Der Klang der Fremde

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Der Klang der Fremde
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Kim Thúy

Der Klang der Fremde

Roman

Aus dem Französischen von

Andrea Alvermann und Brigitte Große

Verlag Antje Kunstmann

Für die Menschen im Land

ICH KAM WÄHREND der Tet-Offensive zur Welt, als das Jahr des Affen anfing und die vor den Häusern aufgehängten langen Knallerketten mit den Maschinengewehren im Chor zu knattern begannen.

Ich erblickte das Licht der Welt in Saigon, wo die Reste der in tausend Stücke zerfetzten Böller den Boden rot färbten wie Kirschblütenblätter oder das Blut der zwei Millionen aufgebotenen Soldaten, verstreut über die Städte und Dörfer eines entzweigerissenen Vietnam.

Ich wurde im Schatten dieses feuerwerksgeschmückten, leuchtgirlandenverzierten Neujahrshimmels voller Raketen und Geschosse geboren. Meine Geburt diente dem Zweck, verlorenes Leben zu ersetzen. Mein Leben stand in der Pflicht, das meiner Mutter fortzuführen.

ICH HEISSE NGUYỄN AN TỊNH, meine Mutter heißt Nguyễn An Tĩnh. Mein Name ist eine einfache Variation des ihren, nur ein Punkt unter dem i unterscheidet, differenziert, trennt mich von ihr. Ich war ihre Verlängerung, auch in der Bedeutung meines Namens. Ihrer meint »friedliches Außen«, meiner »friedliches Innen«. Mit diesen fast austauschbaren Namen bestätigte meine Mutter, dass ich ihre Erweiterung war, die Fortsetzung ihrer Geschichte.

Die Geschichte Vietnams durchkreuzte die Pläne meiner Mutter. Sie hat die Akzente unserer Namen über Bord gehen lassen, als meine Mutter vor dreißig Jahren mit uns den Golf von Siam überquerte. Sie hat unseren Namen die Bedeutung geraubt und sie zu bloßen Lauten gemacht, die für andere fremd und fremdländisch klangen. Vor allem aber setzte sie meiner Rolle als natürlicher Verlängerung meiner Mutter ein Ende, als ich zehn Jahre alt war.

DANK DEM EXIL waren meine Kinder nie Verlängerungen meiner Person oder meiner Geschichte. Sie heißen Pascal und Henri und ähneln mir nicht. Sie haben helle Haare, weiße Haut und dichte Wimpern. Wenn sie um drei Uhr morgens, mitten in der Nacht, an meinen Brüsten hingen, empfand ich nicht die erwarteten Muttergefühle. Der Mutterinstinkt stellte sich bei mir erst viel später ein, nach vielen durchwachten Nächten, schmutzigen Windeln, grundlosem Lächeln und jähen Freuden.

Da erst begriff ich die Liebe jener Mutter, die mir im Laderaum unseres Boots gegenübersaß und ein Baby mit einem Kopf voll stinkender Krätze im Arm hielt. Tagelang, wohl auch nächtelang hatte ich dieses Bild vor Augen. Die kleine Glühbirne, deren Kabel mit einem rostigen Nagel über uns befestigt war, verbreitete im Laderaum ein schwaches, ewig gleiches Licht. Im Bauch des Schiffs unterschied sich der Tag nicht von der Nacht. Die gleichmäßige Beleuchtung schützte uns vor der Unendlichkeit des Meeres und des Himmels um uns herum. Die auf Deck Sitzenden erzählten, dass die Trennungslinie zwischen dem Blau des Himmels und dem Blau des Meeres verschwunden war und man nicht mehr wusste, ob es gen Himmel ging oder hinab in die Tiefe. Im Bauch unseres Schiffs griffen Hölle und Paradies ineinander. Das Paradies verhieß einen Wendepunkt unseres Lebens, eine neue Zukunft, eine neue Geschichte. Die Hölle breitete unsere Ängste vor uns aus: Angst vor Piraten, Angst zu verhungern, Angst, sich mit dem motorölgetränkten Zwieback zu vergiften, Angst, zu wenig Wasser zu haben, Angst, nie wieder aufstehen zu können, Angst, in den roten Topf urinieren zu müssen, der von Hand zu Hand ging, Angst, sich an diesem krätzigen Kinderkopf anzustecken, Angst, nie wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, Angst, das Gesicht der Eltern, die irgendwo im Halbdunkel unter diesen zweihundert Menschen saßen, nie wiederzusehen.

