Knochenjob

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2. Kapitel

Nicht rennen!«, befahl eine hochgewachsene, grauhaarige Frau Hände klatschend einer Horde aufgedrehter Kinder, die sie durch die Eingangshalle des George C. Page Museum führte.

Vor dem Eingang der Ausstellungsräume befanden sich ein Informationsschalter und der helle Souvenirladen, durch dessen Glaswand die Pflanzen und Bäume des Innenhofs hindurchschimmerten. Hinter der Kasse, an der Erwachsene sechs Dollar Eintritt bezahlen mussten, erspähte Kate das geduckte, dunkelbraune Skelett eines Raubtiers. Rechts von ihr gab es ein paar stoffbezogene Bänke, Toiletten, öffentliche Telefone und etwas Undefinierbares in einem sechseckigen Schaukasten, umringt von lauten, begeisterten Kindern, die an Handgriffen zerrten. Der Souvenirladen, ein bescheidenes, aber attraktives Halbrund, stellte seine Waren in gläsernen Theken und Vitrinen aus, darunter Plastiknachbildungen von Fossilien, Brettspiele und Puzzles, Spielsachen, Kaffeebecher, Karten, Kugelschreiber und Bleistifte, eine Auswahl an Büchern und die bei Touristenattraktionen allgegenwärtigen T-Shirt-Ständer. Ein paar Dinosaurierposter hingen an den Wänden.

»Gibt es hier Dinosaurierknochen?«, fragte sie Cameron. Das würde sie interessieren, besonders da sie und Aimee neuerdings eine Videokassette von Jurassic Park besaßen.

»Nicht in diesem Museum.«

Die Antwort auf ihre Frage kam von einer jungen Japanerin am Informationsschalter, adrett gekleidet in weißer Bluse mit schwarzer Fliege. »Das fragen alle«, sagte sie lächelnd. »Unsere Fossilien sind bis zu vierzigtausend Jahre alt. Die Dinosaurier sind vor fünfundsechzig Millionen Jahren ausgestorben. Wir führen die Dinosaurierposter, weil wir so viele Nachfragen haben.«

Kate nickte, jetzt beeindruckten die Teergruben sie noch weniger.

»Aber wir haben weltweit die reizvollste und größte Sammlung von Fossilien, die in Asphalt präserviert wurden«, fuhr die junge Frau fort, als hätte sie Kates Gedanken gelesen und versuchte nun, sie umzustimmen.

»Was denn zum Beispiel?«, fragte Kate höflich, seufzte innerlich und griff in ihrer Umhängetasche nach dem Lederetui mit der Polizeimarke und ihrem Ausweis. Sie und Cameron hatten das bisschen, was sie am Tatort tun konnten, getan, und sie hatte Hansen ihr Handy gegeben, damit er beim Eintreffen des Gerichtsmediziners ihren Pieper anrufen konnte.

»Säbelzahntiger«, sagte die junge Frau. »Schreckenshunde, Büffel. Riesige Mastodonten, zottelige Mammuts –«

Kate wusste, dass man die vielbeschäftigten Gerichtsmediziner nicht zur Eile antreiben konnte und dass jeder Versuch durch absichtliches Herumtrödeln gerächt würde. Bis ein Ermittler der Gerichtsmedizin sich die Leiche dieses Mannes hinter der Parkbank angesehen und bestimmt hatte, ob dieser Todesfall weitere Ermittlungen erforderte, war sie zu Untätigkeit verdammt.

»Kamele, Bären, so groß wie Elefanten. Insekten, Pflanzen, riesige Vögel. Von der La Brea-Frau ganz zu schweigen –«

»Beeindruckend«, unterbrach Kate sie und zeigte ihr den Ausweis. »Ich bin Detective Delafield. Mein Partner ist Detective Cameron. Wenn wir Ihnen ein paar Fragen stellen dürften …«

Auf dem Gesicht der jungen Frau erschien ein erschrockener Ausdruck; sie fuhr sich mit der Hand durch ihr glänzendes schwarzes Haar. »Wegen dem toten Typ da draußen, stimmt’s?«

Kate nickte, amüsiert, dass die junge Frau mit dem Themenwechsel einen umgangssprachlichen Tonfall annahm. »Dürfen wir Ihren Namen erfahren?«

»Ja. Klar. Joanne Takani.« Sie starrte auf Kates Notizbuch und buchstabierte ihren Nachnamen.

