sehr gut und wer will nicht auch einmal etwas Besonderes sein. Gefördert wurde dieses Geborgensein durch die Glaubenslehre, Kirchenstruktur und einfachen Sinngebungsangeboten, wie ewiges Glück und Freude und Erlösung von allen Übeln, wofür man allerdings etwas zu tun hatte.

Also ging es zwei bis dreimal wöchentlich in die Kirche. Zuerst auf dem Arm, dann an der Hand der Eltern, später allein. Freiwillig.

Die Kirche war kein Prachtbau, auch nicht alt und majestätisch, eher schlicht und zweckmäßig eingerichtet. Die breite Treppe führte in einen Vorraum, von dem links und rechts einige kleine Räume eingerichtet waren. Das war der Raum für Mütter mit Kleinkindern, der für die Priester und Diakone, die Garderobe und anderes mehr. Danach betrat man den eigentlichen Kirchenraum, eingerichtet für 300 bis 400 Menschen. Rechts und links der Eingangstür waren Holzkästen angebracht. Dort konnte jedermann seine Opfer/Spenden hineintun. Dunkelbraune klobige Bänke, zweireihig angeordnet, einen Mittelgang, sowie rechts und links einen Gang freihaltend, füllten den Raum. An der Stirnseite stand der Altar. In dessen Mitte befand sich das Kreuz auf einer Schale mit der aufgehenden Sonne. Einen, der im Laufe der Jahre aufgestellten Altare hatte mein Großvater G. gebaut, der von Beruf Tischler und Stellmacher war und als Technologe im Waggonbau arbeitete. Große Fenster ließen viel Licht in den Raum. Dem Altar gegenüber befanden sich die Emporen, deren Mitte von einer großen Orgel ausgefüllt war. An der hohen Decke hingen hohe Holzleuchter mit Neonröhren, die später entfernt wurden, da seitlich strahlendes, indirektes Licht modern wurde.

 

Man redete sich mit "Bruder und Schwester" an, was mir anfangs unverständlich war, denn ich hatte nur eine Schwester, geboren am 25.02.1949, im Gründungsjahr der DDR.

Ich glaubte, dass es einen Gott gibt, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Dieser hat einen Sohn mit Namen Jesus, der geboren wurde in Bethlehem, und den er am Kreuz sterben ließ, für die Sünden der Menschheit und um die gläubigen Menschen an einem, noch unbekannten Tag, zu erlösen. Der damalige Stammapostel, er hieß wohl Bischhoff, behauptete, dass dies bis zu seinem Tode passieren sollte. Zum Weihnachtsfest 1951 verkündete er: „Ich bin der Letzte und nach mir kommt keiner mehr ... und zum Zeichen sollt ihr das haben, dass der Herr zu meiner Zeit kommt, um die Seinen zu sich zu nehmen...“.

Er starb am 06. Juli 1960 und nichts passierte! Mein Glaube wurde so erstmals kräftig erschüttert. Gott, der Schöpfer, hatte den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies zur Verwaltung der Erde eingesetzt, damit er sie bebaue und bewahre. Mit den zehn Geboten hat Gott seine Gesetze übergeben, wo unter anderem zu lesen ist:

„Du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht töten, nicht deines Nächsten Eigentum begehren. Du sollst deine Eltern ehren...“

Der Mensch kann im Unterschied zum Tier denken und Gott hat ihm dazu einen freien Willen gegeben, damit er entscheide, zwischen Gut und Böse. Zu oft wurde nur von "den Anderen" das Gute verlangt, nur selbst nahm man es nicht so genau. Es war wie überall im Leben, oft siegte ungestraft das Böse in und zum anderen Menschen.


Unsere Jugendweihe 1961

1961 war ein ereignisreiches Jahr. Im April hatte ich Jugendweihe. Im Vorjahr begannen schon die monatlich organisierten Veranstaltungen, wie Vorträge über den Sinn des Lebens, Theaterbesuche, eine Fahrt nach Jena zum neuen "Zeiss-Plenatarium", der Besuch der KZ-Gedenkstätte Buchenwald und vieles mehr. Der abschließende Höhepunkt fand dann am 02.04.1961 im Landestheater statt. Die Jugendlichen auf der Bühne, Eltern, Verwandte und Freunde im Parkett.

Neben guten Worten gab es ein Buch mit dem Titel "Unsere Welt von Morgen" und eine Urkunde. Mit diesem Akt war ich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen.


Gelöbnis

In gleicher Art und Weise, wie es die Freidenker vor über 70 Jahren taten (was nach 1989 niemand mehr wissen wollte). Einige Wochen später (oder früher?) hatte ich Konfirmation. Auch dort Vorbereitung auf das Leben: Konfirmantenstunde. Der Durchführende, ein netter, erfahrener Priester - fast schon im Ruhestand - gab sich große Mühe uns das Buch "Fragen und Antworten über den Glauben" zu erläutern. Dann kam der Tag der Konfirmation. Als Zeichen, dass im Haus ein Konfimant war, hatte ich einen etwa 40 cm breiten und 3-4 m langen Streifen aus feinem Sand auf dem Gehweg angelegt und mit kleinen Tannenzweigen geschmückt. (Die Konfirmation wurde so öffentlich gemacht und musste nicht, wie die Geschichtsfälscher von heute behaupten, heimlich stattfinden.) Die Kirche war zum Bersten voll. Im Verlaufe der Zeremonie traten wir vor den Altar und legten ein Gelübde ab. Es lautete in etwa „Ich entsage des Teufels Werk und Wesen und übergebe mich dir, dreieiniger Gott im Glauben dir treu zu sein, Amen“. Das war ebenso ein Schwur, an den man sich ein Leben lang erinnern sollte. Um die magische Funktion dieses Gelübdes zu erhalten, wurde man oft daran erinnert, nach dem Motto: „Ein gebrochenes Versprechen ist wie ein gesprochenes Verbrechen“. So wurde ein ständiger Druck aufgebaut, der dazu führte, keine Veranstaltung zu versäumen, diszipliniert den Glaubensgesetzen zu folgen und alles kritiklos in sich aufzunehmen, was vom Altar gesprochen wurde. So wurden Autoritäten geschaffen, welche die Autorität des Elternhauses ersetzte.

