Seewölfe - Piraten der Weltmeere 177

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 177
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-665-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

1.

Die Luft erzitterte wie vom Heulen verdammter Seelen. Schräg peitschten Schneeflocken über die Decks der „Isabella“: ein mörderischer, blendend weißer Wirbel, der die Umgebung verschlang und jede Sicht nahm. Vom Achterkastell aus war kaum die Kuhl zu erkennen.

Pete Ballie, der Rudergänger, hatte seine ankerklüsengroßen Fäuste in dikken Fellhandschuhen verborgen, da ihm sonst die Finger an den Speichen des Rades festgefroren wären. Spiegelndes Eis überzog die Planken, Eis ließ die ausgespannten Manntaue glitzern. Der Sturm tobte und orgelte, schrillte in Wanten und Pardunen und steigerte sich zum Brüllen, als sei die Hölle selber aufgebrochen.

Auf dem Achterkastell hatte sich Philip Hasard Killigrew mit einem Tampen an der Schmuckballustrade festgelascht.

„Fier weg die Blinde!“ brüllte er gegen den Wind. „Geit die verdammte Fock auf, bevor sie in Fetzen geht! Tempo!“

„Tempo, ihr verlausten Eisbären!“ dröhnte Ed Carberrys Stimme von der Kuhl. „Smoky, Stenmark – ich zieh euch die Haut in Streifen ab, wenn ihr eure müden Knochen nicht etwas schneller bewegt. Ihr glaubt wohl, heute sei Weihnachten, was, wie?“

„Aye, aye!“ tönte es zweistimmig durch das Toben der Elemente.

Der eiserne Carberry hängte gleich noch ein paar Flüche an, weil sich das „Aye, aye“ seiner Meinung nach auf die Sache mit dem Weihnachtsfest bezog und weil es sich, verdammt und zugenäht, einfach nicht gehörte, mitten in einem eisigen Polarsturm den Profos zu verulken.

Inzwischen hatten sich Stenmark und Smoky an den Manntauen entlanggeangelt und die kleine Sturmfock aufgegeit.

Die „Isabella“ trieb vor Topp und Takel, doch das wäre ohnehinpassiert, sobald das spröde, vereiste Segeltuch den Winddruck nicht mehr ausgehalten hätte. Wirbelnder Schnee und kochender Gischt hüllten das Schiff ein.

Ab und zu erzitterte der Rumpf vom Stoß der Eisschollen, die sich knirschend und ächzend an den Bordwänden entlangschoben. Der Sturm nahm noch zu, rüttelte an den Masten und ließ die „Isabella“ immer wieder so schwer nach Backbord krängen, daß sie einen Alptraum von Zeit brauchte, um sich wieder aufzurichten.

Dan O’Flynn hing wie ein Klammeraffe in den Luvwanten des Fockmastes und versuchte, in dem weißen, wirbelnden Chaos etwas zu erkennen.

Der Sturm zerrte an ihm, durchdrang schneidend die dicke Fellkleidung und peitschte sein Gesicht, dessen Haut sich völlig taub anfühlte.

Dan dachte an Ferris Tuckers kostbaren Silberbarren-Ofen in der Mannschaftsmesse, aber dort konnte sich im Augenblick ohnehin niemand wärmen. Feuer im Schiff war das letzte, was sie bei diesem Höllensturm gebrauchen konnten. Obwohl der junge O’Flynn im Augenblick in einer Stimmung war, in der ein schönes heißes Feuer keinen Schrecken für ihn hatte.

„Wahrschau! Die Rah!“ brüllte jemand.

Batutis Löwenstimme.

Dan warf erschrocken den Kopf herum. Schattenhaft sah er, wie der schwarze Mann aus Gambia eine kleinere, dick vermummte Gestalt am Schlafittchen packte und zur Seite riß – Sekunden, bevor die Großmars-Rah auf die Kuhl krachte.

Auf der dünnen Eisschicht schlidderte sie nach Backbord, krachte gegen das Schanzkleid und wurde hochgeschleudert.