BEVOR UNSER SCHIFF am Gestade von Rạch Giá in tiefster Dunkelheit den Anker lichtete, kannten die meisten Passagiere nur eine Angst: die vor den Kommunisten, vor denen sie flohen. Doch kaum war es von diesem immergleichen blauen Horizont umringt, umstellt, wurde die Angst zu einem hundertköpfigen Ungeheuer, das uns die Füße unter dem Körper wegzog, sodass wir nicht einmal mehr unsere eingeschlafenen Muskeln spürten. Wir waren voll Angst, in Angst erstarrt. Wir schlossen die Lider nicht mehr, wenn das Pipi des krätzeköpfigen Kleinen auf uns spritzte. Wir hielten uns nicht mehr die Nase zu, wenn unsere Nachbarn sich erbrachen. Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der andern, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt.

Die Geschichte von dem kleinen Mädchen, das übers Deck lief, den Halt verlor und vom Meer verschluckt wurde, verbreitete sich in dem stinkenden Schiffsbauch wie ein betäubendes oder euphorisierendes Gas, verwandelte die einzige Glühbirne in den Polarstern und den motorölgetränkten Zwieback in einen Butterkeks. Der Ölgeschmack im Rachen, auf der Zunge, im Kopf schläferte uns ein im Rhythmus des Schlaflieds, das meine Nachbarin sang.

MEIN VATER HATTE vorgehabt, uns mit Zyankalikapseln in ewigen Schlaf zu versetzen wie Dornröschen, falls unsere Familie den Kommunisten oder den Piraten in die Hände fiele. Lange wollte ich ihn fragen, warum er uns nicht die Wahl lassen wollte, warum er uns die Möglichkeit zu überleben genommen hätte.

Ich hörte auf, mir diese Frage zu stellen, als ich Mutter wurde und Herr Vinh, ein hoch angesehener Chirurg aus Saigon, mir erzählte, wie er seine fünf Kinder, vom zwölfjährigen Jungen bis zum fünfjährigen Mädchen, eins nach dem andern allein zu fünf verschiedenen Zeiten in fünf verschiedene Boote gesetzt hatte, um sie wegzuschicken, weit weg von den Anklagen, die die kommunistischen Behörden gegen ihn erhoben. Er war überzeugt, im Gefängnis sterben zu müssen, denn er wurde beschuldigt, kommunistische Genossen, die nie einen Fuß in sein Krankenhaus gesetzt hatten, durch Operationen getötet zu haben. Er hoffte, eines, vielleicht zwei von seinen Kindern retten zu können, indem er sie aufs Meer hinausschickte. Ich habe Herrn Vinh auf den Stufen einer Kirche kennengelernt, wo er im Winter Schnee schippte und im Sommer kehrte, um dem Priester zu danken, der seinen Kindern den Vater ersetzt und sie alle fünf großgezogen hatte, eins nach dem andern, bis sie erwachsen waren und er aus dem Gefängnis kam.

