Der entzogene Auftrag

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Kaspar F. Thome

Der entzogene Auftrag

Eine Erzählung

Impressum

Der entzogene Auftrag

Kaspar F. Thome

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Kaspar F. Thome

ISBN 978-3-8442-3724-5

I

Wer war Slim eigentlich? Er hatte ihn zuerst auf einem verwackelten Foto gesehen: ein sich von der Kamera abwendender Mann, der reichlich Fett angesetzt hatte, Anfang vierzig vielleicht oder eher älter. Er trug ein blaues, verwaschenes T-Shirt, welches aus seiner Jeans-Hose heraushing. Dieser Mensch erschien ganz unauffällig, vollkommen in seine Umgebung, eine dieser halbdunklen, schmuddeligen thailändischen Bars, eingeschmolzen. Neben Slim saßen einige Barmädchen und winkten fröhlich in die Kamera, während Slim, obwohl sein Gesicht kaum zu sehen war, einen ärgerlichen Eindruck machte; das Aufblitzen der Kamera mußte ihn gestört haben. Seine erste Vermutung war es gewesen, daß Slim zur schlimmsten Sorte der ugly white men gehörte, daß er ein Säufer, Hurenbock, vielleicht sogar Rassist war. Aber später änderte er seine Meinung, wurde vorsichtiger mit seinen Urteilen, bis er es eines Tages aufgab, über Slim zu urteilen. Und außerdem war es überhaupt nicht seine Aufgabe, zu urteilen: Er sollte vielmehr Slims Spur aufnehmen, seine Freunde, Bekannten, Liebschaften, Kontakte ermitteln, um ihn schließlich zu finden.

Die Zentrale hatte ihm ein schmales Dossier über Slim geschickt, mit diesem verwackelten Foto, welches aus den späten 1980er Jahren stammen sollte. Er konnte es kaum glauben, daß die Zentrale keine anderen Fotos von Slim besaß! Die anderen Informationen über Slim waren auch nicht viel besser: ‚Slim’ war nicht einmal sein richtiger Name, der unbekannt zu sein schien; jedenfalls wurden die paar Dossiers, die Frank zu Gesicht bekam, unter diesem merkwürdigen Spitznamen ‚Slim’ geführt; Nationalität: unbekannt, wahrscheinlich deutsch; Wohnort: unbekannt, viel auf Reisen, nach Zeugenaussagen (welche Zeugen?) hauptsächlich in Asien, Korea, Thailand, Japan, China und den USA; Beruf: unbekannt – vermutet wurden irgendwelche Geschäfte am Rande der Legalität, man sprach von ‚Kunsthandel’, ‚Handel mit ostasiatischen Antiquitäten’. Der Grund, weshalb er, Frank, Slim suchen sollte, blieb ebenfalls ungenannt. Die einzig gehaltvolle Information war die, daß man (wer denn?) Slim zuletzt in Tokio gesehen habe, weshalb Frank schnellstens dorthin fliegen und Slims Aufenthaltsort ausfindig machen sollte. Jedoch wurde ihm ausdrücklich untersagt, Kontakt zu Slim herzustellen; er sollte vielmehr sogleich, wenn er ihn gefunden hatte, die Zentrale informieren, die alle weiteren Schritte in die Wege leiten würde – wie gewohnt.

Frank waren diese dubiosen Aufträge, bei denen er dauernd das Gefühl hatte, ein bloßer Handlanger zu sein, zutiefst zuwider; vor allem haßte er es, daß die Zentrale ihm wesentliche Informationen vorenthielt (und daß sie dies in diesem Fall erneut tat, war so gut wie sicher). So verhielt sich die Zentrale immer wieder – und Frank mußte sich im Laufe der Jahre an diesen Stil gewöhnen, den er anfangs als persönliche Beleidigung begriffen hatte, nun aber – in der Regel! – kalten Herzens ertrug. Er stellte auch diesmal keine weiteren Fragen, sondern suchte sich gleich einen der billigsten Economy-Flüge im Computer heraus, denn bei den Spesen war die Zentrale in der letzten Zeit viel geiziger geworden. Er flog von Deutschland aus über London nach Tokio. Da Frank schon lange allein lebte, brauchte er sich von niemandem zu verabschieden. Er hatte seine Lebensverhältnisse seinem Berufsleben, welches ihn oft und plötzlich für längere Zeit irgendwohin führte, vollkommen angepaßt – oder unterworfen, könnte man sagen, wenn man dies kritisch sehen wollte.

