Rio - Santos

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Katharina Conti

Rio - Santos

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Pelé ist tot

Rio - Santos

Glossar

Impressum neobooks

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São Paulo gibt kein Bild, weil es seinen Rahmen ständig erweitert, weil es zu unruhig ist in seiner rapiden Veränderung.

Stefan Zweig, 1941

Pelé ist tot

Er war der Sohn eines verstorbenen Generals, Konsuls in Bolivien, eines Mannes, der sich verdient gemacht hatte um die Nation. Ricardo hieß er, liebte Männer, liebte auch schöne Frauen, weil sie Männer anziehen, der eine oder andere hängen bleiben, die Seite wechseln könnte. Ein begnadeter Geschichtenerzähler war er und unvergessen sein Pathos, wenn er von seiner Mutter, der Konsulin, erzählte, die aus dramatischem Anlass aus einer Gala in Santa Cruz de la Sierra gerissen worden war. Ein krankes Kind in Rio, und die Mutter an einem rauschenden Empfang weit fort am Fuß der Anden.

Schwarz und weiß erzählte er von damals, als Rio de Janeiro Hauptstadt war, das vulgäre Brasília noch nicht einmal auf dem Reißbrett, er der kleine Junge mit Masern; und endlich war man durchgekommen, war ein Bote in den hell erleuchteten Gouverneurspalast gesandt worden, riss sie aus dem Tanz. Die Masern! In Rio! Ihre Hand flog an ihr Herz! Seine eigentlich, doch sah man die ihre, elegant, anmutig auch im Entsetzen. Mein Kind!

Und die Männer ließen ihre Muskeln spielen, befahlen einen Offizier zum Flughafen. Eine Maschine soll bereit gemacht werden, Befehl des Gouverneurs, und eine Eskorte für die Dame; befahlen einen Wagen das Mädchen zu holen, den Pelz für Madame! Und man sah riesige Scheinwerfer angehen, Nebelschwaden, zerrissen von den Propellern einer langsam rollenden Maschine, sah Casablanca, Humphrey Bogart, immer schneller drehende Propeller, dann stellte sie richtig. Zwei Mädchen hatten sie begleiten müssen, man bedenke nur die Hutschachteln der damaligen Zeit.

Dreiundsiebzig war sie jetzt, lebte wieder in ihrer Heimatstadt São Paulo, sah aus wie sechzig und wenn ihr danach war, griff sie an einem Fest schon mal zum Mikrofon, schmetterte eine Arie, beherrschte jede Szene und manche fragten sich immer wieder, wer denn nun der General gewesen war, wenn sonntags ihre Stimme über den Spieltisch gebot, an dem die immer gleichen Leute saßen. Der alternde Kritiker, peinlich in seinen Bemühungen jung zu erscheinen; die verwelkende Kolumnistin, blond gefärbt, mit riesenroten Lippen, Krallen, vor denen man sich fürchtete, wenn sie zu viel getrunken hatte. Sie wurde bösartig, wenn sie trank, schimpfte über all die Feste, all die Leute, die sie ohne sie gaben, weil sie bösartig wurde, wenn sie trank, trank fast ununterbrochen und nur die Stimme sie zu ducken, aufs Spiel zu zwingen; man wollte es schließlich gewinnen.

Fermin war auch da, kam jeden Sonntag zum Mittagessen, zum Kartenspiel, kam auch zu den Partys, die weniger geworden waren, nicht mehr so rauschend. Das Essen ließ manchmal zu wünschen übrig, der Wein, auch für weniger verwöhnte Gaumen. Aber das störte ihn nicht, er war da, immer auf der hoffnungsvollen Suche nach einer reichen Frau - die Zeit wurde immer reifer -, immer bereit zu Schmeicheleien für einen Mann. Zu mehr konnte er sich nicht durchringen, nicht so lange es Frauen gab; und er kam zum Kartenspiel, war Hahn im Korb, war der Jüngste, war Weichspüler für die Stimme der Konsulin.