„Rettet sie!“ tönte Ferris Tuckers Stimme von irgendwoher. Und dann tauchte der rothaarige Schiffszimmermann selbst auf, ließ das Strecktau fahren und warf sich der Länge nach auf die Planken, um das kostbare Holz nicht über Bord gehen zu lassen.

Daß er dabei beinahe selbst über Bord gegangen wäre, wurde ihm erst klar, als Matt Davies ihn gerade noch mit seiner Hakenprothese erwischte.

„Wohl übergeschnappt, du rothaariger Affe!“ brüllte der Profos.

„Selber übergeschnappt, du Enkel einer Seekuh!“ schrie Ferris Tucker zurück.

Über das Heulen und Brausen des Sturms hinweg schnauzten sie sich an, daß es eine Pracht war. So richtig herzerwärmend! Falls es in diesem verdammten Norden außer Feuer und Rum etwas gab, das einem das Herz oder gar die Füße und den Rest der Anatomie wärmen konnte.

Zwei Glasen später knickte der Besanmast weg.

Wie ein gebrochener Arm hing er nach Backbord. Nur noch ein Knäuel von halb zerfetzten Wanten und Stagen verband ihn mit dem zersplitterten Stumpf. Unter normalen Umständen hätten sich die Männer mit Äxten und Entermessern auf das Tauwerk gestürzt, um den Mast über Bord gehen zu lassen. Aber auf einem Schiff, dessen Holzvorräte bis zum letzten Zahnstocher verbraucht waren, konnte von normalen Umständen nicht mehr die Rede sein.

Hasard löste blitzartig den Slipknoten, mit dem er sich an der Balustrade gesichert hatte.

Ferris Tucker schrie auf wie ein verwundeter Löwe und war schneller auf dem Achterkastell, als das irgend jemand für möglich gehalten hätte.

„Haltet ihn!“ brüllte er. „Wenn das Ding auf Tiefe geht, sind wir im Eimer! Himmelarsch, beeilt euch!“

Genau das war der Augenblick, in dem Dan O’Flynn an Backbord einen dunklen Schatten im Schneegestöber zu erkennen glaubte.

„Wahrschau!“ schrie er mit voller Lungenkraft. „Riff querab Back …“

Die letzte Silbe blieb ihm in der Kehle stecken.

Ein Ruck erschütterte das Schiff. Dumpfes Krachen und Knirschen mischte sich mit dem Heulen des Sturms. Eine unsichtbare Gigantenfaust packte die „Isabella“, schüttelte sie einmal kurz – und dann rührte sie sich nicht mehr von der Stelle.

Smoky, Stenmark und Batuti zappelten an den Manntauen.

Ferris Tucker umarmte den abgeknickten Besanmast. Ed Carberry war ausgerutscht und hielt sich am Fuß des Schiffszimmermanns fest. Und Hasard, der quer über das Achterkastell geschliddert war, knallte mit dem Bauch gegen das Backbord-Schanzkleid und gewann eine erstklassige Aussicht nach unten.

Schwarze Umrisse im Schneegestöber.

Riffe!

Scharf und unheildrohend ragten die Felszacken empor, von kochendem Gischt umgeben, mit schimmerndem Eis überzogen. Irgendein Zufall ließ die ganze Bescherung für Sekunden deutlich hervortreten. Dann fegte eine neue Sturmbö darüber hinweg und verhüllte alles mit einem Schleier wirbelnder Schneeflocken.

„Wir sind aufgebrummt!“ verkündete Dan O’Flynn überflüssigerweise.

Hasard sagte nur ein einziges Wort.

Aber das war von der Art, bei der selbst der Teufel errötet wäre.

Einen Moment schien alles mit Ausnahme des Sturms den Atem anzuhalten.

