Wenn ich wär, wie ich nicht bin

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EINE FRANZÖSIN

Ich war etwa 11, als ich wieder einmal einen Sommer mit meiner Mutter im Schriftstellerheim am Schwielowsee verbrachte. Ich wollte mit meiner Freundin Ilona in diesem Jahr etwas ganz Besonderes unternehmen. Vielleicht wollte ich auch nur mein schauspielerisches Talent ausloten, jedenfalls beschloss ich bei einem Spaziergang die Chaussee entlang spontan als Französin aufzutreten. Innerhalb der Villa im Schriftstellerheim, vor all den Leuten, die mich seit Jahren kannten, ging das schlecht. Aber man könnte ja außerhalb des Grundstückes fremden Leuten begegnen.

Es dauerte auch nicht lange und unser Flanieren stieß auf die Neugier ebenso gelangweilter junger Motorradfahrer. Die hielten neben uns und wollten ein Gespräch anfangen.

Glücklicherweise sahen wir etwas älter aus und so glaubten sie meine Geschichte, dass ich, eine Französin, gerade frisch in Deutschland angekommen sei. Ilona erstarrte vor Schreck und ich hatte Angst, sie könnte uns alles vermasseln mit – was weiß ich – haltlosem Gekicher oder anderen verräterischen Äußerungen, so erklärte ich spontan, dass meine Freundin stumm sei und beeindruckte die Jungs mit meinem charmanten Akzent, den ich früher schon immer mal wieder ausprobiert hatte.

Wir verabschiedeten uns schnell, versprachen aber uns am nächsten Tag an gleicher Stelle wieder einzufinden. Ilona erklärte mich für völlig verrückt und ich ihr, dass sie morgen unbedingt wieder mitkommen müsse. Sie dürfe auch wieder schweigen. So zogen wir am nächsten Tag los.

Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten. Wahrscheinlich habe ich von meiner fantastischen französischen Heimat geschwärmt. Ilona verdrehte ab und zu französisch die Augen. Plötzlich hielt ein weiterer Motorradfahrer neben uns und verkündete, dass er eine tolle Überraschung für uns hätte. Französische Landsleute, mit denen wir uns am nächsten Tag treffen könnten. Tolle Überraschung. Ich wurde blass, versprach aber zu kommen.

Natürlich erschienen wir am nächsten Tag nicht. Stattdessen wagte sich einer der Jungs auf das Gelände des Schriftstellerheims und fragte nach der Französin. Keiner konnte ihm weiterhelfen. In dem Moment trat ich aus der Tür. Er sprach mich an, aber ich tat höchst erstaunt und behauptete, ihn noch nie gesehen zu haben.

»Ach, du meinst vielleicht meine französische Zwillingsschwester!?« Und ich erzählte ihm eine aufregende Geschichte von den Zwillingen, die als Babys getrennt wurden. Die eine, die mit dem Vater nach Frankreich ging und ich, die ich mit der Mutter in Deutschland blieb. Er schien nicht sehr überzeugt zu sein.

Meine Mutter war es, die mich mal wieder rettete. Eigentlich wollte mich ja unser Heimleiter etwas auflaufen lassen und sich unwissend stellen, aber weder er, noch meine Mutter, brachten es letztendlich übers Herz, mich hängen zu lassen. So kamen sie dazu und bestätigten meine abenteuerliche Geschichte.

Dann wurde der arme Junge des Hofes verwiesen und ich war vor einer Totalblamage gerettet.

Nachbars Sohn

Links die Schrankwand mit drei Büchern

in der Mitte steht der Tisch

dass die Sitzecke grad rumpasst

die Plasteblumen sehen aus wie frisch

wenn man Gläser nimmt, gibt’s Deckchen

dass es keine Ränder macht

und der Fernseher, der flimmert

bis Vater irgendwann erwacht.

Und draußen riechts nach Feuer

man fiebert, da vibriert die Luft

da ahnt man schon die Abenteuer

und Frauen mit verruchtem Duft

dahin geht manche Sehnsucht

verliert sich in der Nacht

ein Gutenachtkuss von Mama

dann wird die Türe zugemacht.