ICH HABE NICHT GESCHRIEN oder geweint, als man mir eröffnete, dass mein Sohn Henri in seiner Welt eingeschlossen sei, als man mir bestätigte, dass er zu den Kindern zählte, die uns nicht hören, die nicht mit uns sprechen, obwohl sie weder taub noch stumm sind. Er zählt zu den Kindern, die man von fern lieben muss, ohne sie zu berühren, ohne sie zu umarmen, ohne sie anzulächeln, weil der Duft unserer Haut, die Kraft unserer Stimme, die Struktur unserer Haare, der Klang unseres Herzens all ihren Sinnen Gewalt antun. Er wird wohl nie liebevoll »Mama« zu mir sagen, auch wenn er das Wort »Obst« mit der ganzen Rundheit und Sinnlichkeit des Lautes o aussprechen kann. Er wird nie verstehen, warum ich weinte, als er mich zum ersten Mal anlächelte. Er wird nie erfahren, dass jedes Fünkchen Freude dank ihm zum Segen wurde und dass ich mich immer wieder auf Kämpfe gegen den Autismus einlassen werde, obwohl ich von vornherein weiß, dass er unbesiegbar ist.

Von vornherein bin ich besiegt, entblößt, unnütz.

ALS ICH AM FLUGHAFEN von Mirabel durch das Bullauge des Flugzeugs die ersten Schneebänke sah, fühlte ich mich auch entblößt, ja nackt. Ich war nackt trotz des kurzärmeligen orangefarbenen Pullis, den wir vor unserer Abreise nach Kanada im Flüchtlingslager von Malaysia erstanden hatten, und des von Vietnamesinnen grobmaschig gestrickten braunen Wollpullovers. Mehrere von uns drängten in diesem Flugzeug fassungslos und mit offenem Mund an die Fenster. Nach unserem langen Aufenthalt an lichtlosen Orten musste eine so weiße, so jungfräuliche Landschaft uns ja erstaunen, blenden, berauschen.

Ich war betäubt von all den fremden Lauten, die uns empfingen, und von der riesigen Eisskulptur, die über einen Tisch voller Sandwiches, Vorspeisen, Häppchen wachte. Ich kannte kein einziges dieser Gerichte, von denen eins farbenprächtiger war als das andere, aber ich wusste, dass dies ein Ort der Freuden, ein Traumland war. Es ging mir wie meinem Sohn Henri: Obwohl weder taub noch stumm, konnte ich weder hören noch sprechen. Mir waren die Anhaltspunkte abhandengekommen, die Instrumente des Traums, die Mittel, mich in die Zukunft zu projizieren, um die Gegenwart in der Gegenwart leben zu können.

MEINE ERSTE LEHRERIN in Kanada begleitete uns, die sieben jüngsten Vietnamesen der Gruppe, über die Brücke, die uns in unsere Gegenwart führte. Mit dem Zartgefühl einer Mutter für ihr Frühchen wachte sie über unsere Verpflanzung. Wir waren hypnotisiert vom langsamen, beruhigenden Schaukeln ihrer runden Hüften und ihres ausladenden Hinterns. Wie eine Entenmama watschelte sie vor uns her und lotste uns in den Hafen, in dem wir wieder Kinder werden sollten, nichts als Kinder, umgeben von Farben, Bildern, Nichtigkeiten. Ich werde ihr ewig dankbar sein für den ersten Immigrantenwunsch, den sie in mir weckte: das Fett des Hinterns so wie sie zu schaukeln. Kein Vietnamese unserer Gruppe besaß diese Fülle, diese Großzügigkeit, diese unbekümmerten Kurven. Wir waren alle eckig, knochig, hart. Als sie sich über mich beugte, ihre Hände auf meine legte und sagte: »Ich heiße Marie-France, und du?«, wiederholte ich jede einzelne Silbe, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne zu verstehen oder verstehen zu wollen, umhüllt von einer Wolke aus Frische und Leichtigkeit und zartem Duft. Von den Worten hatte ich nichts verstanden außer der Melodie ihrer Stimme, doch das genügte. Vollauf.

ZU HAUSE WIEDERHOLTE ich die Lautfolge vor meinen Eltern: »Ich heiße Marie-France, und du?« Sie fragten mich, ob ich meinen Namen geändert habe. In diesem Augenblick wurde ich von meiner Wirklichkeit eingeholt, in der Taub- und Stummheit vorübergehend die Träume auslöschten und damit die Fähigkeit, weit, weit vorauszuschauen.