Cameron fragte freundlich: »Was können Sie uns über den Mann da draußen sagen, Joanne?«

»Über ihn? Hab nicht die leiseste Ahnung. Wir hatten gerade aufgemacht, da kamen ein paar Touristen reingerannt und haben was von einem Toten gebrüllt, den sie gefunden hätten, und ich hab den Notruf gewählt. Das ist alles. Hatte er einen Herzanfall?«

»Möglich. Wir sind noch nicht sicher. Danke, Joanne«, sagte Kate und wandte sich ab.

»Joanne erwähnte die La Brea-Frau«, sagte Cameron. »In einem der Schaukästen ist eine Nachbildung von ihrem Skelett. Sie ist an einem Schädelbruch gestorben, vor zehntausend Jahren.«

»Tatsächlich«, erwiderte Kate mit einem Grinsen. »Dann ist sie umgebracht worden? Das erste Mordopfer von L.A.?«

Cameron grinste zurück. »Mit einer Axt kaltgemacht, schätze ich.«

»Also genau hier fand der erste unaufgeklärte Mord von L.A. statt?«

»Es sei denn, es war eine Art Zeremonie, sie hier zu begraben, das kann auch sein. Weißt du, warum man hier so viele Fossilien gefunden hat?«

Kate zuckte ungeduldig die Schultern bei dieser scheinbar offensichtlichen Frage. »Der Teer war wie Treibsand, und die Tiere sind darin eingesunken.«

»Sie sind nicht eingesunken. Zumindest nicht sofort. Der Teer ist nicht so tief, höchstens zehn Zentimeter. Sieh dir das hier mal an.« Er führte sie zu dem sechseckigen Schaukasten, wo Kinder mit aller Kraft an Handgriffen zerrten – sie versuchten sie aus dem Teer zu ziehen.

»Das verdeutlicht, wie klebrig das Zeug ist«, sagte Cameron. »Es war so: Wenn ein Tier zu einer der Teergruben kam, dachte es, es hätte Wasser vor sich und ging in die Falle. Wenn ein Raubtier es brüllen hörte, rechnete es mit leichter Beute. Dann ging es ebenfalls in die Falle. Dann kamen noch mehr Raubtiere, um bei dem Festmahl dabei zu sein, und auch die gingen in die Falle, dann stießen die Geier herab und wurden gefangen –«

»Die Bewohner dieser Stadt haben sich anscheinend nicht sehr verändert«, bemerkte Kate.

Cameron deutete hinter sich auf den Schalter, wo die Eintrittskarten verkauft wurden. »Wollen wir uns die Ausstellung ansehen, während wir warten?«

»Lass uns nachsehen, was die Kollegen bei ihren Befragungen herausgefunden haben«, entgegnete sie. Sie war auf Ermittlung eingestellt, nicht auf Tourismus, und die verdammte Ausstellung hätte ihr nicht gleichgültiger sein können.

Ihr Pieper ging an. »Das kann nicht sein«, sagte Cameron.

»Auf gar keinen Fall«, stimmte Kate zu, als sie und Cameron aus dem Museum traten. Der Ermittler der Gerichtsmedizin konnte unmöglich schon den Weg aus der Innenstadt bis hierher zurückgelegt haben.

Aber es war tatsächlich jemand eingetroffen, Walt Everson höchstpersönlich, der eine fröhliche Unterhaltung mit Hansen führte, während ein Fachmann den Tatort fotografierte.

»Wie aufmerksam von der Polizei von Los Angeles, zwei Aufträge hintereinander in einem so netten Teil der Stadt für uns zu arrangieren«, begrüßte Everson sie.

»Wie geht’s, Walt?«, fragte Kate lächelnd. Sie und Everson hatten bei vielen Ermittlungen zusammengearbeitet und ihrer Meinung nach war er einer der Besten in seiner überarbeiteten Abteilung. »Kennen Sie Joe Cameron aus Devonshire?«

»Ich glaube nicht, dass ich bereits das Vergnügen hatte.«

»Hatten Sie«, sagte Cameron kurz.

»Tut mir leid«, erwiderte Everson mit offensichtlicher Unaufrichtigkeit, den Blick auf den Fotografen geheftet, der die Kamera in schneller Folge aufblitzen ließ. »Ihr Mordermittler seht alle gleich aus.«

Cameron antwortete knapp: »Und ich dachte, ich wäre hübscher als Kate.«

»Walt«, sagte Kate, verwundert über Camerons gereizten Ton, »wieso zwei Aufträge?«

»In West L.A. Junger Kerl mit sechzehn Stichwunden in einem hübschen Muster rings um seine Brustwarzenpiercings.« Er wies mit einem Nicken auf den verdrehten Körper. »Interessant. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich sagen, sein Rücken bringt ihn um.«

Kate sagte: »Detective Cameron hat eine geplatzte Niere diagnostiziert.«

»Detective Cameron ist ein vielversprechender Pathologe.« Der Fotograf begann seine Ausrüstung einzupacken, und Everson duckte sich unter dem Polizeiband hindurch.