Die Männer klammerten sich dort fest, wo sie gerade waren, lauschten dem dumpfen Knirschen, starrten in das weiße Chaos ringsum. Ed Carberry hing immer noch an Ferris Tuckers Fuß, und Tucker umarmte immer noch den Besanmast. Der Seewolf hielt sich am Schanzkleid fest und drehte sich um. Auf der Kuhl peilte der Kutscher aus seiner Kombüse. Gleichzeitig wurde das Schott des Achterkastells aufgerammt, und ein paar weitere Gestalten erschienen auf der Bildfläche.

Siri Tong war so vermummt, daß man ihre verführerischen weiblichen Formen nicht einmal mehr ahnen konnte.

Von den Zwillingen war nicht viel mehr als die blaugefrorenen Nasenspitzen zu sehen. Mit ungebrochener Neugier spähten Hasard und Philip in die tobende weiße Hölle. Hinter ihnen ragte die mächtige Gestalt Big Old Shanes auf. Breitbeinig stand er da, die Füße mit den Fellstiefeln im Schott verkeilt, die Hände frei, um die beiden kleinen Seewölfe notfalls blitzschnell am Kragen packen zu können.

Aber das war überflüssig.

Die Zwillinge hatten schon mehr als einen Sturm erlebt, und mit den Tücken vereister Planken und glitschiger Taue waren sie inzwischen auch vertraut. Und den Umgangston eines gestandenen Seemanns im Sturm hatten sie sich von Ed Carberry abgeschaut, wie sie jetzt wieder mal bewiesen.

„Ist der verdammte Kahn mit etwas zusammengestoßen?“ schrie der kleine Hasard lauthals.

„Auf ein Riff gebrummt!“ schrie Dan O’Flynn zurück, der seinen nutzlos gewordenen Ausguck-Posten in den Wanten verlassen hatte.

„Scheiß-Riff!“ kommentierte Hasard junior.

„Mist, verdammter!“ tat Philip seinen Senf dazu.

Die Rote Korsarin hatte sich über die Kuhl gehangelt und enterte geschickt den Niedergang zum Achterkastell hoch.

Schneeflocken hingen an ihren langen Wimpern, die dunklen Mandelaugen kniffen sich zusammen. Sie wollte etwas sagen, aber sie kam nicht mehr dazu.

Unter der Gewalt einer neuen Sturmbö holte die „Isabella“ beängstigend nach Backbord über. Etwas knirschte und schabte – an Steuerbord, nicht an Backbord. Keine Felsen, sonder das Eis, das Sturm und Seegang gegen das Schiff trieben und das sich binnen kurzem zu bedrohlichen Bergen auftürmen wollte.

 

Der Seewolf stand immer noch am Schanzkleid.

Wenn ihm nicht der weiße Flokkenwirbel die Sicht nahm, konnte er deutlich die scharfen Felszacken sehen. Wie Nadeln ragten sie empor. Nadeln, die dem Schiff unweigerlich den Rumpf abreißen würden, wenn die Gewalt des Sturms und der mörderische Druck des Schelfeises sie zwischen die Riffe warf.

„Ed! Ferris!“ schrie der Seewolf. „Laßt endlich den verdammten Mast los, zum Teufel!“

„Dann geht er außenbords!“ brüllte Tucker empört.

„Na und? Wir brauchen ihn außenbords! Und zwar, um diesen dreimal verfluchten Kahn abzustützen, bevor er aufgespießt wird – geht das in deinen Schädel?“

Nein, das ging nicht in Ferris Tukkers Schädel.

Jedenfalls nicht sofort. Der riesige Schiffszimmermann sah aus, als sei er überzeugt davon, der Rest der Menschheit habe den Verstand verloren. Widerwillig gab er seine innige Umarmung mit dem Besanmast auf und wühlte sich durch das Gewirr aus Segelfetzen, Gaffelrute und peitschenden Stagen, bis er ebenfalls einen Blick über das Schanzkleid werfen konnte.

„Ach du meine Fresse“, sagte er ergriffen.

Und dann, als wieder eine Eisscholle den Schiffsrumpf erschütterte, sprang der rothaarige Hüne auf wie ein Kastenteufel und schien sich in einen Orkan zu verwandeln, der dem Schneesturm um nichts nachstand.