Ricardo spielte selten, eigentlich nur an den Turnieren, die sie manchmal gaben, an denen es hoch herzugehen pflegte, dem Sieger ein hübscher Gewinn winkte. Manchmal sprang er ein, im äußersten Notfall nur, zog es ansonsten vor, den Sonntag zu genießen, seinen Schönheitsschlaf weit in den Morgen hinein; die Gäste, die kamen, Sé Carlos, der auch sonst immer da war, der sein Mann gewesen war, seine Frau - jetzt waren sie Freunde, waren verbunden in Vertrautheit; zwei, drei seiner Kunden, die nie müde wurden sein Geschick im Auftreiben ganz wundervoller Stücke, mit denen sie ihre Heime schmücken konnten, zu preisen; die jungen Leute, die kamen, weil sie sich etwas erhofften, weil ein Wort von ihm Türen öffnen konnte, so wünschten sie es sich wenigstens, die angehenden Schauspieler, Models, Künstler im Allgemeinen.

Ricardo selbst war unermüdlich, sie in ihren Hoffnungen zu bestärken, auch wenn seine Kundschaft stetig kleiner wurde, schrumpfte auf ein paar Neureiche. Die alten Vermögen konnten sich nicht mehr viel leisten, waren am Schwinden, zusammen mit der Macht der Militärs, und die Inflation tat das ihrige. Es kümmerte ihn nicht. Sie würde kommen, die rechte Eingebung, und dass die großen Gesellschaften weniger wurden, störte ihn auch nicht. Er genoss seine Sonntage, die Gegenwart einfacher Leute, die zu Geld gekommen waren, kommen wollten, andächtig den Erlebnissen seiner Reisen lauschten.

Und so verbrachte er angenehme Tage, angenehme Abende, bis er einmal von herrlichen Abendspaziergängen schwärmte, als komme das Schlendern durch Pariser Gassen einem Liebesakt gleich und sie ihn plötzlich wurmten, die Einschränkungen, die ihnen auferlegt waren. Augenblicklich beschloss er sie aufzuheben und so schäumend war sein Enthusiasmus, dass niemand groß Widerstand leistete, als er vorschlug, zum Brahma zu spazieren.

Ah das Brahma! Das waren Zeiten, als das Brahma noch das Brahma war. Die Größen der Stadt hatten sich dort getroffen, die Theaterleute nach den Vorstellungen, alles was Rang und Namen hatte. Auf ein Bier würde man hingehen, es war nicht weit, nur ein paar hundert Meter durch das Herz des alten São Paulo, das schon längst nicht mehr schlug, und selbst der gerissene Geschäftsmann, der die kleine Schreinerei seines Immigrantenvaters zu einem der größten Möbelhäuser der Stadt gemacht, hatte sich mitreißen, seine Bedenken gegenüber dem gefährliche Vorhaben, im Dunkeln an der Praça da República entlang zu flanieren, fortspülen lassen vom allgemein begeisternden Europa-Feeling. Er bewunderte Ricardo, seine alte Familie, die Konsulin, den unbekümmerten Charme, als sei das Leben ein Spiel, das man jederzeit setzen kann; und sie machten sich auf den Weg, ließen die Praça links liegen, es war doch sehr dunkel unter den Bäumen und Büschen, gelangten ohne Zwischenfälle ins Brahma.

Müde Blicke von alten Kellnern streifte die große Gruppe, aufgeraut empfing sie das Leder abgenutzter Sitze, das Licht der Lüster glänzte trübe auf den messingenen Verzierungen der Lehnen, brach sich matt in herrlichen, halbblinden Spiegeln, und Ricardo erzählte vom Glanz vergangener Tage, als das Brahma noch das Brahma war, die Stadt ein Gesicht hatte, eine Straßenbahn, das Teatro Municipal mit seinen gloriosen Aufführungen, das jetzt still vor sich hin rottete, weil für sowas nun wirklich kein Geld da war.