Morgens Müsli, für Vati Schinken

der trinkt den Kaffee im Stehn

zwei, drei Worte, wer was tun soll

weil wir uns erst abends sehn

Küsschen auf die linke Wange

nicht, wie man’s aus Filmen kennt

und man träumt von Marilyn Monroe

die man erst noch Mama nennt

RUMMELZEIT

Anfang der 60er-Jahre zog ein Rummel auf den Arkonaplatz im Prenzlauer Berg. Meine Freundin Ev und ich mussten natürlich unbedingt hin. Nicht wegen des Kettenkarussells oder des kleinen Riesenrads, was wahrscheinlich extra klein gehalten war, damit man in der Höhe nicht über die bewachte Berliner Mauer gucken konnte. Aber das reizte uns sowieso weniger.

Die Walzerbahn war es. Die Walzerbahn, bei der sich die Wagen auch noch um sich selbst drehten. Der Clou waren die dazugehörigen jungen Männer, die uns sehr beeindruckten, da sie während der Fahrt aufsprangen, kassierten und die einzelnen Wagen höchstpersönlich anschubsten. Die sahen fast alle auch noch gut aus, rochen nach Abenteuer, Reiselust und Verwegenheit. Was insofern komisch war, weil sich ihre Weltläufigkeit auf die Rummelplätze zwischen Suhl und Rügen beschränkte.

Trotzdem reizte es uns, vielleicht um irgendetwas zu finden, was wir selbst nicht benennen konnten. Meine Mutter bat mich, nicht hinzugehen, zumal sie wusste, dass sich auf dem Rummel immer ein Pulk von jungen Männern traf, vor denen man sich als junges Mädchen in Acht nehmen sollte. Das überzeugte mich nicht. Ich versprach ihr trotzdem, mich ihrem Wunsch zu beugen. Aber die Versuchung war zu groß. So zogen meine Freundin und ich heimlich los.

Obwohl wir Stunden damit verbracht hatten, uns schick zu machen, ignorierten uns die Jungs von der Walzerbahn. Stattdessen kamen jene Jungs, vor denen mich meine Mutter gewarnt hatte. Diese hatten zwar keine langen Haare, keinen Parka oder Jesuslatschen, damals für viele der Inbegriff der Anarchie. Sie machten durch ihr Auftreten Angst. Erst kamen ein paar dumme Sprüche, dann rückten sie schon als geschlossener Pulk näher an uns ran, mit anzüglichen Worten, denen wir noch nichts entgegenzusetzen hatten.

Nun sahen meine Freundin Ev und ich nicht wie 13 aus und bemühten uns auch älter zu wirken. Man glaubte uns die 15/16 Jahre sicher. Als die Jungs mit ihren »Späßchen« nicht auf die erwartete Reaktion stießen, sondern auf unsichere Gegenwehr, wurden sie grob.

Einer riss mir die Kette vom Hals. Die hatte ich gerade geschenkt bekommen, eine silberne Kette mit einem Käfig, in dem ein Vogel saß. Ich liebte sie sehr. Und ohne diese Kette hätte ich nicht nach Hause gehen wollen. Als alle Schreierei und Diskussionen nicht halfen, kam einer der Jungs mit dem Ultimatum, dass ich die Kette am nächsten Tag zurückbekäme, wenn ich nach der Schule in den Park gegenüber käme.

Was sollte ich machen? Ich willigte ein. Einen Tag konnte ich den Verlust der Kette vielleicht verbergen. Zuhause verschwieg ich mein Problem und verbrachte die Nacht damit, mehrere Gebete an sämtliche Götter zu schicken, dass ich ohne Probleme meine Kette zurückbekäme. Dann, so schwor ich, würde ich in meinem Leben nie wieder einen Rummel betreten.

Am nächsten Tag gingen wir heldenhaft zu diesem Treffen. Noch heute Dank an meine treue Freundin Ev, die am liebsten zu Hause geblieben wäre, mich aber nicht allein lassen wollte. Die Jungs erschienen wieder als feixende Horde, die um uns herumschlich, wie eine Löwenherde um die Gnus. Wir hatten schreckliche Angst, da im weiteren Umkreis kein Erwachsener zu sehen war.