»Ein richtiger Klugschwätzer«, murmelte Cameron, als Everson den durch das Band vorgegebenen Weg zur Leiche nahm, die schwarze Tasche in der Hand. »Ich weiß, wir machen alle Witze über diese Sachen, aber ich glaube, er findet daran wirklich Gefallen.«

Kate tauschte einen Blick mit Hansen, der die Augen verdrehte. In all den Jahren, die sie mit Everson zusammenarbeitete, hatte er sich nach demselben Muster verhalten; je grausiger der Tatort, desto mehr witzelte er herum. So hart auch einige Aspekte ihrer eigenen Arbeit waren, sie konnte sich nicht vorstellen, welche Abschottungen sie nötig hätte, welche Distanzierungen und Schutzwälle, um so wie Everson jeden Tag von morgens bis abends Leichen zu untersuchen, einige von ihnen Kinder, einige von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt oder verwest. Sie sagte zu Cameron: »Wir alle – tun einfach, was wir tun müssen.«

Everson zog zwei Paar Latexhandschuhe über seine Hände und kniete sich ins Gras. Die Tasche offen an seiner Seite, saß er zunächst auf den Fersen, um einen Eindruck von der Leiche zu gewinnen, bevor er sie berührte. Dann zog er Stück für Stück das rostbraune Hemd des Mannes aus dem Hosenbund und schob es zu den Schultern hoch. Er winkte Cameron und Kate heran und wartete, während sie sich unter dem Polizeiband hindurch zu ihm hin manövrierten.

Unter dem rostbraunen Hemd war die kalkweiße Haut des Toten mit Sommersprossen und großen Leberflecken übersät; sie schien jahrelang der Sonne ausgesetzt gewesen zu sein. Doch im unteren Teil des Rückens überdeckte ein faustgroßer, rosafarbener Fleck die Sommersprossen, und innerhalb dieses Flecks befand sich ein kleiner Klumpen geronnenes Blut. Cameron hat recht, dachte Kate. Es ist ein Bienenstich.

»Detective Cameron, Sie hatten recht«, sagte Everson.

 

Kate sah Everson völlig verblüfft an. Niemand hatte ihm gegenüber einen Bienenstich erwähnt.

»Seine Niere ist wirklich geplatzt«, sagte Everson. »Wesentlich begünstigt durch das Gerät, das hineingejagt wurde.«

Cameron fragte ungläubig: »Er ist erdolcht worden?«

»Wohl eher mit einem Eispickel erstochen.« Everson zog einen eleganten, dünnen goldenen Stift aus seiner Brusttasche und benutzte ihn als Zeigestock. »Sehen Sie genau hin. Sie können den Abdruck eines Instruments sehen, das bis zum Heft hineingestoßen wurde.«

Kate ging in die Hocke und linste auf den kleinen Höcker geronnenen Bluts. Er war nicht nur von der unregelmäßigen rosa Verfärbung umgeben, sondern lag auch exakt in der Mitte eines in die Haut eingedrückten Kreises, vielleicht zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser. Sie hatte schon Eispickel-Morde gesehen, aber jene Wunden waren Folgen blutiger Bandenkämpfe oder, nach einem Mord aus Leidenschaft, viele Stiche gewesen, aus denen das Blut überallhin gespritzt war.

»Er kann doch nicht erstochen worden sein«, protestierte Cameron. »Es ist ja kaum Blut zu sehen.«

»Wenn man keine Vene oder Arterie trifft und bei einer einzigen Punktierung mit einer spitzen, dünnen Klinge ist eine ganz geringe äußerliche Blutung nicht ungewöhnlich. Die Klinge ist wahrscheinlich innen abgebrochen und versiegelt damit zusätzlich die Wunde.«

»Man würde aber doch annehmen, dass etwas Blut durch sein Hemd dringt.«

»Ist es vielleicht auch.« Everson drückte den Stoff des Hemdes zusammen. »Das Material ist ziemlich dicht gewebt …« Er ließ das Gewebe los und hielt seine behandschuhten Finger hoch; sie waren rosa verschmiert. »Das Hemd hat einiges davon aufgesogen.« Mit seinem goldenen Stift beschrieb er einen großen Kreis über dem Rücken des Mannes. »Innerlich ist dieser Kerl eine einzige heftige Blutung. Wenn man ihn herumrollt, sieht er aus, als wäre er im sechsten Monat schwanger. Innerlich ist er ein blutgefüllter Ballon.«

»Sehen Sie sich seine –«

Cameron brach ab, als Kate ihn kräftig mit dem Ellbogen stieß. Sie wusste, dass er die Hände des Toten erwähnen wollte.