Schwarz und weiß erzählte er, das Brahma mischte einen Tupfen verblichenes Rot hinzu, einen blassen Schimmer Gold, ein müdes Lächeln von schlurfenden Kellnern; und man trank Bier und Caipirinha, fühlte sich beruhigt, aufgehoben nach dem unheimlichen Spaziergang, der so unheimlich gar nicht gewesen war, vergaß ihn über dem Lachen, Schwatzen, hatte es auch nicht mehr eilig auf dem Heimweg, die Luft so mild, und über dem allgegenwärtigen Gestank der Abgase schwebte der Duft der Praça mit ihren abertausend Blüten und Pflanzen, machte die Älteren jünger, versetzte sie zurück in eine Zeit als dies eine gute Gegend war.

Und dann eine Bewegung! Und ein gespenstisches Loch in die Dunkelheit reißend torkelte eine Gestalt ins Licht, grau wie der Tod, wie der Schimmel auf ihrer Haut, im Filz ihrer Haare, aufgeschreckt aus dumpfem Siechen von lachenden Stimmen, die so plötzlich verstummten beim Anblick der Kreatur, dass diese erstarrte, als hätte sie mit sehenden Augen einen Spiegel vorgehalten bekommen.

Die paar Mutigen der Gruppe rotteten sich zusammen, drängten alle zu einem Haufen, gingen schneller, wachsam plötzlich, erwacht, wie der Wind, der mit einem heftigen Stoß durch die Bäume der Praça strich, wie die düsteren Torbogen, in denen Grauenvolles sich bewegte. Hirten gleich trieben sie Frauen und Schwule über die Straße, traten ins Licht der Avenida, waren gerettet, man lachte schon wieder, wenn auch leicht gekünstelt, und nur die Stimme von Sé Carlos überschlug sich, kippte bedenklich, als er Ricardo bat, die Ipiranga nie mehr mit den Champs Elysée zu verwechseln, ihrer aller Leben aufs Spiel zu setzen!

War er nicht lächerlich? Gab es diese Gestalten nicht überall? Im Quartier Latin, im Soho, Trastevere, diese Säufer, die auf den Straßen hausen? Und war ihr Los hier nicht um einiges besser, als das der Kollegen in Übersee? Man bedenke bloß die langen Winter. So spottete Ricardo über Sé’s Hasenherz während sich der Wunsch nach Gefahr in seine Seele fraß, sich vermischte mit der Lust auf Elend, dem Grauen erregenden Prickeln im Angesicht menschlichen Abfalls, dem er entkommen war, dem er auf fast sehnsüchtige Art und Weise wieder begegnen wollte. Einen weiteren Blick noch in den Abgrund.

 

Die Konsulin aber hatte Pläne mit Ricardo. Es war an der Zeit, dass er in die Fußstapfen seines Vaters trat und sich mit Politik befasste. Nur die Politik, um ohne große Anstrengungen das Familienvermögen wieder herzustellen, und auch sein Alter würde kein Hindernis sein. Er war etwas über Fünfzig, war eine ungemein charmante Erscheinung. Natürlich kam nicht jeder Posten in Frage, sie war Realistin, kannte ihren Sohn und auch wenn sie tief in ihrem Innern seine sexuelle Abnormität, wie sie es noch tiefer in ihrem Innern nannte, verabscheute - er war doch immerhin der Sohn eines Generals! -, akzeptierte sie seine Veranlagung, weil er erstens ihr Kind und überaus diskret war und man zweitens auch gar nichts tun konnte. Etwas abzuzweigen jedoch gab es überall, und sie hatte bereits einen Posten ins Auge gefasst.

Das Teatro Municipal, der verlotterte Stolz der Stadt! Er würde ihn auferstehen, in neuem Glanz erstrahlen lassen! Hungerten sie denn nicht nach großen Namen? Hatten sie denn nicht den Betonklotz gefüllt, der eingeklemmt zwischen Autobahnen, halb zerfallenen Lagerhallen und der traurigen Kloake des Tietê am Rande der Stadt steht? Dieses Anhembi mit der grauenhaften Akustik, um die New Yorker Philharmoniker zu sehen? Sie hatte nicht die geringsten Zweifel. Ricardo war der Mann für das Teatro Municipal und Rodrigo Furlàm der Politiker, den es zu unterstützen galt.