Nach etlichen Annäherungsversuchen, die wir abzuwehren versuchten, hatten die Jungs begriffen, dass wir alles andere, als sich zierende Sexobjekte waren. Sie versuchten noch einen kleinen Vorstoß und verlangten, dass ich ihren Anführer küssen sollte. Es half nichts, ich musste es tun.

Da ertönten in der Ferne Stimmen und in noch weiterer Ferne eine Polizeisirene. Einem guten Einfall folgend, tat ich so, als würde ich einen Schreck kriegen und rief: »Oh Gott, jetzt hat meine Mutter doch die Polizei geholt!«

Da hatten es alle auf einmal sehr eilig. Und ich hatte meine Kette zurück. Total erleichtert rannten wir zu mir nach Hause. Dort erwartet uns schon meine Mutter mit diesem Blick, den ich bis heute nicht ertragen kann. Der Blick zwischen Enttäuschung und Verletztsein, den ich gerne gegen einen Wutanfall ausgetauscht hätte.

»Wo wart ihr?« Letzte Chance, die Wahrheit zu sagen. »Ach, nirgends, sind nur so rumgelaufen.« Chance verpasst, falsche Antwort. Als falsche Aussage erkannt. Noch einmal nachgefragt, wieder die Chance verpasst. Dann bekam ich die erste und letzte Ohrfeige meines Lebens. Ev erstarrte. Alles hätte sie erwartet, aber das nicht. Dabei zischte meine Mutter noch: »Ich weiß, wo ihr euch aufgehalten habt.« Ich kam nicht einmal dazu, darüber nachzudenken, woher sie das wissen konnte, fragte auch nicht. Der Schock saß. Ich heulte, rannte weg und Ev hinterher.

Danach sagte meine Freundin, dass ich eigentlich froh sein könne, denn bei ihren Eltern sei dieses Verhalten Alltag und sie viel zu tun hätte, sich über eine einzelne Ohrfeige aufzuregen. Geschämt haben wir uns trotzdem.

Nach einer Weile, ich war immer diejenige, die länger schmollte, kam meine Mutter in mein Zimmer. Ich erzählte ihr alles und wir lagen uns weinend in den Armen. Ihr tat alles ebenso leid wie mir. Es war die einzige, aber wohlverdiente Ohrfeige meines Lebens. Später gab meine Mutter zu, dass sie eigentlich gar nichts gewusst hatte und ihr nur mein auffällig unauffälliges Verhalten aufgefallen war.

Eine Mutter sieht so etwas eben.

UNTERM MAGISTRATSSCHIRM

Wenn mich einer fragt, was ich an Berlin am meisten liebe, fallen mir nicht die Rathauspassagen, der Fernsehturm oder die gewiss sehr imposanten neuen Hotels ein, sondern die Schönhauser Allee. Nicht deshalb, weil ich Häuser mit Vergangenheit den Neubauten vorziehe. Jedenfalls nicht nur deshalb.

 

Wenn ich in die Schönhauser fahre, und das tue ich in gewissen Abständen, bekomme ich dieses Herzklopfen, das alle Leute kennen, die nach längerer Zeit den Ort ihrer Kindheit besuchen. Das ist für mich die Schönhauser.

Als ich 8 war, sind wir hingezogen. Zwei Jahre später hatte ich meinen ersten Freund. Gerd Galantowitsch hieß er und ging, wie ich, in die 5. Klasse. Sein Vater besaß eine »Bügelanstalt« am Ende der Schönhauser. Ich stand oft vor dem Fenster und sah zu, wie er das dampfende, zischende Bügelding bediente, dessen richtigen Namen ich bis heute nicht weiß. Inzwischen ist eine Schnellreinigung an ihre Stelle getreten.

Auch den winzigen Gemüseladen gleich daneben gibt es nicht mehr, und nicht den dazugehörenden Lagerraum, in den ich mich mit meiner Mädchenbande flüchtete, verfolgt von Gerd Galantowitsch und seinen Freunden.