»Sehen Sie sich was an?«, fragte Everson aufblickend.

»All diese Leberflecke«, sagte Cameron. »Der Mann war ein Kandidat für Hautkrebs.«

»Eine Todesursache, die einem Eispickel vorzuziehen wäre. Ist es das, was in Ihnen bohrt, Detective? Verzeihen Sie das Wortspiel.« Everson gab ein kurzes gackerndes Lachen von sich. Er hob eine Hand des toten Mannes an, zog ein Vergrößerungsglas aus seiner schwarzen Tasche und blickte hindurch. »Sieht aus, als hätte er in den Teergruben gespielt.«

Kate sagte mit einer Geste: »Die Bank da drüben ist voller alter Teerspuren.«

»So, so« sagte Everson und sah sie vielsagend an. »Ich schätze, Sie beide haben einen ziemlich genauen Blick auf den Verstorbenen geworfen, bevor ich hier war.«

Kate sagte vorsichtig: »Es ist uns sehr bewusst, dass das Berühren der Leiche in Ihren Kompetenzbereich fällt.«

»Erfahrene Kriminalbeamte der Mordkommission wie Sie gewöhnen sich manchmal zu viel Eigenmächtigkeit an in der Frage, was sie an einem Tatort tun dürfen«, sagte Everson und nahm ein Aufnahmegerät und einen Notizblock aus seiner schwarzen Tasche. »Ich möchte nicht, dass jüngere Ermittler, wie unser Joe hier, denken, das sei eine gute Idee.«

»Verstehe, Walt«, sagte sie.

Er nickte. »Wir packen seine Hände ein, um genau zu untersuchen, was unter seinen Nägeln ist. Wenn Ihre Experten die Bank auf Fingerabdrücke untersucht haben, oder was immer Sie veranlassen wollen, setzen Sie oder Ihr Partner sich mal dort drüben hin. Überlegen Sie, wie Sie einen Eispickel unter der Banklehne durchschieben können, etwa an der Stelle, an dieser arme Kerl ihn abgekriegt hat.«

»Ich glaube Ihnen jetzt schon, Walt«, sagte sie.

Cameron sagte: »Sie denken, jemand schlich sich von hinten an ihn heran, führte die Tat aus, und er ist dann aufgestanden, hierher getaumelt und abgekratzt?«

»Wir wollen lieber sagen, er ist verschieden. Aber ja, ich wette, jemand wusste genau, wo man einen Eispickel ansetzen muss. Hat sich vielleicht sogar neben ihn gekniet, um einen guten Winkel und den nötigen Schwung zu haben, und vollführte dann einen irischen Volkstanz mit dem Eispickel, riss ihn im Körper herauf und herunter und drehte ihn herum, so dass er alles durchstach und zerfetzte, auch seine Lungen und sein Herz, bevor die Klinge abbrach. Das Opfer schaffte es, auf die Füße zu kommen. Und dann, wie Sie so schön sagten, kratzte er ab.«

Kate wurde übel. Cameron, eine Spur blasser als sonst, fragte leise: »Könnte eine Frau das ebenso gut tun wie ein Mann?«

»Sicher. Man braucht überhaupt keine Kraft, um mit einem dünnen, spitzen Instrument in den menschlichen Körper einzudringen, solange man nicht durch die Knochen bohrt.«

»Sieht mir nach einem Profi aus«, murmelte Cameron zu niemand Bestimmtem. »Als ob es ein Auftragsmord ist.«

»Unser Opa hier war bei der Mafia, was?«, spottete Everson.

Cameron zuckte die Schultern, seine Lippen zusammengepresst. Everson sagte zu Kate: »Seine Temperatur ist messerscharf normal, entschuldigen Sie den Ausdruck, Todeszeitpunkt also innerhalb der standardmäßigen drei Stunden. Aber das wissen Sie ja schon – unmöglich, dass er hier mehr als ein paar Minuten liegen könnte, ohne dass einer dieser braven Bürger ihn finden würde.«

Kate nickte und schrieb die offizielle Angabe der Todeszeit pflichtgemäß in ihr Notizbuch.