Und sie ließ ihre Beziehungen spielen, traf sich mit den Damen der Gesellschaft, mit denen des katholischen Frauenbundes, sicherte sich deren Hingerissenheit von dem Projekt, trieb es voran, weil sie mit dem untrüglichen Instinkt der Mutter - der gegeben ist, auch wenn sich manche Mütter etwas schämen für ihre Kinder - bemerkt hatte, dass die Zeit drängte, Ricardo eine Verhaltensänderung an den Tag legte, die man nur als beunruhigend bezeichnen konnte. Träge war er geworden, lasch in seinen Gewohnheiten, sein Äußeres zeigte einen Anflug von Schlampigkeit und er verbrachte viel Zeit mit Fermin, trank Whisky, unterhielt sich über Dinge, die in dem Moment belanglos wurden, als eine weitere Person hinzutrat.

Dieser Zerfall an Ehrgeiz war beängstigend. Die Konsulin verdoppelte ihre Bemühungen und nachdem sie sich auch die Unterstützung der zukünftigen Ersten Dame der Stadt gesichert hatte, die Zeit für gekommen hielt, unterbreitete sie Ricardo seine glänzende Zukunft. Unter ihren trockenen Worten wurde er zum Intendanten, der die großen Häuser der Welt bereist, um Inspirationen nach Hause zu tragen, umgeben von Stars und Größen, und der Verheißung, das prächtige Gebäude sein Reich zu nennen, es wieder zu beleben, einem Phoenix aus der Asche gleich, war die keimende Kraft seiner neu entdeckten dunklen Interessen nicht gewachsen, machte auch die Tatsache vergessen, dass der zu umwerbende Politiker Furlàm war.

Gouverneur war der gewesen unter dem vorigen General, hatte geholfen, das Wirtschaftswunder anzukurbeln, von sämtlichen Steuern und Auflagen befreite Industrien in die Stadt zu lotsen, hatte Straßen bauen lassen. Einige wenige, die etwas verbanden, sein Farmland erschlossen, andere, die irgendwo ins Nichts führten; Brücken, Teile von Brücken, die Jahrzehnte lang in der Landschaft herumstanden, hässliche Ruinen alter Schmiergeldzahlungen, aus deren Enden abgerissene Strahltrosse hingen, durchgetrennten Nervensträngen gleich. Blitzschnell hatte er die vermeintliche Chance erkannt, die sich ihm eröffnen könnte mit dem angekündigten Rückzug der Herren in dunklen Sonnenbrillen, hatte versucht, nach dem höchsten Amt im Land zu greifen und wie einen räudigen Köter hatten sie ihn verjagt, die Coroneis aus dem Norden und Nordosten, für die alle südlich von Rio lausige Kolonisten sind.

Glühend war er in Opposition gegangen, hatte die Wiederwahl zum Gouverneur verloren, weil selbst die Ärmsten der arbeitenden Klassen ihm nicht hatten verzeihen können, dass er seinen Hauptgegner vor laufenden Kameras der Korruption bezichtigt hatte, da der doch einige Male mit Kuverts bei ihm im Palast erschienen sei. Patrão war der, gab Tausenden Arbeit, Hunderttausenden, die Sympathien der kleinen Leute hatten von Anfang an ihm gegolten, all ihre Hoffnungen. Er würde es richten. Er hatte aufgegeben, hatte sich keine Anwürfe gefallen zu lassen von schmierigen Beamten, die sich schamlos bereichern, das faule System aufrecht erhalten mit allen Mitteln. Er selbst kam nicht umhin es zu benützen.