 

Meine Eltern, die schon Französisch sprachen, konnten aber auch nicht weiter vorausschauen, weil man sie aus dem Französisch-Grundkurs geworfen und damit von der Liste derer gestrichen hatte, die ein Gehalt von vierzig Dollar pro Woche bezogen. Für den Kurs waren sie überqualifiziert, für alles andere unterqualifiziert. Da sie also nichts vor sich sahen, schauten sie auf uns voraus, für uns, ihre Kinder.

FÜR UNS ÜBERSAHEN sie die schwarzen Tafeln, die sie wischten, die Schultoiletten, die sie putzten, die Frühlingsrollen, die sie auslieferten. Sie sahen nur unsere Zukunft. So gingen meine Brüder und ich in den Bahnen ihrer Blicke, um voranzukommen. Ich habe Eltern kennengelernt, deren Blick erloschen war, unter dem Gewicht eines Piratenkörpers oder während der viel zu vielen Jahre kommunistischer Umerziehung in Lagern, nicht in Kriegslagern während des Krieges, sondern in Friedenslagern, nach dem Krieg.

ALS KIND GLAUBTE ICH, dass Krieg und Frieden Gegensätze seien. Dabei lebte ich im Frieden, während Vietnam in Flammen stand, und lernte den Krieg erst kennen, nachdem Vietnam die Waffen niedergelegt hatte. Tatsächlich sind Krieg und Frieden, glaube ich, Freunde und machen sich über uns lustig. Sie behandeln uns als Feinde, wann es ihnen gefällt, wie es ihnen passt, ohne sich um die Definitionen oder Rollen zu scheren, die wir ihnen zuschreiben. Um sich für eine Blickrichtung zu entscheiden, sollte man also weder dem Anschein des einen noch des anderen trauen. Ich hatte zum Glück Eltern, die sich ihren Blick bewahren konnten, unabhängig von der Farbe der Zeit, des Moments. Meine Mutter zitierte oft ein Sprichwort, das in der achten Klasse ihrer Schule in Saigon an der Tafel stand: Đò’i là chiến trận, nếu buồn là thua– »Das Leben ist ein Kampf, in dem Trauer zur Niederlage führt«.

MEINE MUTTER TRUG ihre ersten Kämpfe spät aus und ohne Trauer. Mit vierunddreißig arbeitete sie zum ersten Mal, als Putzfrau zunächst, dann als Arbeiterin in Fabriken und Restaurants. Davor, in dem Leben, das sie verloren hatte, war sie die älteste Tochter ihres Präfektenvaters. Da hatte sie nichts anderes zu tun, als im Hof der Familie Streitigkeiten zwischen dem französischen und dem vietnamesischen Küchenchef zu schlichten. Oder über die heimlichen Liebschaften zwischen Dienerinnen und Dienern zu befinden. Ansonsten verbrachte sie ihre Nachmittage damit, sich zu kämmen, zu schminken, anzukleiden, um meinen Vater auf mondäne Abendveranstaltungen zu begleiten. Sie führte ein so extravagantes Leben, dass sie sich alle Träume erlauben konnte, besonders solche, die uns betrafen. Sie bereitete meine Brüder und mich darauf vor, Musiker, Wissenschaftler, Politiker, Sportler und Künstler zu werden und gleichzeitig viele Sprachen zu sprechen.

Doch da weiterhin Blut floss und in der Ferne Bomben fielen, brachte sie uns auch bei, zu knien wie Dienstboten. Tagaus, tagein musste ich vier Bodenfliesen putzen und zwanzig Bohnenkeime verlesen, indem ich ihnen einzeln die Wurzeln ausriss. Sie bereitete uns auf den Absturz vor. Und sie hatte ganz recht, denn sehr bald hatten wir keinen Boden mehr unter den Füßen.