„Hopp-hopp, ihr lahmen Säcke! Schickt endlich den verdammten Mast über Bord! Ed, du blöder Riesenaffe, was stehst du herum und glotzt? Sten, Smoky, Batuti – außenbords mit euch und den elenden Mast wahrnehmen! Ich brauch die Gaffelrute und die Marsrah und eine verdammte Menge Holzkeile! Und Sandsäcke! Irgendwelches Zeug zum Verdämmen! Al, du gestreifter Kanonensohn, willst du dich vielleicht mal bewegen, oder soll ich dir erst ein paar Zähne ins Kleinhirn rammen?“

Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, verstand eine Menge von Sprengstoff und daher auch von der Technik des Verdämmens.

Er pfiff Luke Morgan und Sam Roskill an, die „morschen Knochen“ zu bewegen, und verschwand mit ihnen im Laderaum. Inzwischen hatten Stenmark, Smoky und Batuti die Jakobsleiter ausgebracht und enterten mühsam ab. Der Sturm schüttelte sie, man sah kaum die Hand vor Augen. Erst im Schutz der hochragenden Bordwand wurde es etwas besser: Fluchend versuchten die Männer, auf den vereisten Riffen Halt zu finden. Es war schwierig, aber es ging, zumal die scharfen Felszacken eine zusammenhängende Barre bildeten, so daß man sich schon ausgesprochen ungeschickt anstellen mußte, um im eisigen Wasser zu landen.

Zufrieden stellte der Seewolf fest, daß er überhaupt nichts mehr zu sagen brauchte.

Auch der letzte Mann hatte begriffen, welche Gefahr der „Isabella“ drohte. In fiebernder Eile hackten Ferris Tucker, Ed Carberry und Dan O’Flynn auf Wanten und Pardunen ein. Big Old Shane, der graubärtige Riese, stemmte seine mächtige Schulter unter den Mast, damit es im entscheidenden Augenblick kein Kleinholz gab. Hasard enterte ebenfalls über die Jakobsleiter ab. Ben Brighton folgte ihm, ganz gegen seine Gewohnheit lästerlich fluchend, und dann standen sie breitbeinig auf den vereisten Riffen und nahmen den Mast wahr, der über das Schanzkleid rutschte.

Ein paar Sekunden später erschien auch Ferris Tucker neben ihnen.

Er starrte den Mast an, dann Hasard, dann wieder den Mast.

„Wenn wir das Ding halbieren, können wir es nicht wieder aufriggen!“ schrie er durch das Tosen des Sturmes.

„Und wenn wir es nicht halbieren und die ‚Isabella‘ zwischen die Riffe kracht, können wir für den Rest unseres Lebens Robben zählen!“ schrie Hasard zurück.

„Stimmt“, knurrte Tucker ingrimmig, holte mit seiner mächtigen Axt aus und zerteilte den Besanmast mit ein paar wuchtigen Hieben in zwei Hälften.

Eine volle Stunde verging, in der sie keuchend und trotz der schneidenden Kälte schwitzend versuchten, das Schiff abzustützen.

Immer wieder erzitterte der Rumpf, ächzten die Verbände, knirschte und knackte das Eis, dessen würgender Zugriff noch gefährlicher war als die Gewalt des Sturmes. Die Teile des Mastes und die Trümmer von Großmarsrah und Gaffelrute wurden verkeilt, mit Sandsäcken verdämmt und zusätzlich mit schweren Kettenkugeln gehalten.

Die Männer schufteten wie die Wilden, in einem verzweifelten Wettlauf mit Sturm und Eis. Schneekristalle hingen in ihrer Kleidung und machten die Felle schwer und steif. Der Atem wehte in weißen Wolken vor ihren Gesichtern. Die Minuten schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, aber schließlich stieß Ferris Tucker triumphierend die Faust in die Luft.

„Das hält!“ schrie er. „Notfalls bis zum nächsten Jahr!“

Ja, dachte Hasard erbittert.