Es war ein noch kühler April-Tag als seine Reise begann. In der kleinen Maschine nach London saßen meistens Geschäftsleuten und nur ein paar wenige Touristen. In London Heathrow, wo er ankam, mußte Frank ungefähr drei Stunden auf seinen Anschlußflug nach Tokio warten, doch das machte ihm nichts aus, da er sich recht gern in diesem Flughafen aufhielt, um dem Treiben der Menschen dort zuzusehen. Um vom Ankunftsterminal seines Fluges aus Deutschland zum Abflugterminal seines Fluges nach Japan zu gelangen, mußte Frank zunächst auf endlos langen Laufbändern entlangmarschieren (da er genügend Zeit hatte, hätte er natürlich auch einfach auf ihnen stehenbleiben können, um sich so automatisch fortzubewegen, doch dazu brachte er die nötige Geduld nicht auf). Dieser Flughafen hatte labyrinthische Strukturen! Dann ein Nadelöhr: Eine lange Menschenschlange staute sich vor einer Sicherheitskontrolle. Geduldig – was blieb ihm auch anderes übrig? – wartete Frank hier, mit all den anderen Menschen, die an diesem Punkt, aus allen Himmelsrichtungen kommend, aufeinander trafen, um sich, nach dem Passieren dieser Kontrolle unverzüglich erneut zu zerstreuen. Frank schwindelte ein wenig angesichts dieses gigantischen Umschlags von Menschenleibern. Die meisten Reisenden warteten eher unwillig, wenngleich schicksalsergeben; manche scherzten, andere beobachten ihre Mitmenschen und einige waren ganz in sich gekehrt. Es gab sogar welche, die direkt körperlich unter dieser Warterei zu leiden schienen wie z.B. das junge Mädchen vor ihm, welches sich immer wieder, vielleicht von einem langen Flug erschöpft, niederhocken mußte.

Endlich kam die Kontrolle, die recht nachlässig und ruppig durchgeführt wurde – und dann öffnete sich vor ihm, sozusagen als Belohnung für das lange Warten, die Terminalhalle, vollgestopft mit Geschäften aller Art. War er eben ein lästiges, gleichsam überzähliges Kontrollobjekt gewesen (denn es gab doch offensichtlich angesichts der langen Warteschlagen anscheinend, gleich ihm, viel zu viele Flugreisende, die den überarbeiteten Kontrolleuren nur Arbeit und schlechte Laune bereiteten), so war er nun plötzlich in ein umworbenes, rares, majestätisches Subjekt, den König Kunde, verwandelt. Vielleicht gab es in der Tat Menschen, die sich nach ihrer Reduktion auf ein solches Objekt, durch dieses Umworben- und Umschmeicheltsein als potentieller Kunde gleichsam aufs neue aufpumpen lassen mußten. Aber dieses Wechselspiel konnte wohl allein dann richtig funktionieren, wenn man einmal ein schwaches Ego hatte, welches sich von diesen Kontrollprozeduren wirklich angegriffen fühlte, und zum anderen, wenn man über genügend Geldmittel verfügte, um sich durch Shopping egotechnisch neuerlich aufrichten lassen zu können (vielleicht gab es da ja irgendwelche Zusammenhänge von Ego-Schwäche und Reichtum?). Da Frank allerdings – leider! – weder reich war, noch – Gott sei Dank! – unter einer ausgesprochenen Ego-Schwäche litt, fühlte er sich von all diesen Geschäften, die es hier für Parfüm, Hemden, Pullover, Hosen, Röcke, Brillen, Elektronik, Lebensmittel, typisch ‚englischen’ Mitbringsel, Süßigkeiten und tausend andere Sachen sonst noch gab, zur Gänze nicht angesprochen. All die schönen Zauberworte wie ‚Special offer’, ‚Tax free’ und die heiligen Namen der Designer B-Brands – die Trias des Konsumismus von BALLY, BURBERRY und BOSS (ihre Geschäfte lagen, wie es der Zufall wollte, nebeneinander) – waren für ihn nicht mehr als ein stetiges und ein wenig auf die Nerven gehendes Rauschen. Einzig ein Eckgeschäft mit dem verheißungsvollen Namen World of Whiskies hatte es ihm angetan, obwohl er dort bisher nie etwas gekauft hatte und hoffentlich auch nie kaufen würde. Da er leider nur zu gerne dem Alkohol, meistens in Form von Wein, zusprach, ließ er lieber von dieser verlockenden ‚neuen Welt’ der Whiskys die Finger. Und so verschmähte Frank, heroisch lächelnd, die ihm geradezu perfide angebotenen Probierdrinks und verschaffte sich, unschuldig-nüchtern bleibend, allein durch das Betrachten der Vielfalt der erhältlichen Wiskysorten eine Art imaginären Rausch.