»Scheußlich, aber schnell«, sagte Everson. »Ein schönerer Tod als durch ein Melanom«, fügte er hinzu und nahm sein Aufnahmegerät. »Also, wenn ihr beiden Schnüffler mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss arbeiten.«

»Walt, würden Sie nachsehen, ob er einen Ausweis dabeihat?«

Er sah sie an und tat überrascht. »Sie wollen mir weismachen, Sie haben tatsächlich keinen genaueren Blick auf ihn geworfen, bevor ich hier war? Was ist bloß aus den Kriminalbeamten geworden?« Er griff nach dem Gürtel des Toten und hob die rechte Seite seines Körpers leicht an, tastete die vordere Tasche ab, griff dann hinein und zog eine dünne, schäbige Brieftasche heraus. Er stand auf und gab sie Kate.

Der Führerschein steckte hinter einer gelben Plastikfolie. »Herman Layton«, las sie Cameron vor. »Geburtsdatum elfter elfter einundzwanzig.« Das Opfer war fünf Monate jünger, als ihr Vater jetzt wäre, wenn er noch lebte. »Eine Adresse in der Tilden Avenue, West Los Angeles.« Während sie laut vorlas, schrieb er mit.

»Da komme ich gerade her«, sagte Everson. »Nicht genau die Straße, aber ganz in der Nähe, Veteran Avenue. Drüben bei der Universität von Los Angeles. Hätte ich das gewusst, hätte ich für Sie die Angehörigen benachrichtigen können.«

»Ich wünschte, das hätten Sie«, sagte Kate. Verwandte waren im Schockzustand meist eher unvorsichtig und freigiebig mit Informationen, daher erfuhr sie oft Wesentliches dabei, aber diesmal grauste ihr vor der Benachrichtigung der nächsten Angehörigen. Sie inspizierte das Scheinfach der Brieftasche und zählte drei Zwanziger und vier Eindollarscheine. Zumindest war es kein Raub, es sei denn, der Angreifer war gestört worden. Dem Führerschein gegenüber steckte das vergilbte Foto einer jungen, blonden, aristokratisch aussehenden Frau in der schwarzen Robe und dem Doktorhut einer College-Absolventin.

»Wir beschlagnahmen das Foto«, sagte sie zu Everson.

Er nickte, notierte es sich, und sie nahm das Bild aus der Brieftasche und schob es in die Brusttasche ihres Blazers. Im selben Fach der Brieftasche steckte eine einzelne weiße Karte. Unter der gedruckten Zeile ›Im Notfall zu benachrichtigen‹ stand handgeschrieben: Dr. Peri Layton, mit zwei Telefonnummern. Eine davon gehörte zur Universität von L.A., die andere zu einer Adresse am Ophir Drive, ebenfalls in West Los Angeles.

Everson, der eine Plastiktüte für die Brieftasche hervorholte, fragte: »Wann haben Sie zuletzt so eine ›Zu benachrichtigen‹-Karte in einer Brieftasche gesehen?«

»Kann mich nicht erinnern«, sagte Kate. »Vielleicht noch nie.«

»Sehr aufmerksam von ihm.«

»Peri Layton«, sinnierte Everson und studierte die Karte über ihre Schulter hinweg. »Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Ja, mir auch«, sagte Cameron. »Ganz bestimmt.«

Kate sah beide an.

»Verdammt, es fällt mir nicht ein«, sagte Cameron.

Everson zuckte mit den Schultern. »Mir auch nicht. Ich gehe alle Bekannten durch, aber keiner schreit ›hier‹.« Er hockte sich wieder neben die Leiche ins Gras. »Gehen Sie und fangen Sie den, der diesen armen Hurensohn allegemacht hat«, sagte er zum Abschied.

3. Kapitel

Bougainvillea, ganz in Purpur, Orange und Weiß, erhob sich weit über die Dächer der Tilden Avenue, einer Straße südlich des Sunset Boulevard mit üppig angelegten Gärten, überquellend von Rosen und Fleißigen Lieschen. Sie lag nördlich der Montana Avenue, wo Kate früher gewohnt hatte, zwischen der Bentley und der Veteran Avenue, die an dem ausgedehnten Veteranenfriedhof mit seinen weißen Kreuzen und stillen grünen Flächen entlangführte. Die Adresse auf Herman Laytons Führerschein gehörte zu einem kleinen Gästehaus hinter einem weißen Gebäude im Ranch-Stil mit einem Dach aus rohen, übergroßen, dunkelbraunen Schindeln. Als Kate und Cameron auf einen bemoosten Plattenweg zugingen, der sich um gut geschnittene Büsche schlängelte, bewegte sich im vorderen Haus ein Vorhang.