DIE ERSTEN NÄCHTE als Flüchtlinge in Malaysia schliefen wir auf nackter roter Erde. Das Rote Kreuz hatte in den Nachbarländern Vietnams Flüchtlingslager für boat people eingerichtet, die die lange Schiffsreise überlebt hatten. Die anderen, die während der Überfahrt untergegangen waren, hatten keinen Namen. Sie starben anonym. Wir gehörten zu denen, die das Glück hatten, am Festland zu stranden. Wir empfanden es als Segen, unter den zweitausend Flüchtlingen des Lagers zu sein, das nur für zweihundert gedacht war.

DANN BAUTEN WIR UNS in einer entlegenen Ecke des Lagers, am Hang eines Hügels, eine Hütte auf Pfählen. Wochenlang fällten fünfundzwanzig Personen aus fünf Familien heimlich ein paar Bäume im Wald nebenan, rammten sie in den weichen Lehmboden, befestigten daran sechs Sperrholzplatten als Fußboden und überzogen das Gerüst mit einer leuchtend blauen, plastikblauen, spielzeugblauen Plane. Zum Glück fanden wir auch genügend Reissäcke aus Jute und Nylon, um die vier Seiten der Hütte und die drei Seiten des Gemeinschaftsbades zu verkleiden. Zusammen sahen die beiden Konstruktionen aus wie die Installation eines Gegenwartskünstlers in einem Museum. Nachts schliefen wir so dicht aneinandergedrängt, dass wir nie froren, auch ohne Decken. Tagsüber war die Luft in der Hütte durch die Hitze, die die blaue Plane aufnahm, zum Ersticken. Wenn es regnete, rann Tag und Nacht Wasser durch die Löcher, die Blätter, Zweige, Halme, die wir zu unserer Erfrischung hinzugefügt hatten, in die Plane bohrten.

Wäre an einem Regentag, in einer Regennacht ein Choreograf dabei gewesen, hätte er die Szene sicher aufgenommen: Da standen fünfundzwanzig Personen unter der Plane, große und kleine, in jeder Hand eine Konservendose, um das Wasser aufzufangen, das manch mal in Strömen, manchmal Tropfen für Tropfen durch die Löcher kam. Wäre ein Musiker dabei gewesen, hätte er die vielstimmige Orchestrierung des in die Konservendosen trommelnden Wassers gehört. Wäre ein Filmemacher dabei gewesen, hätte er die Schönheit dieser schweigenden, spontanen Übereinkunft unter Elenden eingefangen. Aber da waren nur wir, auf diesem Fußboden, der langsam im Lehm versank. Nach drei Monaten war er so abschüssig, dass wir für jeden einen neuen Platz finden mussten, damit Kinder und Frauen nicht im Schlaf an den Bauch eines Nachbarn rutschten.

TROTZ ALL DIESER NÄCHTE, in denen unsere Träume sich auf dem abschüssigen Boden verliefen, hielt meine Mutter an ihren ehrgeizigen Plänen für unsere Zukunft fest. Sie hatte einen Komplizen gefunden. Er war jung und sicher sehr naiv, weil er es wagte, in der monotonen Leere unseres Alltags Freude und Sorglosigkeit zu zeigen. Gemeinsam organisierten sie einen Englischkurs. Wir verbrachten ganze Vormittage damit, ihm Worte nachzusagen, ohne sie zu verstehen. Aber wir kamen alle zu diesen Stunden, denn er war imstande, den Himmel anzuheben und uns einen neuen Horizont erahnen zu lassen, fernab der gähnenden Löcher voller Exkremente von den zweitausend Menschen im Lager. Ohne sein Gesicht hätten wir uns einen Horizont ohne widerwärtigen Gestank, ohne Fliegen und Würmer nicht vorstellen können. Ohne sein Gesicht hätten wir uns nicht vorstellen können, einmal wieder etwas anderes zu essen als die Fischreste, die uns jeden Nachmittag zur Essensausgabe vor die Füße geworfen wurden. Ohne sein Gesicht hätten wir bestimmt den Wunsch aufgegeben, die Hand auszustrecken, um unsere Träume einzufangen.