Gerne aber hätte er zumindest einen Kaffee getrunken, doch da er lediglich Euro und Yen und keine britischen Pfund in der Tasche hatte (daß man sich überhaupt nach wie vor eine eigene, kleine Währung halten konnte!), und auch seine Kreditkarte für so kleine Beträge nicht akzeptiert wurde, verzichtete er darauf. Er setzte sich irgendwo hin und sah den vorbeiströmenden Menschen in dieser jetplane world zu: den Flughafenangestellten, denen ihre Plastikausweiskärtchen fröhlich um den Hals baumelten, den chic gekleidet Geschäftsleuten mit ihrem einheitlichen, nationenübergreifenden ‚professionellen’ Gesichtsausdruck, den Jungen und Mädchen in ihren T-Shirts mit den – sicherlich immer um Originalität bemühten – lustig-schockierenden Aufdrucken und Slogans; viele telefonierten, einige fuhren in den Urlaub, andere kehrten zurück. Einige Paare hielten sich an den Händen fest, sich einander Halt gebend in dieser auseinanderfließenden Transitwelt; Arbeiter in gelben Jacken durchquerten zielstrebig das Gebäude. Sogar die typische (fast schon karikaturistisch-typische) japanische Reisegruppe fand sich ein, bestehend aus zumeist älteren, alleinstehenden Frauen und einigen Ehepaaren (deren männlicher Teil es also irgendwie geschafft hatte, sich am Leben zu erhalten, während die Mehrzahl seiner Altersgenossen bereits, ausgelaugt vom mörderischen Arbeitsleben, das Zeitliche gesegnet hatte); alleinstehende Männer gab es nicht, abgesehen von dem jungen Reiseleiter, der als einziger ‚korrekt’, das heißt mit Anzug und Krawatte, auftrat, während alle anderen im einheitlichen Freizeitlook gekleidet waren; etwas, was man vor einigen Jahren noch nicht hätte sehen können, als die Japaner, zumindest die japanischen Männer, selbst in ihrer kärglich bemessenen Urlaubszeit – und besonders im Ausland! – wie die Büroangestellten auftraten.

Frank gegenüber saß ein älterer Engländer, der ein wenig verbittert wirkte und in seine Zeitung vertieft war, während seine Ehefrau, die einen recht lebhaften Eindruck machte, ihre Kreise durch die Geschäfte zog, um sporadisch bei ihrem Gatten aufzutauchen, sei es um nachzusehen, ob ihn nicht schon (endlich?) ein Herzschlag dahin gerafft habe, sei es um von Zeit zu Zeit eine Anlaufstation zu haben. Der Terminal war mit Menschen dicht angefüllt; in einigen besonders beliebten Geschäften drängten sich die kauflustigen Reisenden regelrecht; zuweilen durchkreuzte ein phantastisches Gefährt dieses Gewimmel: Ein Sikh, mit Turban und prächtig-grauem Bart, eine durchaus imposante Gestalt, steuerte ein komisches Gefährt, eine Art Mini-Auto, um kranke und alte Passagiere herumzufahren. Langsam kroch auf der Anzeigetafel Franks Flug nach oben. Bald würde er in Japan sein, einer, nach diesem Gewusel hier, ungleich homogeneren Welt, wie er wußte, da er schon oft dort gewesen war. Nicht ohne einen kleinen Hauch von Traurigkeit verabschiedete Frank sich innerlich von dieser bunten europäischen Szenerie, um zu seinem Fluggate zu gehen, welches endlich auf der Anzeigetafel erschienen war und von dem aus wenig später sein Flugzeug startete.