Jedes einzelne Fenster des hinteren Häuschens, ebenfalls weiß und mit einem Dach im gleichen Stil, war zusätzlich zu den Fensterläden mit Gittern verrammelt. Kate klopfte mehrmals, obgleich ihr Instinkt ihr sagte, dass sie keine Antwort erhalten würde.

Sie und Cameron gingen auf demselben Weg zurück zum Haupthaus. Sie klingelte. Aufgrund der verräterischen Bewegung des Vorhangs klingelte Kate hartnäckig.

Schließlich befahl eine missmutige männliche Stimme mit starkem jiddischem Akzent: »Gehen Sie, ich hab schon eine Religion. An Ihrer bin ich nicht interessiert.«

»Polizei«, rief Kate zurück. »Bitte schauen Sie durch Ihren Spion, Sir, ich zeige Ihnen meine Dienstmarke.«

In das geräuschvolle Aufschließen einer ganzen Reihe von Schlössern murmelte Cameron: »Das ist das erste Mal, dass ich für einen Zeugen Jehovas gehalten wurde.«

Ein bärtiges Gespenst von einem Mann schob die Tür auf, Hosenträger liefen von einer ausgebeulten Hose über seine gekrümmten Schultern. Kate stellte sich und Cameron vor; der Mann nickte, antwortete aber nicht. Sie fragte höflich: »Dürfen wir hereinkommen, Sir?«

Der Mann schüttelte energisch ablehnend den Kopf. »Warum kommt die Polizei zu meinem Haus?«

»Der Mann in dem Häuschen hinter Ihrem –«

Wieder schüttelte der Mann heftig den Kopf. »Ich weiß nichts über meinen Mieter.«

Kate war daran gewöhnt, in den östlichen und südlichen Teilen ihres Bezirks auf Misstrauen und Feindseligkeit zu stoßen, aber nicht in dieser Oberschicht-Gegend von West Los Angeles, wo Polizeischutz gern angenommen und willkommen geheißen wurde. »Es ist wichtig, Sir. Lebt jemand dort hinten mit Mr. Layton zusammen?«

»Nein. Ich weiß nichts über ihn. Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten. Mr. Layton kümmert sich um seine Angelegenheiten.«

»Seit wann ist er denn schon Ihr Mieter?«

»Von mir erfahren Sie nichts.«

»Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Von mir erfahren Sie nichts.« Der alte Mann setzte an, seine Tür zu schließen.

»Mr. Layton ist tot«, sagte Kate unverblümt.

Der alte Mann erstarrte auf der Stelle. Dann öffnete er die Tür, trat zur Seite und verkündete: »Wenn Sie das gleich sagen, spielen wir kein Ratespiel.«

Sie nickte. Er hatte recht, aus seiner Sicht.

Sie und Cameron folgten dem Mann, der in Hausschuhen vor ihnen herschlurfte, in einen kleinen, kaum möblierten Salon. Er bedeutete ihnen, sich zu setzen, wählte für sich einen prall gepolsterten Sessel und überließ ihnen das dazugehörige Sofa, dessen Lehne eine grobgewebte weiße Wolldecke verhüllte.

Cameron sagte: »Darf ich fragen, wie Sie heißen, Sir?«

»Meyer Silverman. Es ist gut, dass Sie diese unfähige Frau nicht das ganze Gespräch führen lassen.«

Camerons Gesicht verdunkelte sich. »Sie ist meine Partnerin«, sagte er. »Wir führen beide dieses Gespräch.«

 

Nach diesem unverhohlenen Hinweis, wer von ihnen fähiger war, die Befragung durchzuführen, lehnte Kate sich in dem harten Sofa zurück. Camerons Neigung, durch seine wechselnde Gesichtsfarbe seine Gefühle zu verraten, war, so dachte sie, bei einem Detective der Mordkommission eine echte Schwäche. Dennoch, seine Ausstrahlung enthielt eine Spur von Härte, die auch sein adrettes Jackett mit Krawatte nicht schmälerte. Mit seinem festen, sehnigen Körper und seinen kantigen Gesichtszügen sah er aus wie jemand, der auf sich aufpassen konnte. Ihr Vater hätte ihn als einen ganzen Mann bezeichnet.