Um überhaupt eine Chance zu erhalten, der Erlösung teilhaftig zu werden, wurden alle Aufträge gewissenhaft und bestens erfüllt. Das bedeutete viel Zeit und Kraft "Gottes Werk" zu opfern. Sonntags drei mal zur Kirche, Dienstags Chorprobe am Abend, Mittwochs 19:30 Uhr Kirche, Donnerstags Besuche bei anderen Gläubigen, so verliefen die Tage, Wochen und Monate. Ich hätte auch gerne einmal etwas anderes getan, wie z.B. mit den Klassenkameraden ins Kino oder Theater zu gehen, aber das war unmöglich, denn ein "Gotteskind" tut so etwas nicht. Freiwillig ordnete ich mich unter, zeigte Glaubensgehorsam. Das bedeutete, dass man eigene Wünsche, Vorstellungen und Gefühle zu unterdrücken bzw. zu verdrängen hatte. Das fiel dem Einzelnen überhaupt nicht auf, denn in der Gemeinschaft der "treuen Seelen" ging es den anderen ebenso. Die Regeln für das Verhalten waren nirgends fest geschrieben, sie wurden von den älteren einfach vorgelebt und durch das oftmalige Anhören von Predigten so verinnerlicht, dass sie zur Gewohnheiten wurden, und über die man nicht mehr nachdachte. Sie wurden zu einer göttlichen Ordnung, die zu verletzen, Sünde war.

Wie schon berichtet, wurden die Sonntage ausschließlich durch die Gottesdienste bestimmt. Das lief wie folgt ab:

- 08:00 Uhr aufstehen (ich war der Letzte!);

- Striegeln und Bügeln (Morgentoilette);

- Sonntagssachen anziehen (das Beste);

- frühstücken;

- 08:30 Uhr Abmarsch der Familie;

- 09:00 Uhr Ankunft in der Kirche

(man sollte 20-30 Min. vor Beginn des Gottesdienstes anwesend sein);

- 09:30 - 10:45 Uhr Gottesdienst;

- 10:50 - 11:20 Uhr Rückmarsch

(bis zur Konfirmandenzeit 11:15 - 12:15 Uhr Kindergottesdienst);

- Mittagessen (von Mutter vorbereitet und von Opa H. vollendet);

- Ruhe bis 14:00 Uhr, dann Abmarsch etc. p.p.

- 16:30 waren wir wieder zu Hause und der Sonntag konnte beginnen.

Alles war eine Hetzerei, die wir aber gar nicht als solche empfanden, außer Mutter, denn sie war am meisten belastet, besonders in der Zeit, als wir noch klein waren.

Da ich aber auch in der Pionierorganisation aktiv war, später in der Gesellschaft für Sport und Technik und in der FDJ häuften sich die Widersprüche mehr und mehr. Anfangs plagte mich immer das schlechte Gewissen, wenn es mich zu den Klassenkameraden zog.

1962 gab der Nachfolger vom Stammapostel Bischoff die Losung heraus, dass im Laufe des Jahres Jesus kommen solle. Er bezog sich dabei auf die Bibeltexte der Offenbarung 14 und 15. Das Jahr verging und wieder kam die "Erlösung" nicht. Jetzt entstand ein gesundes Misstrauen in die Worte derer, die bislang als unanfechtbar galten, deren Rat Gesetz war, deren Worte als die absolute Wahrheit anzusehen waren.

Gut, bei der Masse der Amtsträger stimmten Wort und Tat überein, doch bei einer nicht geringen Anzahl eben nicht. Das war beim Abendmahl - eine Zeremonie des Gedenkens und der Sündenvergebung zu erkennen. Vorher bedrückt und hinterher sichtlich erleichtert, mussten sie eine Menge Schuld auf sich geladen haben. Sie waren eben auch nur Menschen - keinesfalls unanfechtbar.

Damit die "Welt" nicht ins Haus kam, hatten wir nur ein altes Radio, Typ "Blaupunkt", ein ehemals modernes und nicht gerade billiges Vorkriegsprodukt. Einen Fernseher hatten wir auch nicht, denn dieses Medium würde uns fremden Geistern ausliefern, so erklärte man uns.

Zum Fernsehen musste ich immer zu anderen Leuten gehen, die der Kirche nicht angehörten. Irgendwann, in 1963 oder 1964, hatte ich davon die Nase voll. Es gab Fernseher im Überfluss, was erstaunlich war, denn Konsumgüter waren in unserer Heimat oft Mangelware. So wurden erstmals in der DDR-Fernseher für drei Tage kostenlos zur Probe geliefert. Ich zog los und bestellte einen Fernseher auf Probe. Die Familie glaubte an einen Irrtum, als das Gerät geliefert wurde. Ich ließ ihn aufstellen (mit Tischantenne), und verkündete, dass "dieses Ding" nur noch bezahlt werden brauchte. Von der Werbeaktion wusste die Familie nichts. Den Eltern wäre es sehr peinlich gewesen, den Apparat zurück zu geben, also wurde er bezahlt, zuzüglich Dachantenne und Blitzableiter.