 

Glücklicherweise fiel er gleich nach dem Abflug in einen leichten Schlummer (er hatte als erstes im Flugzeug hastig ein Bier getrunken), aus dem er erst hochschreckte als sich das Flugzeug über dem schneebedeckten Sibirien befand. Wie so oft kurz nach dem Erwachen fühlte er sich unwohl. Kroch gar ein Gefühl der Angst in ihm hoch? Doch nur für einen Augenblick, dann wurde er durch das stetige, unverständliche Gemurmel seiner Nachbarn – später, als sie die Einreisekarten für Japan ausfüllten, sah er an ihren Pässen, daß es Bulgaren waren, Sportfunktionäre – irgendwie beruhigt, so daß er eine Zeitlang weiterdämmerte; mit dem nahezu ungenießbaren Essen und verschiedenen schwachsinnigen Filmen vertrieb er sich die restliche Flugzeit.

Die Ankunft am Flughafen in Tokio war für ihn Routine: die große, kühle, hypermoderne Halle des Flugplatzes, die desinteressierten Japaner, ihre kühlen Begrüßungen untereinander (ein kleines Lächeln, eine knappe Verbeugung für ihre zurückkehrenden Partner, Freunde oder Verwandten, die sie vielleicht wochen-, monatelang nicht gesehen hatten), die Ausländer, die erstmalig in Japan ankamen und hilflos umherstolperten bis sie schließlich, mit süßlich verzückten Gesichtern, auf die ihnen so exotisch-wunderhübsch erscheinenden Japanerinnen an den Informationsschaltern einreden konnten. Auch er, ja auch er war hier einstmals so gestanden! Und dann gab es noch die Profireisenden, die ohne Umschweife ihren Weg fanden, und zu denen sich Frank seit einigen Jahren schon zählen durfte. Schnell entfernte er sich aus der Ankunftshalle, in der er nicht zum ersten Mal das Gefühl bekam, beobachtet zu werden (auch diesmal wieder hatte ihn ein stechender Blick direkt körperlich getroffen, der von irgendwo her aus der Menge ausgegangen war). So eilte Frank fast die Treppen zu den Zügen hinunter, kaufte sich eine Fahrkarte am Automaten und eine in Tokio erscheinende englischsprachige Zeitung am Kiosk, die er während der Zugfahrt las, fast ohne auch nur einmal aus dem Fenster auf den Stadtmoloch zu blicken, der sich ihm, je weiter der Zug rollte, gleich einer zweiten Haut dichter und dichter anschmiegte, bis er zuletzt davon vollkommen umschlossen war. Am Zielbahnhof angekommen, stieg er in die Yamanote-Kreisbahn um, fuhr ein paar Stationen weiter, stieg aus, ging ein paar wenige Schritte, seinen Koffer auf den Rollen nach sich ziehend, zu seinem Hotel, wo er problemlos sein vorbestelltes Zimmer bekam. Hier war er schon oft abgestiegen, man kannte ihn; es wurden keine Fragen gestellt.

Im Hotelzimmer – es war im Grunde nur ein schmaler Schlauch, ein Bett, ein Fernseher, der die Hälfte eines an die Wand gequetschten Schreibtisches okkupierte – duschte Frank sich zunächst ausgiebig in diesem rundum mit Plastik verkleideten Bad (das ganze Bad, also auch die Toilette und das Waschbecken, war eine umfassende Duschkabine), in dem er sich immer wie ein Astronaut vorkam. Dann legte er sich aufs Bett, benommen vom Flug und der Zeitumstellung. Er war noch heller Vormittag; draußen hatte die grelle Sonne am wolkenlosen Tokioter Himmel ihn geblendet, hier im Zimmer, hinter den getönten Scheiben, war es fast zu düster. Wie stets nach so einem langen Flug fühlte Frank sich plötzlich ganz hungrig – oft aß er als erstes in Tokio tempura soba – und beim Gedanken daran, steigerte sich sein Hunger so, daß er sich unverzüglich, nach wenigen Minuten der Ruhe, wieder zum Ausgehen fertigmachte.

Ziellos schlenderte Frank los. Er kannte diese Gegend von früheren Aufenthalten ein wenig, aber so schnell veränderte sich in dieser Stadt alles, daß er sich kaum mehr orientieren konnte. Es war ein strahlend-klares Wetter, ein hellblauer Himmel. Auf einer Kreuzung, nicht weit von seinem Hotel, röhrte ein schneeweißer Ferrari im Stau; ein Werbeplakat – wofür es warb, konnte Frank allerdings nicht entschlüsseln – trug den Slogan Motto Aura o – wie wäre das zu übersetzen? Einfach als: Mehr Aura oder: Let’s have more aura. Worum ging es da? Bestimmt war es nur der Wohlklang dieses Wortes, welches es werbefähig machte. Frank bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmassen, den Lärm, Gestank, die schreiende Reklame. Jeder Zentimeter wurde genutzt – ein total gefüllter Raum. Jetzt befand er sich in einer überdimensionierten Einkaufspassagen, die er durchquerte, um danach in ein Gewirr kleiner Gassen, überspannt von schreiender Leuchtreklame, einzubiegen. Schließlich fand er die ‚Vergnügungstraße’ mit dem schönen Namen romansu dori / ‚Romantische Straße’ wieder, in der sich die eher zweifelhaften Etablissements, wie Sex-Shops und Massage-Salons, reihten.