LEIDER HABE ICH von all diesen Vormittagen mit unserem Behelfsenglischlehrer nur einen einzigen Satz behalten: »My boat number is KG0338.« Der Satz erwies sich als vollkommen nutzlos, weil ich nie die Gelegenheit bekam, ihn anzuwenden, nicht einmal bei der Untersuchung durch die kanadische Delegation. Der zuständige Arzt richtete kein einziges Mal das Wort an mich. Lieber zog er am Gummi meiner Hose, um mein Geschlecht zu bestimmen, statt mich zu fragen: Boy or girl? Die beiden Wörter kannte ich auch. Vermutlich ähnelten sich die Körper zehnjähriger Jungen und Mädchen wegen unserer Magerkeit zu sehr. Außerdem hatten sie es eilig – wir waren so viele auf der anderen Seite der Tür. Es war heiß in dem kleinen Untersuchungsraum, dessen geöffnete Fenster auf einen lärmigen Weg hinausgingen, wo Hunderte Menschen mit ihren Eimern zur Wasserpumpe drängten. Wir waren voller Schorf und Läuse und sahen verloren und überfordert aus.

Ich sprach ohnehin nur sehr wenig, manchmal überhaupt nicht. Während meiner gesamten Kindheit sprach meine Cousine Sao Mai immer in meinem Namen; ich war ihr Schatten: gleiches Alter, gleiche Klasse, gleiches Geschlecht, nur ihr Gesicht gehörte zur hellen Seite, meines zur dunklen, zum Schatten, zum Schweigen.

MEINE MUTTER WOLLTE, dass ich spreche, ich sollte so schnell wie möglich Französisch lernen und Englisch, denn meine Muttersprache war zwar nicht lächerlich, aber nutzlos geworden. In meinem zweiten Jahr in Quebec schickte sie mich auf eine englischsprachige Kadettenschule. Da könnte ich gratis Englisch lernen, hatte sie zu mir gesagt. Sie täuschte sich aber, es war nicht umsonst. Ich habe teuer dafür bezahlt. Es waren rund vierzig Kadetten, große, hitzige Jugendliche. Sie nahmen sich ernst, sie kontrollierten gewissenhaft, ob der Kragen korrekt gefaltet und das Barett adrett geknickt war und die Stiefel ordentlich glänzten. Die Älteren brüllten die Jüngeren an. Sie spielten auf absurde Art Krieg, ohne etwas davon zu verstehen. Ich verstand sie nicht. Ich verstand auch nicht, warum unser Vorgesetzter den Namen meines Banknachbarn ununterbrochen wiederholte. Vielleicht sollte ich mir den Namen dieses Jungen merken, der doppelt so groß war wie ich. Mein erstes Gespräch auf Englisch fing damit an, dass ich am Ende der Stunde zu ihm sagte: »Bye, Asshole.«

MEINE MUTTER BRACHTE mich oft in äußerst beschämende Situationen. Einmal bat sie mich, in dem Laden direkt unter unserer ersten Wohnung Zucker zu kaufen. Ich ging hinunter, fand aber keinen Zucker. Meine Mutter schickte mich noch einmal los und schloss sogar die Tür hinter mir ab: »Dass du mir nicht ohne Zucker wiederkommst!« Sie hatte vergessen, dass ich taub und stumm war. So saß ich bis zum Ladenschluss auf den Stufen des Geschäfts, bis der Verkäufer mich an die Hand nahm und zum Zuckersack führte. Er hatte mich verstanden, auch wenn mein Wort »Zucker« bitter war.

Lange glaubte ich, dass meine Mutter großen Spaß daran fand, mich ständig an den Rand des Abgrunds zu drängen. Erst als ich selbst Kinder hatte, verstand ich endlich: Ich hätte sie hinter der verschlossenen Tür sehen müssen, das Auge am Spion, ich hätte hören müssen, wie sie mit dem Verkäufer telefonierte, während ich weinend auf den Stufen saß. Ich habe auch erst später verstanden, dass meine Mutter zwar von meiner Zukunft träumte, mir aber vor allem Werkzeuge an die Hand gab, damit ich wieder Wurzeln schlagen und selbst zu träumen beginnen konnte.