Die alte Ladenbesitzerin kannte uns alle, verteilte erst einmal Äpfel und vermittelte dann, als der Abgeordnete der Jungs ein Ultimatum stellte: »Entweder ist Kirsten wieder die Freundin von Gerd, oder wir warten vor dem Laden, bis die Mädchen rauskommen und verprügeln sie alle!«

Aber ich hatte meinen Stolz. Galantowitsch hatte tags zuvor mit meiner Todfeindin Renate zu lange gesprochen. Das forderte Rache. Die alte Gemüsefrau öffnete uns eine Seitentür zum Hof und wir entkamen.

Die kleinen Läden liebte ich besonders an der Schönhauser. Da gab es zum Beispiel die beiden Schwestern, denen die Drogerie gehörte. Ein winziger Kramladen, zu dem drei gefährliche Stufen hinunterführten. Öffnete man die Tür, schlug eine Glocke an, und die beiden Schwestern lächelten verbindlich. Immer bediente die Ältere die Kasse; die Jüngere holte die Kartons mit Waschpulver aus dem Lager und hielt ein kleines Schwätzchen mit den Stammkundinnen.

Ein paar Häuser weiter wohnte der Dichter, meine erste große Liebe. Heute wie damals sehe ich zu seinem Fenster hinauf, wenn ich dort vorbeigehe. Ich weiß auch die Stelle noch, wo ich am Straßenrand stand und mich aus Liebeskummer vor ein Auto werfen wollte, so, dass er’s sieht!

Außer einem wütenden Autofahrer ist nichts passiert. Für Momente klopft das Herz wie damals.

Manchmal gehe ich unter den Magistratsschirm. So nennen die Berliner das eiserne Gerüst, auf dem die U-Bahn hoch über der Schönhauser durch die Allee donnert. Dort warte ich, bis ein Zug kommt. Dann schreie ich, so laut ich kann, und genieße wie als Kind das Gefühl, dass keiner mich hört.

Frühling in der Schönhauser

Mich weckt das Lärmen der erwachten Stadt

der letzte Schnee ist heut schon erster Tau

der Frühlingswind, der fegt den Himmel glatt

und Regen wäscht den Morgen nebelblau!

Ich komm erwartungsvoll aus meinem Haus

und trage endlich wieder Minirock

die Nachbarin schaut aus dem Fenster raus

und unterhält sich mit der Frau vom vierten Stock!

Die Leute stehen an der Ecke Schlange

nach ersten Veilchen und Vergissmeinnicht

ich warte heut auf dich besonders lange

denn ohne Blumen kommst du sicher nicht!

DER MATHELEHRER

In der 8. Klasse bekamen wir einen neuen Mathelehrer, jung, schlank, gutgelaunt und gutaussehend. Wir Mädchen waren hin und weg. Sofort verbesserten sich unsere Zensuren in dem ansonsten eher verhassten Fach. Ich schaffte es, innerhalb eines Jahres von der 4, die ich meist nur mit Mühe erreichte, auf eine 3. Alles für ihn. Und die Aufregung vor oder nach seinem Unterricht. Wen von den Mädchen hatte er öfter angesehen und welches Mädchen gar nicht, was ja besonders auffällig war.

Das Beste: Er war nicht verheiratet. Das gab es doch immer mal wieder, dass Lehrer sich in ihre Schülerinnen verliebten. Aussichtslos schienen unsere Chancen also keinesfalls.

Aber wie ihm näherkommen? Da kam uns der Einfall, eine Party zu organisieren, zu der er eingeladen wurde. Ich flehte meine Mutter an, dass diese bei uns stattfinden könnte. Sie war einverstanden.

Die Vorbereitungen waren aufregend. Den Jungs aus unserer Klasse gingen wir mit unserem Getue ziemlich auf die Nerven, aber auch sie fanden die Sache toll. Nach etlichen Überredungsversuchen sagte Herr Meinhard zu. Meine Mutter versprach uns sogar ein kaltes Buffet und verabredete sich mit ihrer Freundin; dann hätten wir unsere Ruhe.