Frank kam angesichts dieses Straßennamens auf den Gedanken, daß dies eine durchaus ernsthafte japanische Vision oder Version der Romantik sein könnte – und dann wäre an diesem Ort die ‚romantische Illusion’ doch einer harten Bewährungsproben ausgesetzt. Und er mußte weiter unwillkürlich an seinen letzten Aufenthalt hier denken, bei dem er sich – es war auch direkt nach dem langen Flug gewesen –, enthemmt von einigen zu schnell getrunkenen Bieren und einer kleinen Flasche Sake, zu einem Besuch in einem dieser Massage-Salons hatte verleiten lassen – und dort eine eher unerquickliche Dreiviertelstunde mit einer übelgelaunten, übermüdeten, nach Zigarettenrauch stinkenden und gar noch etwas übergewichtigen chinesischen Masseuse verbringen mußte (in diesen billigen und den Ausländern zugänglichen Etablissements arbeiteten fast nur Chinesinnen), die ihn, nachdem sie ihn lustlos durchgeknetet hatte, dann letztendlich mit abgewandtem und gelangweiltem Gesicht, seinen Schwanz wichste. Das war der ‚Service’, den man dort erwarten konnte; und Frank hatte wirklich nicht vor, ein solches ‚romantisches’ Erlebnis zu wiederholen. Nun ja, bestimmt hatte man diesen Namen, romansu dori, vollkommen gedankenlos vergeben, irgendwelche vielleicht deutsche Vorbilder imitierend, um eine Art von Rummel zu bezeichnen. Und damit hatte man in gewisser Weise sogar recht! Doch Frank war durchaus bereit, verschiedene ‚Romantiken’ anzuerkennen; und er war keineswegs ein Kulturpessimist – er liebte vielmehr dieses Durcheinander, zumal das Undeutliche und Unverständige, denn er konnte beileibe nicht alle Anpreisungen, Reklamen und Hinweise lesen und verstehen; da war noch viel Raum für die Einbildung. Er hatte zwar in seinem Leben einige ‚ernsthafte’ Versuche unternommen, Japanisch zu lernen, war jedoch nie sonderlich weit damit gekommen. Vielleicht, so hatte er sich diese Serie von gescheiterten Versuchen einmal erklärt, gibt es da eine unzugängliche Kontrollinstanz in seinem Kopf, die das Lernen der Sprache verhindert, um die Geheimnisse ihrer Unverständlichkeit – dieses berühmte Rauschen der unbekannten Sprache – zu bewahren. Gleichwohl war das eine Erklärung bzw. Ausrede nur für besondere Gelegenheiten; meistens bekannte Frank sich ein, daß er ganz einfach nicht genügend Zeit und Energie fürs Lernen aufgebracht hatte, um nicht sagen zu müssen, daß er vielleicht ganz einfach fürs Sprachenlernen vollkommen unbegabt war. Aber da er schon seit vielen Jahren, ja schon mehr als ein Jahrzehnt Japanisch lernte, wenngleich mit großen Unterbrechungen und dann in jeweils neuen Anläufen, gleichsam immer erneut von vorne beginnend, hatte er durchaus, fast zu seinem eigenen Erstaunen, ein gewisses Sprachniveau erreicht, jedenfalls um im Alltag damit einigermaßen bestehen zu können.