DIE STADT GRANBY war der wärmende Bauch, der uns während unseres ersten Jahrs in Kanada behütete. Ihre Bewohner verhätschelten uns. Die Schüler aus meiner Grundschule standen Schlange, um uns zum Mittagessen bei sich zu Hause einzuladen. So war jeder Mittag für eine Familie reserviert, und jedesmal kamen wir danach mit fast leerem Magen in die Schule, weil wir nicht wussten, wie man körnigen Reis mit der Gabel isst. Wir wussten nicht, wie wir ihnen sagen sollten, dass uns dieses Essen fremd war und sie nicht die Märkte abklappern müssten, um die letzte Schachtel Minute Rice aufzutreiben. Wir konnten weder mit ihnen sprechen noch sie verstehen. Aber das Wichtigste war da. Großzügigkeit und Dankbarkeit steckten in jedem Reiskorn, das auf dem Teller liegen blieb. Noch heute frage ich mich, ob Worte diese Momente der Gnade nicht befleckt hätten. Ob Gefühle nicht manchmal schweigend besser verstanden werden, wie bei Claudette und Herrn Kiet. Ihre ersten gemeinsamen Momente waren ohne Worte, und doch war Herr Kiet bereit, Claudette sein Baby in die Arme zu legen, ohne zu fragen: ein Baby, sein Baby, das er am Strand wiedergefunden hatte, nachdem sein Schiff von einer allzu gefräßigen Welle verschlungen worden war. Seine Frau hatte er nicht wiedergefunden, nur seinen Sohn, der seine zweite Geburt ohne Mutter erlebte. Claudette streckte die Arme nach ihnen aus und behielt sie bei sich, Tage, Monate, Jahre lang.

JOHANNE REICHTE MIR auf die gleiche Weise die Hand. Sie liebte mich, auch wenn ich eine McDonald’s-Mütze trug, auch wenn ich nach der Schule mit fünfzig anderen Vietnamesen in einem Kastenwagen heimlich auf die Felder der Eastern Townships fuhr, um dort zu arbeiten. Johanne wollte, dass ich im nächsten Jahr mit ihr zusammen auf die private höhere Schule ging. Dabei wusste sie, dass ich jeden Nachmittag im Hof dieser Schule auf die Lastwagen der Bauern wartete, um schwarz zu arbeiten und Säcke mit geernteten Bohnen gegen ein paar Dollar einzutauschen.

Johanne nahm mich auch mit ins Kino, obwohl ich eine Ausverkaufsbluse zu achtundachtzig Cent mit einem Loch am Saum trug. Nach dem Film Fame brachte sie mir den Titelsong I sing the body electric auf Englisch bei, obwohl ich kein Wort verstand, genauso wenig wie von dem Gespräch mit ihrer Schwester und ihren Eltern bei ihr zu Hause am Kamin. Sie war es auch, die mir nach meinen ersten Stürzen beim Schlittschuhlaufen aufhalf und die klatschte und meinen Namen in die Menge rief, als Serge, ein Klassenkamerad, der dreimal so groß war wie ich, mich beim Fußballspielen in den Arm nahm und mit mir zusammen ein Tor schoss.

 

Ich frage mich, ob ich sie nicht erfunden habe, diese Freundin. Ich habe viele Leute getroffen, die an Gott glauben, ich aber glaube an Engel. Und Johanne war einer. Sie gehörte zu einer Armee von Engeln, die über der Stadt abgesprungen waren, um uns eine Schocktherapie zu verpassen. Sie standen zu Dutzenden vor unseren Türen, um uns warme Kleidung, Spielzeug, Einladungen, Träume anzubieten. Ich spürte oft, dass nicht genug Raum in uns war, all das anzunehmen, was man uns gab, jedes Lächeln aufzufangen, das man uns schenkte. Wie kann man mehr als zweimal pro Wochenende den Zoo von Granby besuchen? Wie einen Campingausflug in die Natur würdigen? Wie ein Omelett mit Ahornsirup genießen?