Mit zerrütteter Eitelkeit hatte Furlàm sich zurückgezogen, seine Strategien überdacht; seine Gattin gab Gesellschaften, an denen fleißig für die Armen gesammelt wurde, er ließ Wasserleitungen in einige Favelas ziehen, versorgte ein paar Vorortsschulen mit Reis und Bohnen, deformierte zum Ehrenmann, verwies bis in die kleinlichsten Details auf die Vergehen des amtierenden Bürgermeisters, verging sich in Posen und Pathos. Sein Äußeres war genau so unangenehm. Feist, die Lippen wülstig, die Augen wässerig vor ständiger Gier, die auch die dicken Brillengläser nicht verbergen konnten, die Haut schwammig, ungesund und großporig und seine Aufgeblasenheit einfach nur erstaunlich, war er doch in der Lage, jedem unbeteiligten Ausländer, auf den er irgendwo treffen mochte, die Situation seiner diversen Konten an der Zürcher Bahnhofstrasse darzulegen, Vor- und Zuname seines Beraters zu nennen, um sich dann ganz plötzlich unter komischsten Verrenkungen einem Fotografen zuzuwenden, sich von seiner besten Seite zu zeigen.

Furlàm steht für seine ganze Klasse und Jahre nach den Ereignissen dieser Geschichte war er immer noch da, ließ sich aufstellen für das Amt des Gouverneurs, Bürgermeisters, Senators, was gerade anstand, gewann immer mal wieder - die Alternativen genau so kläglich -, war Politiker mit Leib und Seele, verantwortlich für Not und Elend, ein Schmarotzer und Dieb und sein letzter Wahlspruch lautete: Wir stehlen wie alle anderen, aber wir tun wenigstens was! Sie liebten ihn dafür.

Mit diesem abstoßenden Ausbund an Geschmacklosigkeiten, diesem zeckengleichen Springteufel, der Bürgermeister werden musste, befassten sich nun also Ricardo und seine Mutter, schmeichelten ihm mit ihrem alten Namen, ihrem guten Geschmack, gaben Gesellschaften für ihn, fühlten sich in ihrem Rang bestätigt, wenn die Polícia Militar den Häuserblock absperrte, unglaublich männliche Leibwächter sich an den Eingängen postierten; und sie sammelten Geld, mit dem sie auch ihre Unkosten deckten, taten was sie konnten, aber dann verlor Furlàm auch diese Wahl und Ricardos Enttäuschung hielt sich in Grenzen.

Kapitel 2

Sie nannten ihn Aranha, weil er wie eine Spinne Mauern hoch krabbeln, sich totstellen, zusammengerollt liegen bleiben konnte, bis eine Gefahr vorüber war. Wie alt er war, wusste er nicht, das wusste keiner in seiner Bande, aber seine Stimme machte manchmal komische Schwankungen, die alle zum Lachen brachten, ihn selbst zur Weißglut. Er hatte Autorität zu wahren! Seine Erinnerung bestand aus der Straße und wie fast alle Kinder, die dort lebten, wusste auch er nicht, woher er kam. Vor einiger Zeit - seine alte Stimme hatte er noch gehabt - war er geflohen aus einer Gruppe brutaler Bettler, die zerlumpte Kinder vorschickten. Er war ihr Eigentum gewesen und sie hatten ihn geprügelt, wenn er nicht genug zusammengebracht hatte, ihn getreten, vergewaltigt und eines Tages hatte er sich davon gemacht, war auf einen Bus aufgesprungen, der ihn fort gebracht hatte in einen anderen Stadtteil, hinunter ins Centro, wo er eine Bande aufgespürt, tagelang umkreist und beschnüffelt hatte, hungernd nach der einzigen Wärme, die er kannte, die des Rudels, hatte mit hohlen Augen beobachtet, wie sie vorgingen.

Sie bettelten, vor allem in den Bäckereien, aus denen frühmorgens der Duft von gebratenem Speck und frischem Brot auf die Straße quoll, sich mit dem Verkehrsgestank vermischte; ergatterten viel Geschimpfe, niemand wollte sie im Laden haben, keine dieser zerlumpten Kindergestalten mit den Greisengesichtern, Banditen; ergatterten manchmal ein paar Brötchen von den Gutherzigen, weil sie doch Kinder waren, unschuldig an ihrem elenden Dasein. Manchmal kreisten sie ein Opfer ein, schnell und unbemerkt von unbedachten Leuten, Ausländern, die in den Banken arbeiteten, deren Sitz noch nicht an die Paulista verlegt worden war, die unbekümmert, als sei man in Wien oder Genf, durch die Straßen schlenderten, mit drallen Brieftaschen in den Taschen ihrer wohlgenährten Hintern, einer glänzenden Uhr am Handgelenk; einfache Beute.