Cameron sagte: »Detective Delafield hat Sie gefragt, wie lange Mr. Layton Ihr Mieter war.«

Silverman strich sich über den Bart und forschte in seinem Gedächtnis. »Er kam her im Sommer 1970. Siebenundzwanzig Jahre.«

»Was wissen Sie über ihn?«

»Nichts. Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten.«

»Nichts, Mr. Silverman?«, fragte Cameron höflich, aber mit deutlicher Schärfe in der Stimme. »Nach siebenundzwanzig Jahren wissen Sie nichts?«

»Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten«, sagte er. »Er steckt jeden Monat seinen Scheck in meinen Briefkasten, er geht seiner Wege und ich gehe meiner.«

Cameron zeigte mit dem Daumen auf die Vorhänge an den Fenstern hinter ihm. »Sie haben keine Gitterstäbe an Ihrem Haus. Warum die Gitter vor Mr. Laytons Fenstern?«

»Er sagte mir, er brauche sie.« Silverman zuckte mit den Schultern. »Er versuchte mir einzureden, ich müsse sie bezahlen. Ich sagte ihm, es wären seine Gitter, nicht meine.«

»Wann war das?«

»Als er eingezogen ist. Noch in derselben Woche.«

»Wovor hatte er Angst?«

Er zuckte wieder mit den Schultern. »Wir haben alle vor irgendwas Angst.«

Kate, die Meyer Silverman auf Mitte siebzig schätzte, fragte sich, ob seine misstrauische Art aus einem Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg stammte, ob er ein Opfer des Naziterrors war.

Cameron fragte: »Hatte er jemals irgendwelchen Besuch?«

»Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten.«

»Ja, das haben wir verstanden. Aber während der letzten siebenundzwanzig Jahre haben Sie Leute auf dem Weg zu seinem Haus gesehen, zumindest zufällig.«

Silverman nahm die klassische Haltung widerstrebender Kooperationsbereitschaft ein, er schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme fest vor seiner Brust. »Manchmal vielleicht, ja. Ich weiß nicht, wer sie sind.«

»Wohnt außer Ihnen noch jemand hier im Haus?«

»Nicht mehr«, sagte Silverman leise.

»Verstehe«, sagte Cameron, seine Stimme mitfühlend gedämpft. »Die Leute, die Sie gesehen haben, waren das Männer? Oder Frauen?«

»Männer, verschiedene Männer, und zwei Frauen, manchmal. Sonst weiß ich nichts. Warum all diese Fragen?«

Kate fischte aus ihrer Brusttasche das Foto, das sie in Herman Laytons Brieftasche gefunden hatte, und gab es Cameron.

Cameron lehnte sich vor, hielt Silverman das Foto hin. »Ist das eine der beiden Frauen?«

Silverman faltete seine Arme auseinander, zog eine Brille aus der Tasche seiner ausgebeulten Hose und setzte sie auf. Die Gläser waren so von Fingerabdrücken verschmiert, dass Kate sich fragte, wie sie seine Sicht verbessern konnten.

»Ich glaube, vielleicht … ja, die Jüngere«, sagte er, ein Auge geschlossen, mit dem anderen auf das Foto linsend. »Das ist ein altes Bild.« Er setzte die Brille ab und stopfte sie zurück in die Tasche. Er fragte mit deutlichem Unbehagen: »Was ist mit Mr. Layton passiert?«

»Er wurde getötet«, sagte Cameron.

»Getötet? Bei einem Unfall?«

»Kein Unfall. Es tut mir leid, Mr. Silverman, das ist alles, was wir Ihnen sagen können, bis wir seine Angehörigen informiert haben. Läuft Mr. Laytons Mietvertrag nur auf seinen Namen?«

Silverman nickte.

Cameron sagte: »Sie müssen uns Zugang zu seinem Haus verschaffen.«

Er hob die mit Altersflecken übersäten Hände. »Er brachte die Gitterstäbe an, und er tauschte die Schlösser aus.«

Kate und Cameron wechselten einen Blick. Mindestens siebenundzwanzig Jahre seines Lebens hatte Herman Layton hinter Gittern gelebt, in einem von der Straße aus kaum sichtbaren Haus; er hatte niemandem getraut, nicht einmal seinem Vermieter.

»Hatten Sie je Probleme mit Mr. Layton?«, erkundigte sich Cameron.