Und mit etwas Pech würden sie im nächsten Jahr immer noch hier festsitzen. Er hatte das Knirschen des Anpralls auf die Riffe nämlich noch genau im Ohr. Er wußte, daß es achtern zuerst gekracht hatte. Wenn ihnen auch noch die Ruderanlage zu Bruch gegangen war, konnten sie einpacken.

Als er sich mühsam über die vereisten Riffe zum Achterschiff kämpfte, bestätigten sich seine Befürchtungen.

Das Ruderblatt war Kleinholz.

Und es hätte Ferris Tuckers Fluchkanonade gar nicht bedurft, um dem Seewolf klarzumachen, daß sich die schäbigen Reste allenfalls noch für den Ofen eigneten.

Eine Viertelstunde später drängten sich die Männer in der Mannschaftsmesse um das Ofen-Monstrum aus Silberbarren.

Bill und der Kutscher hatten das tonnenschwere Ding wieder in Brand gesetzt und reichlich mit ausgekochten Wal-Speckseiten gefüttert. Sie saßen fest, also bestand wegen des Feuers keine Gefahr mehr. Mitten im Heulen des Sturms waren sie im Augenblick geradezu paradiesisch sicher. Aber sie wußten nur zu gut, daß diese Sicherheit einen gewaltigen Pferdefuß hatte.

Ändern konnten sie es nicht.

Also bestand auch kein Grund, sich den heißen Rum nicht schmecken zu lassen. Die Zwillinge, die einträchtig in einer der Kojen kauerten, erhielten heißen Tee. Jedenfalls war heißer Tee in den Mucks gewesen, als der Seewolf begann, in pulvertrokkenem Tonfall die lange Liste der Schäden aufzuzählen.

Die Crew hörte gebannt zu.

Der Kutscher stellte seine halbvolle Muck ab, um mit der Kelle den ersten Nachschub aus dem Kessel zu schöpfen. Danach hatte der heiße Tee der Zwillinge schon ein wesentlich besseres Aroma. Und der Kutscher stellte fest, daß ihm der Schrecken wohl auf den Magen geschlagen sein mußte, da ihm der Rum plötzlich irgendwie labbrig schmeckte.

Da er immer wieder zur Kelle greifen mußte, wurde der heiße Tee der Zwillinge immer besser.

Vergnügt hörten sie ihrem Vater zu. Was der zu sagen hatte, bot zwar überhaupt keinen Anlaß zum Vergnügen, aber mit einem richtigen Männer-Tee im Magen sah die schnöde Welt gleich ganz anders aus.

„Das war’s“, schloß der Seewolf. „Mit Bordmitteln ist der Bruch nicht zu reparieren. Ohne Reparatur kommen wir hier nicht weg, selbst wenn es uns gelingt, das Riff zu sprengen. Was wir brauchen, ist entweder ein Wunder oder eine geniale Idee. Sonst bleibt uns nämlich nichts übrig, als hier eine königlich britische Kolonie zu gründen.“

Schweigen.

Niemand sah so aus, als ob er eine geniale Idee hätte. Ferris Tucker knirschte mit den Zähnen. Batuti, der hünenhafte Gambia-Neger, rollte die Augen. Ed Carberry stellte seine Muck ab, weil er beide Hände brauchte, um sich gleichzeitig das Haar zu raufen und das zernarbte Rammkinn zu kratzen. Und der heiße Tee der Zwillinge wurde wieder ein Stückchen besser.

Eine halbe Stunde später störten sie die Debatte durch unmelodische, aber beeindruckend laute Schnarchgeräusche.

Siri-Tong hörte es als erste und sah sich verblüfft um. Der Seewolf betrachtete mit gerunzelter Stirn die beiden Knirpse, die friedlich schlafend aneinanderlehnten. Hasard junior hielt noch die Muck in der Hand. Dem kleinen Philip mußte sie aus den Fingern geglitten sein. Es war der Profos, der den Becher aufhob. Er schnüffelte daran, furchte die Brauen, schnüffelte wieder und beugte sich dicht zu den beiden Schläfern hinunter.