Die Einheimischen waren vorsichtig geworden seit die Macht der Militärs am zerfallen war, eilten aufmerksam ihren Zielen entgegen, immer wieder nach links und rechts Ausschau haltend. Aber auch die erwischten sie, und immer nach dem gleichen Muster. Der Kleinste stellte sich vor das Opfer, bettelte, fragte etwas und dann schlug der Schnellste zu, entriss die Tasche, den Aktenkoffer, Portemonnaie, die Uhr, was immer es war, rannte. Augenblicklich erschien der größte, ihr damaliger Anführer Pretão, schrie Dieb, Überfall, schrie nach der Polizei, rannte hinterher, als wolle er ihn verfolgen, gab ihm Deckung, wie der Rest der Bande, der gestikulierend und schreiend die Szene vollends verwirrte.

Aranha beobachtete, zog immer engere Kreise um die Gruppe und als dann vor aller Augen der Renner, begeistert über den Fang einer goldenen Uhr, auf die Straße rannte, geradewegs vor die Räder eines anfahrenden Busses, es ein Geräusch gab, als sei jemand auf Pudding getreten, ein Geräusch, das niemand hörte, weil es unterging im Lärm der Hupen, der kreischenden Bremsen, den Schreien des Bestohlenen, nahmen sie ihn auf. Er wurde ihr Renner und am Tag, an dem sie Pretão verloren, wurde er ihr Anführer.

Angemacht hatten sie Pretão, große Kerle mit wirren Blicken, hatten ihm einen Fünfziger versprochen, wenn er für sie Wache schieben würde. Ein Fünfziger bedeutete eine lange Zeit ohne Raub, ohne Betteln, tagelang Essen und Leim für alle, und Pretão war mitgegangen. Wie eine Leibgarde hatten sie ihn begleitet, seine Brüder im Elend, unbemerkt von den Kerlen, hatten mit ihm zusammen gewartet, versteckt hinter Mauerecken, bis der Laden ausgeraubt war, hatten zugesehen, wie er statt des Fünfzigers drei Kugeln ins Gesicht bekam und es auf alle Seiten spritzte. Sie waren auseinander gestoben, jeder in eine Richtung, hatten sich wiedergefunden auf der Schutthalde, beschützt von rostigen Fässern, hinter denen sie sich eingerichtet hatten, hatten sich Leimdämpfe reingezogen, sich besprochen mit den wenigen Worten, die sie kannten.

Was früher war, war ausgelöscht in seinem Hirn und nur manchmal, wenn er ein altes Weib roch, den Gestank von Cachaça hatte er eine Ahnung von Vergangenheit.

Pelé war anders, ganz anders. Er hatte eine Mutter gehabt, hatte sie begleitet, um zusammen mit ihren unzähligen Nachbarn die riesigen Müllhalden am Rande der Stadt zu durchwühlen, abzusuchen nach Brauchbarem, das gesammelt und zu Haufen geschichtet von Männern auf rostige Lastwagen geladen wurde. Die Crème des Abfalls. Von den noch nicht gänzlich verfaulten Resten durften sie mit nach Hause nehmen, was sie nicht gleich verzehren konnten. Bezahlt wurden sie auch, kriegten einen Lohn, sogar Pelé hatte eine Münze bekommen, hatte mit seiner Mutter in der Gemeinschaft der Müllschlucker gelebt, aufgehoben in ihren Strukturen, und er konnte noch weinen, wenn er sich mit ehrfürchtiger Liebe an Seu Mané erinnerte, der seinen Leuten schaute, so gut er konnte.

Ins Hospital hatte er ihn gebracht, nachdem er seine Füßchen an etwas Klebrigscharfem geschnitten, geweint hatte, nicht mehr hatte aufhören können, weil aus den Schnitten brandige Wunden geworden waren, die seine Beine auffraßen; geweint, als Seu Mané ihn und seine Mutter begleitet, bezahlt hatte, damit es schneller ginge, sie nicht stundenlang in der Schlange kranker Menschen hätten warten müssen; als er ohne Füße aufgewacht war, ohne einen Teil seiner Beine.