In einer unterirdischen Bahnhofspassage konnte Frank dann endlich seine Nudeln, tempura soba, essen, die ihm auf Anhieb ausgesprochen gut schmeckten, obwohl das Lokal (eine Art Stehimbiss, in dem man sich vor dem Essen eine Wertmarke aus einem Automaten ziehen mußte) einen wenn nicht unbedingt schmutzigen, so zumindest zweifelhaft-abgenutzten Eindruck machte und die Bedienung von einer ‚für Japan’ geradezu unglaublichen Schroffheit war. Frank ließ sich dessen ungeachtet die Soba-Nudeln schmecken, sei es, weil er lange keine mehr gegessen hatte – und ihm wohl jede gut geschmeckt hätten – oder sei es, weil es an diesem eher zweifelhaften Ort vielleicht doch einigermaßen leckere Soba und Sojabrühe gab, die über die Soba-Nudeln und das tempura-Stück gegossen wurde. Für diese Brühe war vielleicht ein nicht zu geringes Quantum Dunkelheit, eine dunkle, schattenhafte Unreinlichkeit notwendig. So über Unreinheitsgebote sinnierend, aß Frank seine Nudeln, indem er sie geschickt mit den Stäbchen aufnahm, um sie dann zum Mund zu führen, wo er sie mit einem lauten Geräusch aufschlürfte, gerade so wie dies eben all die Japaner um ihn herum taten; nur ihm schien dieses Schlürfen eine, wenn auch etwas kindische, Freude zu bereiten. Doch er hielt sich dann nicht lange mit diesen Gedanken und dem Essen auf, sondern (und in dieser Hinsicht war er sofort seiner zumeist aus japanischen Angestellten bestehenden Umgebung angepaßt, die in Windeseile ihre Nudeln mit diesen zischend-schlürfenden Geräuschen vertilgten) stand bald, nach wenigen Minuten des Essens, wieder, nun sattgegessen, vor dem Stehimbiss, inmitten der hin und her wogenden Menschenmasse. Für einen Augenblick war er orientierungslos, wußte nicht, ob er links oder rechts gehen sollte, bis ihm endlich die Richtung zurück zum Hotel einfiel. Und dort hatte der Portier gleich eine Nachricht für ihn, die aus dieser kurzen Aufforderung, „Call back immediatly“, bestand; das war die Zentrale. Frank sollte dort die ihm bekannte Nummer anrufen.

Frank ging in sein Zimmer, suchte die Nummer aus seinen Unterlagen heraus und wählte. Und noch während des Wählens verdüsterte sich seine Stimmung, denn stets, wenn er mit der Zentrale zu tun hatte, bekam er das Gefühl, lediglich ein gerade eben geduldetes Anhängsel an einen großen, perfekten Organismus zu sein, der ohne ihn genauso vollkommen, ja vielleicht sogar noch ‚vollkommener’ wäre. Und exakt dieses Gefühl des Überflüssigseins schien ihm die Zentrale auch immer wieder aufs Neue geben zu wollen. Schon nach dem ersten Klingeln des Telefons wurde der Hörer abgehoben und Frank hörte unwillig eine Stimme sagen: „Warum so spät?“ „Entschuldigen Sie,“ erwiderte Frank – warum nur, warum nur war er fortwährend so höflich? –, „aber ich war nur eine Kleinigkeit essen und habe mir ein wenig die Füße vertreten, Sie wissen, der lange Flug ....“ „Hört sich nach Vergnügungsreise an“, knurrte die Stimme. „Herr von Stahl?“, fragte Frank vorsichtig. „Ja sicher, wer denn sonst?“, gab die Stimme zurück, doch etwas geschmeichelt, auf Anhieb erkannt worden zu sein (Frank hatte mit vier, fünf verschiedenen Personen in der Zentrale zu tun und wußte vorher nie, wer für den aktuellen Einsatz verantwortlich war). „Wir haben neue Nachrichten über ihren Fall“, sagte von Stahl weiter. „Sooo“, antwortete Frank gedehnt, mit einem kleinen, Überraschung signalisierenden Schlenker in der Stimme, denn schließlich hatte man ja ihn nach Tokio geschickt, um etwas Neues über Slim herauszufinden. „Ja“, führt von Stahl ungerührt weiter aus, „das Objekt befindet sich in Roppongi, in der Nähe von Roppongi Hills, Sie wissen ja, diesem neuen Hochhausviertel, allerdings ist das Objekt terminiert – verstehen Sie mich? – permanent terminiert!“