»Nein. Keine Probleme. Er schien ein guter Mann zu sein. Ruhig.« Resigniert fügte er hinzu: »Heutzutage wird man von der Stadt gezwungen zu vermieten, man kann die Miete nicht so hoch ansetzen, wie sie sein müsste. Wenn man einen neuen Mieter bekommt, muss man ihn behalten, egal wer er ist oder ob er alles kaputtmacht.«

Kate nickte Cameron zu und stand auf. Trotz Silvermans Behauptung, dass er keinen Schlüssel hatte, würde sie einen Streifenbeamten auf dem Grundstück stationieren, bis sie und Cameron die Möglichkeit hatten, das Häuschen zu betreten und eine Durchsuchung vorzunehmen. Cameron sagte: »Wir werden heute noch mal wiederkommen, Mr. Silverman, und wir werden ins Hinterhaus gehen.«

»Und ich«, sagte er verdrießlich, »ich muss einen neuen Mieter finden.«

Einige Blocks von dem Häuschen an der Tilden Avenue entfernt parkte Kate am Bordstein vor einem beige gestrichenen Haus. Es hatte Grundmauern aus alten Ziegelsteinen und eine ebensolche Auffahrt, etwas erhöht am Hügel gelegen, bewachsen mit Tagetes und Efeu.

»Schön«, sagte Cameron.

»Wie alles hier«, erwiderte sie. Diese Gegend in West L.A., zwischen dem westlichen Ausläufer des Universitätsgeländes von Los Angeles und dem San Diego Freeway, besaß die gleiche vornehme und gepflegte Atmosphäre wie einst das nahe Brentwood, ehe das Debakel um O. J. Simpson es in die Boulevardzeitungen und auf die Das-muss-man-gesehen-haben-Liste der Touristen gebracht hatte.

Kate hörte schnelle Schritte näher kommen, und noch ehe sie ihre Ankündigung und das Hochhalten ihrer Polizeimarke vor dem Türspion beendet hatte, wurde die Tür aufgerissen.

Die Frau im Eingang war die von dem Foto aus Herman Laytons Brieftasche, nur war sie mindestens zwanzig Jahre älter, und das Foto hatte Kate weder auf ein so edles Gesicht vorbereitet noch auf die weidengrünen Augen, deren Farbe durch die Intelligenz und Eindringlichkeit im Blick der Frau zu einem Strahlen intensiviert wurde. Kate und Cameron zeigten ihre Dienstausweise und Marken vor und Kate, von dem Gesicht und den Augen wie hypnotisiert, murmelte automatisch: »Ich bin Detective Delafield. Das ist mein Partner, Detective Cameron.« Sie erinnerte sich an den Doktortitel auf der Karte in Herman Laytons Brieftasche und fragte: »Sind Sie vielleicht Dr. Peri Layton?« Dem ersten Eindruck nach entsprach ihr ein Abschluss dieses Grades vollkommen.

»Ich bin vielleicht Peri Layton.« Die Stimme war rau – Lauren Bacall.

Kate fragte sich, ob Peri Layton für eine Verabredung gekleidet war oder ob sie immer Seidenhemden, elegante Hosen und Stiefeletten trug, noch dazu mitten an einem heißen Augusttag. »Wir müssen Sie sprechen, Dr. Layton. Dürfen wir hereinkommen?«

»Nur wenn Sie mit dem Dr. Layton aufhören und mich Peri nennen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und führte sie schnellen Schrittes einen Korridor entlang, während sie fortfuhr: »Es sei denn natürlich, Sie beide sind zufällig Studierende in meinem Seminar, und ich habe Sie aus irgendwelchen Gründen nicht gleich erkannt.«

Als sie den riesigen, sonnendurchfluteten Raum betrat, drang eine ganze Wand voller gerahmter Poster und Fotos vage in Kates Bewusstsein, ehe ihre Sinne von dem wilden Blumenmeer im Garten, hereingelassen durch die bis zum Boden reichenden Fenster, überwältigt wurden. Das Zimmer, angenehm gekühlt durch eine Klimaanlage, war ganz und gar erfüllt vom Duft der Rosen, die in Vasen auf einem Schreibtisch und auf mehreren Beistelltischchen standen.

Peri Layton setzte sich in einen Ledersessel vor einem Bücherregal, sein Inhalt ein einziges Durcheinander, und hob ihre bestiefelten Füße auf den dazugehörigen Polsterwürfel. Ein chaotischer Haufen von Büchern lag aufgeschlagen auf dem Tisch neben ihr. »Bitte setzen Sie sich und sagen Sie mir, was ich für das Los Angeles Police Department tun kann.« Ihre hinreißenden Augen ruhten auf Kate und musterten sie mit offener Neugier.