Als er sich aufrichtete, zeigte sein Narbengesicht einen Ausdruck, als wisse er noch nicht so genau, ob er explodieren oder still in sich hineingrinsen solle.

„Sternhagelvoll“, stellte er fest.

Und dann starrte er überrascht den Gift und Galle spuckenden Kutscher an, dem plötzlich aufgegangen war, warum sein Rum so labbrig geschmeckt hatte.

2.

Gegen Morgen flaute der Sturm ab.

Immer noch knackte, knirschte und ächzte das Treibeis in der gefährlich hohen Dünung, doch der Himmel war blankgefegt und leuchtete in einem durchsichtigen Blaßblau. Eine dünne Eisschicht überzog Masten und Stagen der „Isabella“ und ließ sie in der Sonne wie ein Juwel glitzern. Soweit das Auge reichte, funkelte die Umgebung in einem fast schmerzhaften Glanz. Es war ein Bild von beeindruckender – und tödlicher Schönheit.

Der Seewolf setzte das Objektiv ab und reichte es an Ben Brighton weiter.

Auch der Bootsmann spähte durch das Fernglas zur zerklüfteten, tief verschneiten Küste hinüber. Der Schnee würde im Laufe des Tages schmelzen. Jetzt, während des kurzen Polarsommers, taute an Land sogar der Boden auf, wenn auch nur in den obersten Schichten. Ein Teil der Moose, Flechten und Kräuter, die hier wuchsen, waren eßbar. Sie beugten dem Skorbut vor, und sie halfen, die Vorräte an Zitronensaft zu strecken, den die „Isabella“ an Bord hatte.

Ben Brighton ließ das Spektiv sinken.

„Wir waren viel zu dicht unter Land“, sagte er in seiner ruhigen, manchmal etwas umständlichen Art.

„Darauf wäre ich nie gekommen“, knurrte Hasard erbittert. „Konnten wir das vielleicht sehen, he?“

„Nee“, sagte Ben Brighton. „In dem Schneesturm konnte man ja vom Achterkastell aus kaum das Vorschiff sehen.“

„Eben!“

Hasard preßte die Lippen zusammen und schnappte sich noch einmal das Spektiv. Das Bild blieb so trostlos wie vorher: eine weiße, völlig kahle Küste. An einer Stelle ragte ein länglicher Umriß aus der Schneedecke. Aber ein Baum war das nicht. Vor allem kein Baum, aus dem sich ein neues Ruderblatt oder gar ein Besanmast zimmern ließ.

Kunststück! Das einzige, was hier oben in begünstigten Lagen wuchs, waren Zwergbirken.

Auf Bäume würden sie erst wieder stoßen, wenn es ihnen endlich gelang, einen Weg nach Süden zu finden. Und wie sie den ohne Besanmast und mit zerschmetterter Ruderanlage finden sollten, stand noch in den Sternen.

Ferris Tucker war auf die Riffe abgeentert, um sich anzusehen, was von den Resten des Besanmastes vielleicht noch zu gebrauchen war.

Der Seewolf kaute an der Erkenntnis, daß ihnen als letzer Ausweg nur eine Expedition ins Landinnere bleiben würde. Sie mußten wissen, wo sie waren. Das Gebiet, das sie durchsegelt hatten, existierte weder auf englischen noch auf spanischen Seekarten. Aber vielleicht auf den alten chinesischen, die ihnen schon während ihrer Weltumseglung oft geholfen hatten.

Eine Viertelstunde später breitete Hasard vorsichtig das vergilbte, mit kunstvollen Linien, Schnörkeln und Schriftzeichen bedeckte Pergament auf dem Tisch in seiner Kammer aus.

Ben Brighton, Big Old Shane, Ed Carberry und die beiden O’Flynns sahen ihm zu. Siri-Tong beugte sich tief über die Karte und musterte aus schmalen Augen die verschlungenen Linien.