Er konnte noch weinen, wenn er an seine Mutter dachte, an den Mann, der immer wieder gekommen war, sich im Dunklen in der entferntesten Ecke des Verschlags auf sie drauf gesetzt hatte und sie hatten komische Laute von sich gegeben. Gefürchtet hatte er sich vor dem Mann, der ihn nicht gemocht hatte, weil er unnütz war, ein elender Krüppel, der nur aß, ihm die Mutter streitig machte. Wachsen würde er auch, noch mehr essen! Der Mann hatte die Mutter geschlagen, war fortgegangen, wiedergekommen bis ihr Bauch dick geworden, dann war er für immer verschwunden. Andere waren gekommen, andere Kinder, gingen mit auf die Müllhalden und nur er war zu nichts zu gebrauchen, war ein nutzloser Esser.

 

Dann hatte einer ihn mitgenommen, ihm eine Busfahrt versprochen, weil er doch nirgendwo hinkam, hatte ihn weitergegeben an einen anderen, der mit ihm fort gefahren war und die Wolkenkratzer, die er immer nur weit am Horizont hinter dem Müll hatte aufragen sehen, waren näher gekommen. Freundlich war der fremde Mann zu ihm gewesen, der Bus ganz voller Leute, und dann hatte er ihn hinaus getragen, war mit ihm über eine breite Straße gerannt, hatte ihn am Eingang eines riesigen, flachen Gebäudes auf ein Holzbrettchen mit vier Rädern gesetzt, ihm ein Kartonkistchen, in dem ein paar Münzen lagen, in die Hände gedrückt.

Ganz viele Autos standen da, funkelnd in der Sonne, manche kamen an, andere fuhren fort und unterbrochen gingen Leute an ihm vorbei, gingen durch große gläserne Türen, die sich ganz von alleine öffneten, gingen hinein in ein glitzerndes Unbekanntes, in das sie leere Wägelchen schoben, die voll bepackt wieder heraus kamen, gefüllt mit Essen, das er nur vom Fernseher kannte. Verwirrt und geblendet blieb er, wie der fremde Mann ihn hingedrückt hatte, blinzelnd und staunend, das Kistchen fest umklammernd.

Dunkel war es schon, als sie ihn abholten und er weinte, weil sie ihn nicht zurück zu seiner Mutter brachten, nie mehr zurückbringen würden, weil sie ihn ohrfeigten, als sie ihm beibrachten, was er zu sagen hatte zu den Donas, die im Supermarkt ein- und ausgehen. Nur dahocken, stumm wie ein Fisch, und die Gegend anstarren, das bringt nichts! Betteln musste er! Winseln, wie ein getretener Hund! Und sie machten es ihm vor, traten ihn in den Nebenraum, der schon voller Kinder war und das Mädchen hatte ein stinkiges Baby im Schoss. Ein Topf mit Bohnen stand auf dem Boden, einer mit Reis, Wasser, ein Nachttopf; er hörte wie sie die Tür verriegelten, weinte in Erinnerung an die wundersamen Gestalten, die an ihm vorbei gegangen waren. Kinder mit ganzen Beinen, Frauen, bei deren Duft er hätte ohnmächtig werden wollen, und manchmal hatte ein Wunderwesen eine Münze oder eine kleine Note in sein Kistchen gelegt.

Schnell lernte er die kümmerlichen Worte, die er brauchte für seine Arbeit, lernte seine Arme zu gebrauchen, um sie flehend zu erheben, um sich voran zu stoßen, wurde beweglich. Aber es dauerte lange, sehr lange in seinem kurzen Leben, bis er sich aufmachte seine Mobilität zu nutzen, und dann gab es kein Halten mehr. Immer wieder stahl er sich fort von seinem Platz, hinunter zu der großen Straße mit den vielen Bussen und Autos, beobachtete seine Geschwister im Elend, wie sie an der Kreuzung Kaugummis verkauften, bettelten, bewacht von ihren Peinigern; schaute den wendigen Jungen zu, die an der Bushaltestelle zuschlugen, sich mit einer Handtasche aus dem Staub machten, hingerissen von ihren schnellen Beinen, schob sich dann mühsam zurück und der Kraft kaum bewusst, die durch die Anstrengung in seinen Armen wuchs, rollte er an seinen Platz vor dem Zaubertor, bettelte um eine kleine Hilfe und niemand in der wogenden Menge machte sich Gedanken. Sie sind überall, diese miserablen Kinder und das Leben ist anstrengend genug.