Am Abend der Party waren wir völlig überdreht vor Erwartungen. Mit welcher von uns würde er zuerst tanzen und wie lange. Endlich trafen die ersten Jungs und Mädchen ein und früher als erwartet auch unser Lehrer.

Bevor meine Mutter die Wohnung verlassen konnte, begrüßte er sie und verstrickte sie sofort in ein philosophisches Gespräch. Die Musik wurde gestartet und die Jungs saßen gelangweilt in den Ecken. So begannen wir Mädchen allein zu tanzen, möglichst nah um unseren Lehrer herum. Stundenlang redete der weiter mit meiner Mutter. Und nicht nur das, er flirtete sogar mit ihr. Was uns vollends empörte.

Irgendwann stand meine Mutter endlich auf, verabschiedete sich und er ergriff die Gelegenheit und verschwand ebenfalls. So mussten wir tief enttäuscht den Abend mit den Jungs aus unserer Klasse verbringen.

Als ich später neben meiner Mutter im Bett lag, sagte sie, dass es ihr leid täte, aber sie hätte leider nicht anders handeln können; denn, wenn sie vorher aufgestanden wäre, dann wäre auch Herr Meinhard gegangen. Das war mir dann auch klar.

Dieser Abend war noch lange Gesprächsthema bei der Erörterung, was hätte sein können, wenn ... Im nächsten Jahr verkündete er offiziell seine Verlobung mit unserer Sportlehrerin, die wir daraufhin nicht mehr besonders mochten. Das war’s aber auch mit unserem Bemühen um gute Mathe-Noten.

DER NACHBAR

Er war ein Nachbar. Aber nicht irgendeiner. Er war ein berühmter Nachbar, jedenfalls in diesem kleinen Dorf, und sein Name stand in allen Zeitungen der umliegenden Dörfer. Er schrieb Geschichten aus antiker Zeit, die auch heute noch oder wieder sehr aktuell sind. Seine Stücke wurden überall in der DDR gespielt. Und als die städtischen Zeitungen schrieben, seine Stücke wären interessant, sahen ihn die Nachbarn mit anderen Augen.

Er war auch als Nachbar anders. Nicht so mit gepflegtem Garten, Hund und Kindern. Freiwillig, nicht weil sie nicht konnten, sie wollten keine. Dafür war das Haus größer, als die der anderen und war eingerichtet mit alten Kostbarkeiten. »Alter Krempel«, von den Böden zusammen gesammelt, aber sie sollen sehr wertvoll sein, erzählten sich grinsend die Bauern.

Und seine Frau erst! Sie lief immer in den feinsten Kleidern herum, wenn sie nach 11 Uhr vormittags aufgestanden war. Musste ja auch nichts sauber machen, dafür hatten sie eine Frau, die putzte. »Perle« nannten sie die. Die Frau schrieb auch ein bisschen. Anfangs. Dann gab sie es auf. Irgendwann, traute sich nichts mehr zu, neben diesem »großen Dichter«.

Er war ein sogenannter Freigeist, was sich auch auf seine Liebesbeziehungen bezog. Die Frauen waren beeindruckt, nicht nur von seiner Weltläufigkeit, seinem Wissen über die Welt. Er war weit gereist und wusste wunderbar zu erzählen, war sehr charmant und die Frauen lagen ihm zu Füßen bei den mehr oder weniger heimlichen Treffen. All das wurde von seiner Frau toleriert, das nannten sie eine freie Beziehung.

Sie zeigte inzwischen reges Interesse am Bürgermeister. So kamen sie tolerant überein, jeder könne tun und lassen mit wem er oder sie es tun wolle. Nur die Ehe wäre unantastbar. Sie erzählten sich jedes Detail ausführlich, ab 12 Uhr mittags, zum Frühstück. Wöchentlich wurden Partys gegeben und jeder Großbauer der Umgebung fühlte sich geschmeichelt, an diesem Ereignis teilzuhaben.