China.

Die Inselwelt des Pazifiks.

Nur grob und ungenau die Küsten der Neuen Welt – immer ungenauer, je weiter sich Siri-Tongs tastender Finger nach Norden bewegte. Hoch oben, am Rand der Karte, jenseits eines langgestreckten Inselbogens, stießen die Landmassen zweier Kontinente fast zusammen. Nur eine schmale Wasserstraße trennte sie. Die Linien endeten dort. Daß die Küsten nach Osten und Westen zurückwichen, ließ sich gerade noch erkennen. Und mit etwas Phantasie konnte man erahnen, daß sich nördlich der Passage eine weite Wasserfläche öffnete.

Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne.

Einen Augenblick starrte er auf die Karte, dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn die Küste so weiter verläuft, wie sie anfängt, müßten wir uns ungefähr hier befinden.“ Sein Finger tippte auf einen Punkt in der Maserung des Tisches. „Das heißt, daß wir den Durchbruch nach Süden binnen weniger Tage schaffen könnten.“

„Könnten“, betonte Dan O’Flynn.

„Nicht ohne Besan und Ruderblatt“, knurrte sein rauhbeiniger alter Vater und stampfte zur Bekräftigung mit dem Holzbein auf.

 

Ben Brighton kratzte sich am Kopf.

„Notfalls müssen wir eben mit den Segeln steuern“, meinte er trocken. „Oder ein paar Decksplanken opfern, um das Ruderblatt wenigstens notdürftig zu reparieren.“

„So werden wir auch gerade einen Sturm abreiten“, knurrte Old O’Flynn.

„Besser ein Risiko, als hier festzusitzen“, beharrte der Bootsmann. „Die andere Möglichkeit wäre, ins Landinnere zu marschieren, bis wir auf Bäume stoßen.“

„Und das kann ein verdammt langer Marsch werden“, ergänzte Hasard. „Aber in einen von den beiden sauren Äpfeln müssen wir beißen, da hilft nun mal nichts. Ich schlage vor, daß wir zunächst einmal die Küste erkunden und …“

Er brach ab.

Auf der Kuhl erklang erregtes Stimmengewirr. Sekunden später wurde an die Tür der Kammer geklopft, und Smoky, der Decksälteste, streckte seinen Kopf herein.

„Entschuldigung, Sir. Aber wir haben etwas entdeckt, daß du dir ansehen solltest.“

Der Seewolf war schon unterwegs.

Am Backbord-Schanzkleid der Kuhl drängten sich ein halbes Dutzend Männer und zwei kleine Gestalten, deren Gesichter einen auffallend grünlichen Farbton zeigten. In der allgemeinen Aufregung waren die Zwillinge von der wohlverdienten Strafe verschont geblieben. Aber sie litten trotzdem. Sie litten unter allen Anzeichen eines mordsmäßigen Katers, der ihnen wohl für lange Zeit die Lust austreiben würde, ihren Tee mit geklautem Rum zu würzen.

Das, was die Crew entdeckt hatte, war Hasard und Ben Brighton schon unmittelbar nach dem Abflauen des Sturms aufgefallen. Aber da war es nichts weiter als ein länglicher Umriß gewesen, genauso weiß wie die Felsen der Küste. Jetzt begann der Schnee zu schmelzen, und der längliche Auswuchs wurde zu einem Strich, der zu gerade und regelmäßig war, um natürlichen Ursprungs zu sein.

Der Seewolf zog das Spektiv auseinander.

Eine Spiere, erkannte er.

Auf der Kuppe eines Felshügels war sie in den Boden gerammt und verkeilt worden. Graue Fetzen flatterten an ihrer Spitze, die Reste einer Art Flagge. Kein Zweifel: es war ein Zeichen, ein Signal, das jemand an der einsamen Küste aufgerichtet hatte.

Ein Signal bedeutete Menschen.