Die Zentrale bediente sich bei Telefongesprächen und Mails eines halbverschlüsselten, recht kindischen Codes, für den es keine feste Regeln gab, sondern der vielleicht nur gewisse oberflächliche Kenntnisse über die Hintergründe der Sachverhalte voraussetzte; und selbst wenn man nicht über dieses Wissen verfügte, wäre es, mit etwas Witz und Verstand, ein Kinderspiel, diesen sogenannten ‚Code’ ohne Umstände entschlüsseln zu können, aber die Zentrale bildete sich weiß Gott was darauf ein – solche Spielchen waren wohl notwendig, um dem öden Leben der Bürokraten ein wenig Pep und Kick zu verleihen. „So, so, permanent terminiert“, wiederholte Frank und dachte für sich: ‚Das heißt tot – oder was? Damit Aufgabe erledigt’, sagte jedoch: „Und das, äh, Objekt, befindet sich noch dort, in Roppongi?“ „Ja“, erwiderte von Stahl, „aber nicht mehr lange, er, ähm, es wird heute abtransportiert. Gehen sie also sofort dorthin, stellen sie alle Umstände fest; vor allem sprechen sie mit einer bestimmten Frau, ähm, Frau, ähm, Emmanuelle, ja Emmanuelle; wahrscheinlich eine Nutte, äh Prostituierte. Bei ihr soll, äh, das Objekt zuletzt gewesen sein; mehr wissen wir auch nicht. Und, äh, übrigens, das Objekt hat mittlerweile einen richtigen Namen, den können Sie selbst herausfinden, ich will das jetzt am Telefon ... sie verstehen schon! Machen sie sich gleich auf die Socken! Wir erwarten ihren Bericht, möglichst bald, alles wie gewohnt!“ Grußlos verschwand die Stimme, nachdem sie ihm noch die genaue Adresse in Roppongi übermittelt hatte. ‚Arschloch’, dachte Frank. Von Stahl hatte am Ende ganz so geklungen, als sei der Bericht, für den er erst gerade den Auftrag gegeben hatte, schon wochenlang überfällig. Das Lebenselixier der Zentrale – diese schwachsinnigen Berichte! ‚Alles Arschlöcher’, murmelte Frank halblaut in den stumm gewordenen Telefonhörer, aber machte sich dennoch ohne zu zögern gehorsam auf den Weg.

 

Frank ging von seinem Hotel zur nahgelegenen U-Bahnstation, fuhr dann nach Roppongi, dem Ausländerviertel. Er hätte natürlich auch ein Taxi nehmen können, doch dann wäre er nur, bei den immerwährenden Verkehrsstaus, länger unterwegs gewesen. Vom Bahnhof Roppongi aus war es ein etwa zehnminütiger Fußweg bis zum Mori Tower, den Frank erreichte als die Abendsonne auf dieses protzige Hochhaus fiel, welches das Zentrum von Roppongi Hills, einem Agglomerat von Luxusbüros, Luxusgeschäften, Luxusrestaurants und Luxusapartments, bildete – und ganz sicherlich mit dem Akzent auf Luxus. Damit war dieser ganze Gebäudekomplex letztlich wohl als Symbol für den Wiederaufstieg Tokios nach der langen Zeit der wirtschaftlichen Stagnation gedacht. Darum herum hatte man einige billigere Apartmentblocks gebaut, die gleichsam ‚parasitär’ am Glanz dieser Luxusinsel teilhatten – und zu einem dieser Blocks ging Frank nun. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn schon von weitem sah er einen schwarz-glänzenden Wagen, zweifellos einen Leichenwagen, vor einer Tür stehen; wenigstens hatte man keinen von diesen ‚japanischen’ Leichenwagen geschickt, die protzig mit Kupfer und künstlichem Gold versehen waren. Frank stellt sich neben den Wagen, ein wenig an den Hauseingang gelehnt und wartete. Jetzt hätte er gerne eine Zigarette geraucht. Sollte er denn erneut mit dem Rauchen anfangen? Tod und Rauchen, diese Verbindung war schnell hergestellt. Doch dann trug man schon Slim heraus, das heißt vier Männer trugen einen einfachen Holzsarg, fast mehr eine Kiste heraus, die, so nahm Frank an, nunmehr Slims Leichnam, die sterbliche Hülle, barg: ein eigentlich doch gar nicht so großer Kasten – das letzte persönlich Recht schützend, das auf die einsame Verwesung.