Der Dichter langweilte sich wohl eines Nachmittags in seinem Garten und ließ seine Sinne schweifen. Und ein Gedanke an das schöne Mädchen der Nachbarin entfachte eine völlig neue Version der Aufregung in ihm. Vielleicht kam ihm die kindliche Verführerin Lulu in den Sinn oder er hatte die alten Griechen vor Augen, bei denen es keinerlei Gesetze gab, die eine Volljährigkeit festlegten, vielleicht aber war es auch die reine Langeweile oder einfach die Lust auf das Verbotene, auf ein sehr junges Mädchen. Zu jung, nicht nur nach dem Gesetz.

Nun gut. Ich sah aus wie 14, vielleicht sogar 15, war nicht dumm, aber wahnsinnig neugierig und bemüht, nicht wie 13 zu wirken. Das traf sich. Er flirtete, er lachte, machte mir Komplimente und ich errötete, lachte mit, spielte, wie junge Mädchen spielen, wenn da plötzlich eine Tür aufgeht, von der sie schon immer mal wissen wollten, was dahinter ist. Das war es also: Gespräche, leises Berühren, eben das, was die Jungs aus ihrer Klasse nur tollpatschig versuchten. All das und all das mir, das war wie ein Zug, nein, wie eine Invasion der Gefühle, die mich überrollten.

Ich war die Tochter der Nachbarin. Die Nachbarin selbst, in seinem Alter, eine schöne und keine unbedeutende Frau, verdiente ihr Geld ebenfalls mit der Literatur. Ihre Gedichte wurden von ihm gelobt. Sie fühlte sich geschmeichelt durch die Gunst, die der Dichter mir zuteilwerden ließ, in »allen Ehren« versicherte er ihr immer wieder. Sie hoffte, dass ich von ihm sehr viel lernen werde. Aber er musste ihr versprechen, dass er sich mir vorerst nicht intim nähern wird.

Was für eine aufregende Zeit für mich. Alles galt ihm, jeder Atemzug, alles was geschah, geschah für ihn, durch ihn, war auf diesen einen Mann bezogen. Jeden Film, den ich sah, brachte ich mit ihm in Verbindung, jeder Schlager spiegelte meine Gefühle wieder, jeder Kuss im Fernsehen erinnerte an den eigenen ersten, einzigartigen von ihm. Jede Rechenaufgabe war zur Banalität verurteilt, wenn ich sie in Relation zum Wichtigsten auf der Erde, der Liebe zu ihm, stellte. Und andererseits war jede gelöste Aufgabe in der Schule ein Erfolg, ein Erfolg für ihn. Ich würde lernen, für ihn, später studieren, für ihn, berühmt werden, alles für ihn. Und es erschien auch gar nicht mehr so schwer, das alles für ihn zu tun. Was heißt für sich selbst oder das Leben lernen! Für ihn!

Anfangs rief er mich jeden Nachmittag um 5 Uhr an. Nur so, um meine Stimme zu hören, wie er sagte, und mich nach der Schule zu befragen. Letzteres gab mir jedes Mal einen Stich. Er sollte mich nicht nur für eine Schülerin der 8. Klasse halten, ich wollte gleichwertig mit all den Damen seines Umkreises sein. Also beantwortete ich die Frage nach der Schule gleichgültig, so, als wenn es nur mein Nebenjob wäre.

Ich wollte ernst genommen werden, las zuerst einmal Shakespeares Dramen, wobei ich nach „Hamlet“ und „Heinrich dem Zweiten“, dann den Dritten, die Königsdramatik und die mühsam erlernte Geschichtsträchtigkeit ehrlich nicht mehr auseinanderhalten konnte. Verzweifelt versuchte ich, mir wichtige Stellen aus den Texten anzueignen, so dass es glaubwürdig war, so wie man Gedichte in der Schule auswendig lernte. Nicht immer verstand ich was ich las, aber mitreden konnte ich und belesen wirken.

Besonders gefiel ihm, mir die Antike näherzubringen. Hingerissen hörte ich ihm zu, wenn er von den Liebesbeziehungen der alten Griechen erzählte und verstand noch nicht, dass er ja nicht nur reden, sondern auch meinen Körper erkunden wollte.

Ich erwartete ihn immer mit großer Aufregung.

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