ICH HABE EIN FOTO, das meinen Vater Arm in Arm mit unseren »Paten« zeigt, einer Familie von Freiwilligen, die man uns zugewiesen hatte. Sie opferten uns ihre Sonntage, um uns auf Flohmärkte zu begleiten. Sie verhandelten lang und laut, damit wir mit unserer staatlichen Unterstützung von dreihundert Dollar, die für die Einrichtung unseres ersten Zuhauses in Quebec gedacht war, Matratzen, Geschirr, Betten, Sofas, also das Wichtigste, kaufen konnten. Ein Verkäufer schenkte meinem Vater einen roten Rollkragenpullover als Zugabe. Während unseres ersten Frühlings in Quebec trug er ihn stolz jeden Tag. Heute lässt sein strahlendes Lächeln auf dem Foto den taillierten Schnitt des Damenpullovers vergessen. Manchmal ist es besser, wenn man nicht alles weiß.

Natürlich gab es Momente, wo wir gern mehr gewusst hätten. Zum Beispiel, dass in unseren alten Matratzen Flöhe waren. Doch solche Kleinigkeiten haben keine Bedeutung, man sieht sie nicht auf den Fotos. Mit unserer von der Sonne Malaysias kupfern getönten Haut hielten wir uns ohnehin für immun gegen Flöhe. Von kalten Winden und heißen Bädern gereinigt, fanden wir ihre Bisse jedoch bald unerträglich und kratzten uns ständig blutig.

Wir haben die Matratzen weggeworfen, ohne es unseren Paten zu sagen. Wir wollten sie nicht betrüben, schließlich hatten sie uns ihr Herz und ihre Zeit geschenkt. Wir würdigten ihre Großzügigkeit, aber nicht genug. Denn wir kannten den Preis der Zeit noch nicht, ihren wahren Wert und ihre große Knappheit.

EIN GANZES JAHR LANG war Granby für mich das Paradies auf Erden. Ich konnte mir keinen besseren Ort auf der Welt vorstellen, auch wenn uns die Fliegen hier genauso bissen wie im Flüchtlingslager. Ein ansässiger Botaniker nahm uns, die Kleinen, in die Sümpfe mit, wo es Tausende Frösche gab, um uns die Insekten zu zeigen. Er wusste nicht, dass wir im Flüchtlingslager monatelang mit Fliegen gelebt hatten. Sie hingen in den Ästen eines toten Baumes bei den Sickergruben neben unserer Hütte. Dicht an dicht umhüllten sie die Zweige, sodass sie Rispen von Pfefferkörnern oder Korinthen glichen. Es war eine so gigantische Masse, dass sie gar nicht fliegen mussten, um uns ständig vor Augen und in unserem Leben zu sein. Man brauchte nicht still zu sein, um sie zu hören, doch unser botanischer Führer flüsterte, um ihrem Summen zu lauschen und sie zu verstehen.

ICH KENNE DAS LIED der Fliegen auswendig. Wenn ich die Augen schließe, höre ich wieder, wie sie mich umkreisen. Monatelang war ich gezwungen, mich unter der sengenden Sonne Malaysias zehn Zentimeter über einem riesigen, randhoch mit Exkrementen gefüllten Becken niederzuhocken. In das unbeschreibliche Braun zu starren, ohne mit der Wimper zu zucken, damit ich nicht von den zwei Brettern hinter einer der sechzehn Türen abrutschte, wenn ich dorthin ging. Um das Gleichgewicht zu halten und bloß nicht ohnmächtig zu werden, wenn der eigene Kot oder der im Verschlag nebenan die Brühe aufspritzen ließ. Solchen Momenten entfloh ich, indem ich auf den Flug der Fliegen horchte. Einmal fiel mir ein Schlappen durch die Bretter, weil ich den Fuß zu schnell bewegt hatte. Er tauchte in die Brühe, versank aber nicht darin. Er schwamm obenauf wie ein driftendes Schiff.

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