Leise, den Umständen angemessen, fragte Frank, mit seiner Hand auf die Sargkiste deutend, einen der Träger: „Slim san desuka“ / „Ist das Herr Slim?“ (natürlich hätte er lieber, höflicher und angemessener, auf Japanisch ungefähr so fragen sollen: ‚Befinden sich in diesem hölzernen Sarg etwa die sterblichen Überreste des bedauernswerten Herrn Slim?’, doch dazu reichten eben seine Sprachkenntnisse nicht aus), woraufhin er einen Schwall japanischer Worte als Antwort erhielt, denen er entnehmen konnte, daß die Männer keine Ahnung davon hatten, wen sie hier hinaustrugen, daß ihnen dieses im übrigen, so glaubte Frank sie jedenfalls zu verstehen, vollkommen egal sei, daß es sich aber um einen gaijin, einen Ausländer handele, das heißt einen gaikokujin, wie die Männer höflich in Anbetracht der Tatsache, daß Frank eben auch ein solcher war, der zumindest etwas Japanisch sprach, sagten. Frank zeigte nochmals auf den Sarg und fragte in seinem Schrumpf-Japanisch: „Zeigen sie mir bitte!“, woraufhin wieder ein Wortschwall als Antwort kam, dem er entnehmen konnte, daß man hier auf der Straße natürlich den Sarg nicht öffnen könne (das allerdings hatte sich Frank auch schon gedacht), daß er aber später ‚ins Geschäft’ kommen solle (man drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand), wo der Sarg geöffnet werden könne, so daß er sich dann in aller Form von seinem – ja, was war es denn, in welcher Beziehung stand er denn zum Verstorbenen? „Freund“, sagte Frank schnell – nun also, von seinem Freund verabschieden könne. Frank nickte, gab zu verstehen, daß er verstanden habe und bemerkte, daß er heute am Abend kommen wolle; ja, das sei in Ordnung, man habe bis spät geöffnet. Und dann fügte Frank hinzu: „Emmanuelle sama wa kochira de sunde imasuka?“ / „Wohnt Frau Emmanuelle hier?“ – und deutete statt auf die Holzkiste vage auf das Gebäude, was die Männer, trotz des professionell-traurigen Eindrucks, den zu machen sie verpflichtet waren, fast prustend loslachen ließ. Einer der Männer, gar nicht einmal der, den Frank angesprochen hatte, antwortete, indem er gedehnt ‚E ma nu e le sama’ / ‚Frau Emmanuelle’ sagte, daß sie im dritten Stock wohne und daß sie sich bestimmt freuen werde, wenn Frank sie besuchen komme, woraufhin er sich, als habe er einen unglaublich guten Witz gemacht, bestätigungheischend an seine ihn sofort bereitwillig zugrinsenden Kollegen wandte, die nun, nachdem das Thema von dem Toten in der Kiste zu einer lebendigen und sicherlich zudem attraktiven Frau gewechselt war, einen recht lebhaften, ja geradezu lustigen Eindruck machten. Einer der Leichenträger stützte sich jetzt sogar mit seinem Arm auf Slims Sarg auf, zündete sich eine Zigarette an und machte ganz den Eindruck als wolle er eine nette Plauderei mit diesem merkwürdigen Ausländer anfangen, der zwar ein ziemlich miserables, doch immerhin in groben Zügen verständliches Japanisch sprach. Doch Frank verabschiedete sich höflich bei dieser lustigen Leichenträgerbande und ging in das genannte Stockwerk, klopfte dort an der halb offenstehenden Tür; eine Frauenstimme antwortete ihm: „Hai doozo“ / „Ja, bitte“, die, obwohl nur diese zwei Wörter sprechend, einen klar erkennbaren französischen Akzent hatte. Frank trat in das spärlich möblierte Apartment ein.

Emmanuelle, die ‚Frenchgeisha’, wie sie sich nannte, um damit zugleich ein westliches wie östliches Publikum anzusprechen, hieß in Wirklichkeit Yvonne Pahud, war etwa dreißig Jahre alt und stammte aus Lyon, wie sie Frank später bereitwillig erzählte. Sie war überhaupt sehr gesprächsbereit, war vielleicht einmal froh, ihre professionelle Rolle einer (zunächst) distinguierten Unterhaltungsdame, die sich dann in eine ‚exotisch-erotische’ Französin (für ihre östliche Klientel) bzw. in eine halbwegs ‚exotisch-erotische’ Geisha (für ihre westliche Klientel) verwandeln mußte, verlassen zu können. Sie kam, wie sie Frank im nüchternen Ton sagte, jährlich für einige Monate ‚zum Arbeiten’ nach Tokio. ‚Und in der restlichen Zeit des Jahres kannst du es es dir mit dem in dieser Zeit verdienten Geld in Frankreich gut gehen lassen’, dachte Frank, allerdings ganz ohne Neid und ganz ohne Bewunderung für diese Art der Lebensorganisation.