Menschen, die vielleicht Hilfe brauchten, die auf ein vorbeisegelndes Schiff hofften. Das hieß, daß sie nicht weit sein konnten. Und es hieß auch, daß sie sich in einer verzweifelten Lage befinden mußten. Denn nur nackte Verzweiflung konnte sie auf den Gedanken gebracht haben, daß in dieser gottverlassenen Gegend am Ende der Welt jemand ihr Zeichen entdecken würde.

Hasard ließ das Spektiv sinken. Seine Augen waren schmal geworden und funkelten wie das sonnenbeschienene Eis auf dem Wasser.

„Ed, Ferris“, sagte er durch die Zähne. „Setzt ein Boot aus! Wir werden uns mal ansehen, wer da seine Flagge gehißt hat.“

Ein paar Minuten später trieben kräftige Riemenschläge das Beiboot durch die Wasserrinne im schimmernden Eis.

Sie waren zu sechst: der Seewolf, Dan O’Flynn und Ben Brighton, Blacky, Ed Carberry und Ferris Tukker. Der rothaarige Schiffszimmermann trug finstere Entschlossenheit zur Schau und suchte mit den Augen die Küste ab, als könne er einen Wald herbeizaubern. Fälle von Mast- und Ruderbruch pflegte er persönlich zu übernehmen. Schließlich hatte er den Ruf, das Unmögliche in fünf Minuten zu erledigen und für Wunder nur unwesentlich länger zu brauchen. Daß er in diesem Fall bisher weder eine geniale noch überhaupt eine Idee hatte, ließ seine Stimmung frostiger werden als ein Eisberg in der Polarnacht.

Auch Ed Carberry wirkte nicht gerade optimistisch, was sich darin äußerte, daß er nur halb so viel fluchte wie gewöhnlich.

Zweimal mußten sie ihr Boot aus dem Wasser ziehen und über ausgedehnte Eisschollen transportieren, dann endlich erreichten sie die Küste. Auch hier galt es, einen Wall aus aufgetürmtem, schimmerndem Eis zu überwinden. An den schwarzen, zerklüfteten Felsen sickerte das Schmelzwasser des Schnees herunter, den der Sturm zurückgelassen hatte. Sorgfältig verkeilten die Seewölfe das Boot im Geröll und griffen nach ihren Musketen.

Mühsam in der dicken Fellkleidung und den schweren Stiefeln begannen sie, die Felsen zu erklettern.

Jenseits der Klippen dehnte sich eine karge Ebene, von einer fernen Bergkette überragt, deren Gletscher funkelnd blau in der Sonne leuchteten. Einzelne Geländefalten und kleine Hügel durchzogen das flache Land. Und überall prangten Inseln von blühendem Moos in so unglaublich intensiven Farben, als habe sich die Natur ins Zeug gelegt, um den Betrachter wenigstens während der kurzen Sommermonate für den Anblick der grauen Eiswüste und der endlosen Düsternis der Polarnacht zu entschädigen.

Nirgends war eine Spur von menschlichem Leben zu entdecken.

Nichts außer der Stange mit dem Tuchfetzen. Sie ragte ein Stück weiter östlich in den Himmel, an einer Stelle, die mit dem Boot kaum zugänglich war. Schweigend wandten sich die Männer nach links und marschierten auf den felsigen Grat zu, der sich schräg bis auf den Hügel zog.

Einmal blieben sie stehen, weil sie ein Geräusch hörten.

Ein Stein polterte, kein Zweifel. Aber das mußte nichts besagen: die Felsen arbeiteten, und es lebten Tiere in dieser Einöde. Hasard gab das Zeichen zum Weitergehen – und nach drei, vier Schritten hörten sie den Schrei.

Den Schrei eines Menschen!

Hoch, gellend, schrill vor Entsetzen.

Wieder polterten Steine. Der Schrei brach sich auf dem höchsten Punkt, wurde zu einer Kette wimmernder Laute. Ein dumpfes, urwelthaftes Brummen mischte sich hinein, und Hasard spürte einen eisigen Schauer über seinen Rücken rinnen.

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