Immer weiter wagte er sich vor, schob sich mühsam über den löcherigen Asphalt der Gehsteige, voran bis zu dem düsteren Loch in dem hoch bebauten Hügel, in dem dröhnend Busse und Autos verschwanden, schob sich durch stickigen Nebel und etwas in seinem Kopf sagte ihm auf verworrene Art und Weise, dass er seinen Schindern entkommen war. Weiter schob er sich, bis ihn die Menge vor eine Padaria spülte, wo er ein Stück Brot erbettelte, ein Glas Wasser, von wo er sich weiterschob, unversehens vor die Hufe eines Polizeipferdes geriet. Es stieg, ein Schwall Flüche fiel auf ihn, um eine Handbreite nur verpasste ihn der Schlagstock und das dunkle Etwas, das an ihm vorbeigehuscht, bevor er unter den Schatten des Pferdes geraten war, löste sich auf im Gewühl der Menge.

Rasch schob er sich weg von dem stampfenden Tier, schob sich hastig durch den Wald aus Beinen der vielen Neugierigen und Passanten, nur weg vom gefährlichen Anblick der Uniformen, bemerkte nach und nach einen Jungen, der neben ihm ging, vor ihm, hinter ihm, ihn in eine bestimmte Richtung drängte, endlich hinter große Fässer hob.

Und sie nahmen ihn auf, den Stolperstein, den sie in den Weg ihrer Verfolger legen konnten, nannten ihn Pelé obwohl er doch Tiago hieß, er erinnerte sich genau! Pelé, und sie fanden es lustig, weil er keine Beine hatte. Denn wenn sie auch sonst nichts kannten, als die mit Hunger, Adrenalin, Leim- und Benzindämpfen angefüllten Stunden, die beruhigende Wärme der mageren, hinter den Fässern zusammengedrängten kleinen Körper, die sich in den paar Wintertagen vor dem Erfrieren bewahren, so kannten sie doch Pelé.

Wieder lernte er schnell, lernte auf Händen zu gehen, sich auch ohne die paar Bretter zu bewegen, lernte von Aranha wie man mit der Rasierklinge umgeht, wie man sie versteckt zwischen den Fingern, um sie einem unwilligen Opfer über die Hände zu ziehen, übers Gesicht, die Beine in seinem Fall; lernte die Transvestiten kennen, die hinter dem runden Turm von Gebäude, den er sich voller Essen vorstellte, die Straße machten. Mit offenem Mund hatte er auf seinem lotterigen Wägelchen gesessen, die Frauen angestarrt, die aussahen wie auf den riesengroßen Bildern, die manche Straße säumen, die so wenig an hatten und es glitzerte und funkelte; und als dann eine von ihnen, in vollstem Bariton die unflätigsten Schimpfworte ausstoßend, mit starken Männerfäusten auf einen frechen Freier losgegangen war, hatte er ein paar Tage gebraucht, um zu begreifen, dass diese Frauen auch Männer waren.

Sie vergötterten Aranha, er hielt ihnen Seinesgleichen vom Leib, ließen ihn an ihre aufgeblasenen Titten, amüsierten sich über das steife Teilchen, das in seiner Hose spross; und mit viel Lamentieren, Bedauern, Gehätschel und Getätschel sah Pelé sich aufgenommen im Kreis ihrer Gunst, sah sich aufgehoben in der Gunst seiner neuen Familie und manchmal, wenn die Kinder im Benzinrausch unter den Palmen der Praça lagen, konnte er unter all seinen Tränen auch lachen.

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